Im Land des Herrn | 75. Jahrgang | 2021 - 1

1/2021 35 beten vor dem großen Gott, der allda in einem kleinen silbernen Kästlein verschlossen ist, son- dern bei Tag und Nacht wird dieser Allerheiligs- te Ort von allen Gegenwärtigen besucht, welcher neben den vielen Ampeln auch von vielen weißen Lichtern erleuchtet wird, bis auf den Karfreitag in der Frühe, weil dann das Allerheiligste Sakrament auf den Kalvarienberg getragen wird. Denn an die- sem Tag wird allda der Passion (Leidensgeschich- te Jesu nach Johannes) gesungen nach der Kirche Gebrauch. Alle Gottesdienste werden gehalten auf dem Altar neben dem Stein, an welchem Ort Christus Unser Heiland an das Kreuz ist genagelt worden. Die übrige Zeit bis zu der Urständ (Auf- erstehung) wird Christus in dem Allerheiligsten Sakrament des Altars in aller Stille, doch in gro- ßer Verehrung, in der Sakristei aufbehalten. Die Mittagmahlzeit wird nach allgemeinem Ordensgebrauch an dem Karfreitag mit Wasser und wenig Brot auf der Erde gehalten auf dem oberen Gang der großen Kirche, bei welchem alle, die in dem Heiligen Grab sind, erscheinen, auch von Reverendissimo Patre Guardiano und ande- ren Majoribus die Tischlektion (Tischlesung) von dem Leiden Christi gelesen wird, nach welcher ein jeder bis zur Eröffnung der Pforte nach Belie- ben die Zeit anwendet in Gebet, Betrachtung oder Besuchung der Heiligen Orte. Denn unter sol- chem ist die beste und gelegenste Zeit. Denn nach Aufsperrung der großen Pforte kann man wegen der Menge des Volks nit nach jeder Andacht die Heiligen Orte besuchen. Besonders schwerlich kann man in das Allerheiligste Grab hineinkommen. Denn obwohl gegen den Abend von den Türken die große Pforte eröffnet wird, geschieht es doch nit wie zu andern Zeiten, dass man solche ganz aufmachet und hinein kann, wer will. Denn wegen Gedräng und Zulauf des Volks wird außerhalb der Pforte mit Stangen eine Zurückhaltung gemacht und nur die hal- be Pforte aufgemacht, wiewohl wir Franziskaner ein- und ausgelassen werden ohne Verhindernis und uns die türkischeWacht selbst Platz machet, was doch den Pilgern, welchen Glaubens sie immer sind, nicht geschieht. Es ist aber wohl zu glauben, dass solches wegen des Gelds und Tri- buts geschehe, den die Fremden müssen geben.“ 4. Die Karfreitagsprozession Die Karfreitagsprozession, die dramatische Dar- stellung der Kreuzaufrichtung auf dem Berg Gol- gotha, die Kreuzabnahme und die Grablegung müssen für alle Anwesenden ein eindrucksvolles Schauspiel gewesen sein. Zwei Priester verkör- perten Joseph von Arimathäa und Nikodemus, die den toten Jesus vom Kreuz abnahmen. Für diesen Akt verwendete man einen Gekreuzigten mit beweglichen Armgelenken an den Schultern, sodass man die ausgespannten Arme herunter- klappen konnte, um den Leichnam Jesu ins Hei- lige Grab zu legen und wieder herauszunehmen. Diese kleinen liturgischen Spiele der Grablegung und Auferstehung („Depositio Crucis“ und „Ele- vatio Crucis“) wurde seit dem Mittelalter in den Bischofs- und Klosterkirchen während der litur- gischen Feier aufgeführt. Christusfiguren mit beweglichen Armen wurden seit der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins 18. Jahrhundert am Kar- freitag und Karsamstag verwendet. Bei Bruder Joseph Schwaiberger lesen wir über die Zeremo- nien am Karfreitag (4. Teil, 8. Kapitel, S. 428–432). „Es wird aber an dem Karfreitag von allen Fran- ziskanern und katholischen Christen um sieben Uhr gegen der Nacht eine Prozession auf folgende Weise gehalten: Den Anfang nimmt es in der Chor- kirche und zwar meiner Zeit so: Wenn alle Franzis- kaner in dieser Kirche beisammen sind und das andere Volk haufenweis heraußen steht, werden alle Ampeln und Lichter in dieser Chorkirche aus- gelöschet und wird die erste Predigt in welscher (italienischer) Sprache angefangen. Nach dem Anfang und Eingang der Predigt wird von einem Priester ein großes Kruzifix in Begleitung zweier Leuchterträger dahin gebracht, welches von dem Prediger mit so mitleidigem Affekt wird angere- det und die Predigt fortgesetzt, dass man schon das laute Seufzen von den Umstehenden höret und die Zähren mancher auf den Wangen liegen. Alsdann, nach vollendeter Predigt, nimmt die Osterfest Osterfest

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=