Im Land des Herrn | 74. Jahrgang | 2020 - 1
IM LAND DES HERRN 36 1/2020 Einen solch radikalen Vorschlag zu machen, hätte es sich aber Franziskus eigentlich nicht erlauben dürfen. Die Feuerprobe bzw. das Ordal war von der Kirche zu dieser Zeit verboten und mit der Strafe der Exkommunikation belegt. Bei Bonaventura heißt es von Franziskus: „Superno illustratus oraculo“ ( Legenda Maior IX, 8), d. h. Franziskus sprach „durch eine Weisung Got- tes erleuchtet“. Der heilige Bonaventura wusste bestimmt nicht, dass es eine ähnliche Erzählung unter anderen Umständen und mit anderen Pro- tagonisten aus den ersten Jahren des Islam gege- ben hat. Das Ordal Mohammeds Es war das Jahr 630. Die Eroberungskämpfe und die Ausbreitung des Islam hatten zu dieser Zeit noch nicht begonnen. Mohammed musste zuerst seine Herrschaft über die arabischen Stämme konsolidieren. Dazu sandte er Abgesandte mit Briefen in die ganze Region. Sie kamen auch in die Stadt Naŷrān im Jemen. In dieser Stadt gab es eine große florierende christliche Gemein- de. Die Gemeinde sandte eine Delegation nach Medina, um sich mit Mohammed zu treffen. Diese Delegation bestand aus siebzig Männern. Vierzehn von ihnen hatten wichtige Ämter inne: ‘Abdu-l-Masī ˙ h , (‘Āqib oder Gouverneur), al-Ayh- man , (Sayyīd oder Justizverwalter) und selbst- verständlich war der Bischof Abū ˙ Hārita ibn ‘Alqama mit dabei. Als sie in Medina angekom- men waren, um sich mit Mohammed zu treffen, war der Prophet beim Gebet in der Moschee der Stadt. Nach den Chroniken, die über dieses Ereignis berichten, kamen die Abgesandten von Naŷrān in die Moschee; sie waren sehr luxu- riös gekleidet und mit goldenen Prachtstücken geschmückt. Die Gefährten Mohammeds waren außer sich vor Staunen. Nur Abū ˙ Hārita ibn ‘Alqama, ‘Abdu-l-Masī ˙ h und al-Ayham sprachen mit Mohammed. Den Bericht über diese Begeg- nung findet man auch bei anderen Autoren: Die Abgesandten kamen prunkvoll angekleidet in die Moschee hinein, wo Mohammed betete; der Prophet soll sich geweigert haben, sie zu emp- fangen, solange sie auf ihre Prunkkleidungen nicht verzichten und nur als demütige, gottes- fürchtige Menschen erscheinen würden. Danach predigte der Prophet Mohammed vor ihnen und lud sie ein, sich zum Islam zu bekehren. Die Christen fragten ihn: „Für wen hältst du Jesus?“ Der Prophet antwortete: „Ihr dürft heute in der Stadt bleiben und später, wenn ihr euch ausge- ruht habt, werde ich meine Antwort auf alle eure Frage geben.“ Am Tag darauf rezitierte der Prophet folgende Verse aus dem Koran: „Wahrlich, Jesus ist vor Allah gleich Adam; Er erschuf ihn aus Erde, alsdann sprach Er zu ihm: ‚Sei!‘ und da war er. (Dies) ist die Wahrheit von deinem Herrn! Darum sei keiner der Zweifler“. (Koran 3: 59–60). Wegen der Unstimmigkeit schlug Mohammed vor, ein al-mubāhala auszurufen. al-mubāhala bedeutet wörtlich „Fluch“. Nach der islamischen Tradition handelt sich dabei um die Form einer Lösung von religiösen Konflikten. Wenn bei einer Auseinandersetzung über Religion bzw. Glauben keine Übereinstimmung erreicht wer- den kann, sollen beide Seiten zusammen zu Gott beten. Gott möge seinen Fluch über den herab werfen, der falsch argumentiert hatte. Das ent- spricht einem Ordal. „Und wenn sich jemand mit dir über sie strei- tet, nachdem das Wissen zu dir kam, so sprich: ,Kommt her, lasset uns rufen unsre Söhne und eure Söhne, unsre Frauen und eure Frauen und unsre Seelen und eure Seelen. Alsdann wollen wir zu Allah flehen und mit Allahs Fluch die Lüg- ner bestrafen‘“ (Koran, 3: 61) Am Tag zuvor hatten der Prophet und die Dele- gation vereinbart, das Ordal an einem Ort in der Wüste außerhalb der Stadt durchzuführen. Mohammed wählte vier Personen aus: seine Tochter Fatima, seinen Schwiegersohn ‘Alī mit ihren beiden Kindern ˙ Hasan und ˙ Husaīn . Außer diesen sollte kein anderer sie begleiten, da es keinen anderen Menschen gäbe, der so rein und tiefgläubig sei wie diese vier. Mohammed ging
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