Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 1

IM LAND DES HERRN 20 1/2022 rekonstruieren. Nun steht fest, dass die Orgel aus Betlehem aus 360 Pfeifen bestand. Das Manual hatte einen Tonumfang von zweieinhalb Okta- ven (von C bis f³) mit 18 Pfeifen pro Ton. Wir wussten schon lange, dass die Orgeln der mittel- alterlichen Kirchen mehrere Pfeifen besaßen, um die Lautstärke zu erhöhen. Die mittelalter- lichen Schriften erwähnen aber kaum genaue Zahlen. Die 18 Pfeifen pro Ton gehen weit über das hinaus, was die heutigen Experten über die Orgeln aus dieser Zeit wissen. Als wir entdeck- ten, dass die Pfeifengruppen, die jedem einzel- nen Ton zugeordnet waren, nur aus Einklängen oder Oktaven bestanden, waren wir sehr über- rascht. Es handelt sich offenbar um ein relativ archaisches Charakteristikum, da nach mehre- ren schriftlichen Quellen aus dem 12. Jahrhun- dert die zeitgenössischen Orgeln über zusätz- liche Reihen für die Doppeloktaven verfügten. Die Bauart der Orgelpfeifen der Geburtskirche entspricht in etwa den Beschreibungen in den Abhandlungen über den Orgelbau am Ende des Frühmittelalters. Außerdem sind die in die Pfei- fen eingravierten Noten in einer vorgotischen Schrift. All das scheint darauf hinzuweisen, dass die Kreuzfahrer eine schon bestehende Orgel bis zum Heiligen Land transportierten, eventuell sogar ein „altes“ Instrument, das für den Typus der Orgeln in den Kirchen von Frankreich, Eng- land und Zentraleuropa zwischen dem ausge- henden 10. Jahrhundert und dem Beginn des 12. Jahrhunderts repräsentativ war. Unsere Vorstudie hat ebenfalls gezeigt, dass die Maße der Betlehemer Orgel dem mathemati- schen Modell entsprachen, das in einem theo- retischen Traktat von Wilhelm von Hirsau (nach Gerbert von Aurillac) aus dem 11. Jahrhundert beschrieben wird. Interessanterweise war die- ses Traktat für die Orgelbauer bestimmt, die ein Instrument nach den mathematischen, der gött- lichen Schöpfung zugrundeliegenden Proportio- nen bauen wollten. In der Heiligen Schrift heißt es, dass Gott einen harmoni- schen, „nach Maß, Zahl und Gewicht“ geordneten Kos- mos (Weish 11,20) erschaf- fen hat. Infolgedessen ver- suchten die Theoret iker des Mittelalters herauszu- finden, wie die Größe und Höhe der Orgelpfeifen mit den Universalproportio- nen zusammenhingen. Die Orgel der Geburtskirche ist ein Beweis dafür, dass die damaligen Wissenschaft- ler und Handwerker Theo- rie und Praxis schließlich zu vereinbaren wussten. Die Orgel war nicht mehr nur eine exotische Musik- maschine, sie spiegelte die Harmonie des kosmologi- schen Mechanismus, der machina mundi, wider. Schematische Darstellung eines mittelalterlichen Blockwerkes

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