Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 1
IM LAND DES HERRN 34 1/2022 Jahreseinkommen leben muss) erhebt sich eine Mittelschicht, die etwas besser gestellt ist. Zu ihr sind die Kleinhändler zu rechnen, die ihre Waren in einem der Bazare zum Verkauf anbieten; fer- ner die Fischer, aus denen Jesus seine ersten Jünger beruft; dann die Handwerker, die über eine eigene Werkstatt verfügen; und schließlich die große Masse der Kleinbauern. Da diese den „Kern des Volkes“ bilden, sei auf sie etwas näher eingegangen. Die Familie eines Kleinbauern besteht meist aus sechs bis neun Personen, die im Durchschnitt ein Stück Land von acht bis zehn Hektar bewirtschaften. Den größten Teil des Ertrages benötigt man für den eigenen Bedarf. Die Überschüsse bringt man in die Stadt zum Tausch oder Verkauf. Die Ein- künfte des Kleinbauern übersteigen in der Regel das Existenzminimum von 200 Dena- ren pro Jahr nur wenig. Wenn das Jahr eine gute Ernte bringt, haben die Kleinbauern ihr Auskommen. Wenn jedoch eine Missernte zu verkraften ist oder wenn das Land von Seu- chen, Krankheiten, Kriegen und Plünderungen heimgesucht wird, geht den Kleinbauern sehr schnell die Luft aus: sie müssen ihren Besitz veräußern. Sie werden zu Pächtern des ehemals eigenen Bodens. Damit steigen sie ab in die Unterschicht der Tagelöhner. Und nur selten gelingt einem Absteiger die Rückkehr in die alte Mittelschicht. Die reiche Oberschicht Es legt sich nahe, die soziale Schichtung der Bevölkerung in Galiläa in einem Pyramidenmo- dell darzustellen: Die Basis besteht aus der brei- ten Masse armer und bettelarmer Menschen. Das etwas schmalere Mittelfeld bilden Kleinhänd- ler, Handwerker und Kleinbauern (die ständig in Gefahr sind, in die Schicht des besitzlosen Proletariats abzusinken). Die Spitze der Pyra- mide wird von einer zahlenmäßig kleinen, aber ungemein einflussreichen und mächtigen Ober- schicht eingenommen, die sich aus Großgrund- besitzern, Großhändlern und Steuerpächtern zusammensetzt. Da die Steuerpächter (unter der Bezeichnung „Zöllner“) und die Großgrundbesitzer in unse- ren Evangelien eine wichtige Rolle spielen, seien sie hier kurz charakterisiert: Die Zöllner sind keine Staatsbeamten, sondern Privatleute, die vom Landesherrn (in Galiläa ist es Hero- des Antipas) gegen eine feste Jahressumme das Steuer- und Zollrecht über eine bestimmte Region, über bestimmte Waren und Personen pachten. Mehreinnahmen bilden den Gewinn des Zöllners, Mindereinnahmen muss er aus eigener Tasche ergänzen. Bei der Eintreibung des Geldes wird er von Unterbeamten, gelegent- lich auch von Sklaven unterstützt, die ihrerseits wieder auf persönlichen Profit aus sind. Da die Höhe der Zölle oft unbestimmt ist, erliegen viele Zöllner der Versuchung, ihre „Kunden“ zu übervorteilen. (Der „sehr reiche Oberzöllner Zachäus“ bei Lk 19,2 räumt ein, dass er gelegent- lich „von jemand zu viel gefordert“ haben kann. Unter dem Eindruck seiner Begegnung mit Jesus verspricht er, dem Geschädigten „das Vier- fache zurückzugeben“.) – Das Berufsbild der Zöllner ist verständlicherweise bei den recht- schaffenen Israeliten sehr negativ. „Zöllner und Sünder“ nennt man in einem Atemzug. (Jesus urteilt nicht so schematisch. Er setzt sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch und ver- kündet ihnen die Botschaft vom barmherzigen Vater im Himmel.) In Bezug auf den Grundbesitz haben wir in Gali- läa folgende Situation: Die günstig gelegenen und für extensive Bewirtschaftung geeigneten Ländereien in den Ebenen sind fast alle in den Händen weniger reicher Familien, die zumeist mit dem Herrscherhaus in Verbindung stehen. (Nur die weniger fruchtbaren Berghänge sind den Kleinbauern überlassen.) – Die Großgrund- besitzer verfügen darüber hinaus in der Regel über einen reichen Viehbestand. Zudem üben sie oft unlautere Handelspraktiken aus, indem sie z. B. das Brotgetreide spekulierend zurückhalten, um den Verkaufspreis zu steigern, oder indem sie in ertragreichen Jahren die Kleinbauern und Pächter auf dem Markt unterbieten. – Auch als Darlehensgeber haben sie die Pächter, die sich
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