Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 2
IM LAND DES HERRN 14 2/2022 Im Übrigen war die Stellung der Witwen in der antiken Welt (also nicht nur im Judentum) in der Regel sehr ungesichert, vor allem, wenn sie kein großes Vermögen und keine Söhne hatten, bei denen sie Unterkommen und ihr Auskom- men finden konnten. Wenn eine Witwe nur einen Sohn hatte und wenn ihr dieser Sohn durch den Tod entrissen wurde (der bibelkundige Leser denkt hier an den toten „Jüngling von Nain, den einzigen Sohn seiner Mutter, die Witwe war“ (Lk 7,11–17) – dann war das für diese Frau eine Katastrophe, für sie brach eineWelt zusammen. Wohl gibt es im Alten Testament eine Witwe, die begütert, erfolgreich und darüber hinaus von großer Schönheit ist: Judith, die Befreierin Israels, die den feindlichen Feldherrn Holofer- nes betört und ermordet (vgl. das Buch Judith) – aber das ist die berühmte Ausnahme von der Regel. Im Allgemeinen litten dieWitwen Not, und Gott selbst musste sich gewissermaßen um die- se armen Frauen annehmen. So spricht Gott im Buch Exodus: „Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören. Mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch mit dem Schwert umbringen, sodass eure Frau- en zuWitwen und eure Söhne zuWaisen werden“ (Ex 22,21 f.). Die Witwe brauchte nicht nur einen Ernährer, sondern oft auch einen Rechtsbeistand, d. h. einen Mann, der ihr half, ihre Ansprüche vor dem „Kadi“ durchzusetzen. Solche „Rechtsbe- rater“ konnten gelegentlich „Wölfe im Schafs- pelz“ sein. Unter demVorwand, sich für das Wohl der Witwe einsetzen zu wollen, brachten sie die bedrohten Frauen um ihren letzten Besitz. Man vergleiche dazu das Jesuswort: „Nehmt euch in acht vor den Schriftgelehrten…! Sie bringen die Witwen um ihre Häuser und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete“ (Mk 12,40). An das Haus gebunden Wer ein Bild von der „Frau im Alltag Jesu“ zeich- nen will, muss noch einen Zug hervorheben, auf den wir bis jetzt noch nicht zu sprechen kamen: Die Frau gehörte damals nicht ins öffentliche Leben, jedenfalls nicht, wenn sie aus einer geset- zestreuen Familie stammte. Am liebsten sah man es, wenn die Frau, vor allem aber das unverheira- tete Mädchen, das Haus nicht verließ. Der jüdisch- hellenistische Philosoph Philon von Alexandrien (ein Zeitgenosse Jesu) schreibt: „Märkte, Ratsver- sammlungen, Gerichtsverhandlungen, festliche Prozessionen, Ansammlungen großer Menschen- mengen, kurz: das ganze… sich in der Öffentlich- keit abspielende Leben schickt sich für Männer; weiblichen Wesen gebührt das Hüten des Hauses und Zurückgezogenheit, wobei Jungfrauen sich in den hinteren Gemächern aufhalten sollen …“ Wenn eine Jerusalemer Frau das Haus verließ, war ihr Gesicht durch die Haartracht (zu der u. a. zwei Kopftücher gehörten und ein Stirnband mit Bändern, die bis zum Kinn herabfielen) derart verhüllt, dass man sie praktisch nicht erkennen konnte. Ging eine Frau ohne diese Verhüllung aus, galt das als schwerer Verstoß gegen die guten Sitten. Ihr Mann hatte das Recht (nach manchen Auslegern sogar die Pflicht), die Frau deshalb zu verstoßen (wobei er ihr die schon mehrmals erwähnte „Hochzeitsverschreibung“ nicht aus- zuzahlen brauchte). Nur am Tag ihrer Hochzeit konnte sich eine Braut (wenn sie Jungfrau war) ohne Verhüllung des Hauptes im Hochzeitszug sehen lassen (Witwen mussten auch bei diesem Anlass das Haupt bedecken). Ganz im Sinne der Regel: „Eine Frau hat im öffentlichen Leben nichts verloren“ ist es, wenn den Männern nahegelegt wird, möglichst jede Unterhaltung mit einer Frau zu vermei- den. Von einem Schriftgelehrten aus alter Zeit (ca. 150 v. Chr.) wurde der Ausspruch überlie- fert: „Unterhalte dich nicht viel mit einemWeib.“ – Spätere Ausleger haben hinzugefügt: „Das gilt schon vom eigenen Weib, um wieviel mehr vom Weib des Nächsten.“ Besonders für einen Gelehr- ten galt es als schimpflich, wenn er mit einer Frau auf der Straße sprach. Nun darf man aus den eben zitierten Regeln und Empfehlungen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Die im Inneren eines geräumigen Hauses zurück- gezogen lebende Frau, die nur mit ihrer Diener-
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