Im Land des Herrn | 75. Jahrgang | 2021 - 1
IM LAND DES HERRN 28 1/2021 Basilika, die nicht richtig schauen können, sehen zuerst die Menge, das Durcheinander und alle Spaltungen der Christenheit“, erklärt er. „Aber dieser Ort ist einzigartig, er umfasst die gesam- te Welt. Schauen wir zunächst auf die Mosaike der nördlichen und südlichen Mauern. Sie sind in ihrer Inspiration byzantinisch und stellen die neun den Katholiken und den Orthodoxen gemeinsamen Konzile dar wie auch die örtlichen Konzile. Das ist deshalb interessant, da das Schis- ma 1054 stattgefunden hat, d. h. ein Jahrhundert vor der Renovierung der Basilika. Ihre Dekora- tion wurde unter der Autorität der Kreuzfah- rer durchgeführt, die das wohl wissen mussten. Man kann also feststellen, dass die Katholiken im Heiligen Land kulturell hinreichend angepasst waren, um ihre Kunst nicht aufzuzwingen und offen genug, um sich auf das zu konzentrieren, was den Christen gemeinsam war. Sehen sie hier die Säulen, die Kreuzfahrer wollten hier die örtlichen Heiligen abbilden, die vor allem von den Orthodoxen verehrt wurden, wie etwa den heiligen Saba oder den heiligen Makarius. Das ist deshalb besonders interessant, weil es darauf hin- weist, dass die Kreuzfahrer verstanden haben, dass die Heiligkeit nicht nur römisch-katholisch ist. Wenn es sich um das Dogma der Heiligkeit han- delt, ist man nicht nationalistisch, sondern man baut und malt aufgrund universeller Kriterien.“ Und Bruder Stephan fährt fort: „Diese Kirche ruft nicht nur ihre ökumenische Gesinnung im oberen Teil der Mosaike laut heraus, die zu einer gemeinsamen Heiligkeit erheben, sondern das Gebäude selbst lebt diese Gesinnung. Wenn wir unsere Blicke diesen Mosaiken und diesen Säu- len zuwenden, verstehen wir, dass die Christen sehr wohl ein gemeinsames Credo haben und dass in der Geburtsbasilika die gesamte Kirche Christi dargestellt ist.“ Nach Michael Bacci (geboren 1970), ordentlicher Professor für mittelalterliche Kunst an der Uni- versität Fribourg, liefern die Reinigung und die Restaurierung der Säulen und der Mauern Teil- antworten auf die Fragen der Forscher. „Eine der Fragen ist, warum die Kreuzfahrer beschlossen, zwei verschiedene Techniken zur Dekoration der Kirche anzuwenden, nämlich Wandmalerei und Mosaik. Besteht zwischen den beiden Darstel- lungsarten eine kohärente Beziehung? Bis jetzt ist man der Meinung, dass die Säulen zu beiden Seiten privat gestiftete Ex-Voto-Bilder sind, ehe sich die Kreuzfahrer 1160 für die Mosaike ent- schieden. Die Säulen des Hauptschiffes scheinen einen zusammenhängenden Zyklus zu bilden.“ Aber die Studien sind noch lange nicht abge- schlossen. „Die Namen der Heiligen auf den Säu- len waren bereits bekannt, aber die Reinigung hat eine genauere Lektüre der Inschriften (links und rechts vom Antlitz der Heiligen) ermöglicht. So konnten zum Beispiel nur Teile der Inschrif- ten bei den Abbildungen Mariens in der inneren südlichen Säulenreihe entziffert werden. Hin- gegen verstehen wir jetzt, dass sie einen Dialog wie auf einer Art Comicstrip bilden; die am unte- ren Rand abgebildeten Spender wenden sich mit ihren Bitten an die Jungfrau Maria, während die- se zu Christus fleht, er möge sich der Gläubigen erbarmen. Das Jesuskind unterstreicht die Rolle seiner Mutter als Gnadenvermittlerin im Namen der sündigen Menschheit.“ Für Professor Bacci „sind die interessantesten Ergebnisse der Reinigung die alten Graffiti, die nunmehr besser lesbar geworden sind: bei man- chen finden sich prachtvoll gezeichnete Wap- pen aus dem XV. Jahrhundert. Andere stehen in allen nur denkbaren Sprachen: Griechisch, Lateinisch, Armenisch, Syrisch, Arabisch, Geor- gisch, Altfranzösisch, Deutsch, Ungarisch, Italie- nisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch… Eini- ge sind in den Stein eingraviert, andere einfach nur gezeichnet. Die ältesten befinden sich z. B. im nordöstlichen Joch. Sie stammen aus dem XII. Jahrhundert und berichten von zwei Brü- dern aus Tripoli im Libanon. Insgesamt stellen diese Graffiti ein unschätzbares grafisches Erbe der Vergangenheit dar. Die Herausforderung besteht nun in einer daraus erwachsenden sys- tematischen epigrafischen Analyse. Eine Anzahl internationaler Forscher will sich nun dieser Herausforderung stellen.“
RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=