Im Land des Herrn | 74. Jahrgang | 2020 - 4

4/2020 5 flächlich, wenn an diesen Festtagen nur der Blick auf die lieben Engelein, die neugierigen Hirten, die anbetenden Magier, auf Ochs und Esel, auf Josef und Maria, auf das kleine Kind im Stall von Betlehem gerichtet wird und dabei aus dem Blick gerät, dass der an Weihnachten in der Krippe geborene als Mann am Kreuz sein Leben vollendete, dass Josef und Maria ein obdachloses Ehepaar war, Ochs und Esel in einer zugigen Grotte hausten, dass die Magier einen weiten Weg hinter sich hatten, dass die Hirten zu den Letzten der Gesellschaft gehör­ ten, die Engel den liebevollen Himmel verlas­ sen mussten. Das Geheimnis der Weihnacht wird nicht in seiner letzten Tiefe erfasst, wenn außer Acht gelassen wird, dass mit der Geburt Jesu Gottes Weg in die Tiefen menschlichen Lebens begann, in die Tiefen auch des Leidens und des Todes. Ja, Weihnachten – das ist das Fest der bedin­ gungslosen Parteinahme Gottes für uns Men­ schen. Solche bedingungslose Parteinahme kann kein stolzer Husarenritt über die Höhen menschlichen Glanzes und menschlicher Macht sein. Bedingungslose Parteinahme für den Men­ schen macht auch Gott verletzlich, mutet auch ihm Wege durch das Elend zu, auch Wege des Leids zu Menschen in Not. Weil Gott in Jesus Christus bedingungslos Par­ tei ergreift für die Menschen, darum gehört das Dunkle zur heiteren Feier der Weihnacht, gehört zur Krippe von Betlehem auch das Kreuz von Golgatha. Darum gehören zum hellen Glanz des Weih­ nachtsfestes auch die dunklen Schatten der Nacht. Darum gehört zu der Weihnachtsfeier auch das Gedenken an jene, die in Betlehem und im Vorderen Orient des Jahres 2020 ohne Hoff­ nung leben, die arbeitslos sind, eine nur sehr eingeschränkte medizinische Versorgung haben, die einfachen Dinge unseres alltäglichen Lebens nicht besorgen können. Darum gehört zum Weihnachtsfest auch das Gebet und der Einsatz für die Menschen auf den Schattenseiten des Lebens. Nochmals: Weil Gott in Jesus Christus bedin­ gungslos Partei ergreift für uns Menschen, darum gehört das Dunkle zur heiteren Feier der Weihnacht, gehört zur Krippe von Betlehem auch das Kreuz von Golgatha. Das hat Johann Sebastian Bach auf geniale Wei­ se in der Musik seines Weihnachtsoratoriums ausgedrückt. Zu festlichen Trompetenklängen schließt er sein Werk mit einem jubelnden Chorgesang, mit dem weihnachtliche Freude förmlich hinausgeschrien wird in alle Welt. Aber die Melodie dieses mächtigen Jubelgesangs ist die eines Passionsliedes. Auf die Melodie des Chorals „O Haupt voll Blut und Wunden“ wird weihnachtlich gejubelt. Ja, genau so ist es: Echte weihnachtliche Freude vergisst nie ihre Verletz­ lichkeit. Sie vergisst nie, dass weihnachtlicher Jubel immer ein am Kreuz Gebrochener ist, wenn Freude nicht zu oberflächlicher Fröhlich­ keit verkommen soll. So weiß es auch jene eindrucksvolle russische Legende vom vierten König, die wie keine andere den Zusammenhang von Krippe und Kreuz erzählerisch entfaltet: Mit den drei anderen Königen war ein vierter aufgebrochen, um das Kind in der Krippe anzubeten. Aber immer wieder wurde er auf seiner Reise aufgehalten. Immer wieder ließ er sich von der Not jener Menschen anrühren, denen er auf seinem Weg zum Kind begegnete. Immer wieder half er Men­ schen in tiefstem Leid, nie verlor er das Ziel sei­ ner Reise aus dem Sinn. Nach mehr als 30 Jah­ ren kam er ins Heilige Land. Zur Christgeburt in Betlehem kam er zu spät, das Kind in der Krippe fand er nicht. Rechtzeitig kam er zur Kreuzi­ gung auf dem Hügel von Golgatha. Dort fand er den Mann am Kreuz. Damit war all seine Sehn­ sucht gestillt, tiefe Freude erfüllt ihn. Wir wissen noch nicht, wie wir Weihnachten in diesem Jahr feiern werden. Es wird anders werden. Doch, wenn wir uns auf seine ganze Botschaft einlassen, werden wir, auch wenn es anders sein wird, mit den Engel jubilieren, mit den Hirten unsere Neugierde stillen, mit den Königen anbeten und sich freuen. Weihnachtsfest Weihnachtsfest

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