Im Land des Herrn | 75. Jahrgang | 2021 - 2

IM LAND DES HERRN 10 3/2021 den, werben westliche Diplomaten und Kauf- leute Dragomane an. 1516 treten vier Maroniten als Dragomane in den Dienst der Franziskaner. Bis zum 18. Jahrhundert lassen sich Generatio- nen von Dragomanen, die für die Minderbrüder gearbeitet haben, nachverfolgen. In erster Linie finden sich unter ihnen katholi- sche Levantiner, Nachfahren von Kaufleuten aus Genua, Venedig oder Zypern, die sich seit Gene- rationen in Palästina niedergelassen haben, aber bei den Osmanen als Europäer gelten. Sephar- den, die nach der Eroberung Granadas 1492 aus der Stadt verwiesen wurden, werden sofort von westlichen Botschaftern angeheuert. Zualler- letzt können bei Bedarf auch Einheimische, meist Christen, einspringen, aber aufgrund ihrer potenziellen Illoyalität den Ausländern gegen- über sowie ihrer oft ungenauen Beherrschung der europäischen Sprachen gelten sie nicht als zuverlässige Partner. Die Professionalisierung des Berufs Um diesen Mangel zu beseitigen, schickt Vene- dig schon 1551 giovani di lingua nach Konstan- tinopel, damit sie dort die vielen Sprachen des Osmanischen Reichs lernen. 1669 erhält Colbert als Generalkontrolleur der königlichen Finan- zen zwei Berichte, zuerst des Konsuls von Alep- po, dann des Botschafters in Konstantinopel, die den französischen Handel im Osmanischen Reich als schwierig bezeichnen. Sie erklären den Geschäftsrückgang mit der schlechten Qualifi- kation der Dragomane und deren zweifelhaften Praktiken. Der einflussreichste Minister Ludwig des XIV. beschließt am 18. November 1669 die Gründung der École des Jeunes de langue . Inner- halb von anderthalb Jahrhunderten lernen etwa 70 junge Franzosen Türkisch, Arabisch und Per- sisch bei den Kapuzinern in Konstantinopel. Als Übung übersetzen die Studenten orientalische Werke, die dann Zugang in die königliche Bib- liothek finden. In den Botschaften des Orients arbeiten sie später als Übersetzer und Emissäre: Sie spielen eine wichtige diplomatische Rolle, da sie den Standpunkt der französischen Dip- lomaten kommentieren und deren osmanische Gesprächspartner überzeugen sollen. Im Dienste der Pilger Im 19. Jahrhundert erlebt die Pilgerfahrt im Heiligen Land eine neue Blütezeit. Nachdem die Europäer sich für die altägyptische Hochkultur interessierten, entdecken sie die Heiligen Stätten Palästinas wieder. Während zu Beginn einzelne romantische Pilger kommen, strömen bald euro- päische, aber auch kanadische Pilgerscharen ins Heilige Land. Ihre Berichte sowie die Pilgerfüh- rer erwähnen öfter die Rolle der Dragomane. In den Briefen, die er am Ende des 19. Jahrhunderts während einer Wallfahrt verfasst, schreibt der Abt Henri-Raymond Casgrain aus Québec über seinen Dragoman, dass er „eine Mischung aus Sancho Panza und Gil Blas“ sei, zwei treuen aber betrügerischen und derben Dienern aus Schel- menromanen des 18. Jahrhunderts. Dieser wenig schmeichelhaften Beschreibung fügt er hinzu: „Seine Einsätze, die Abenteuer, deren Held oder Zeuge er war, könnten das Thema einer neuen Odyssee sein.“ Diese fantasievolle Beschreibung zeigt die Bedeutung auf, die der Pilger dem Dra- goman beimisst. Einen genaueren Überblick über die konkrete Rolle des Dragomans liefern die ersten Reisefüh- rer, die speziell für Pilger geschrieben werden. Je nachdem wie der Vertrag lautet, der am Hafen nach der Ausschiffung abgeschlossen wird, kann der Dolmetscher für die gesamte Organisation der Reise verantwortlich sein. Werden die Pilger von Dieben oder Banditen bedroht, kann der Dragoman als Leibwächter eingreifen. Ein Brief des Grafen von Piellat an den Assumptionisten- pater François Picard über die Organisation einer Pilgerfahrt 1883 erwähnt die Tatsache, dass drei Dragomane Pilger in ihrem Haus aufneh- men. Solche Dienstleistungen sind selbstver- ständlich wohlhabenden Pilgern oder Gruppen vorenthalten. Kurz danach, mit der Auflösung des Osmanischen Reichs 1918, verblasst die Figur

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