Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 2

IM LAND DES HERRN 16 2/2022 Beim Gottesdienst war die Frau lediglich Zuhö- rerin. In alter Zeit mag es vorgekommen sein, dass eine Frau zumVorlesen der Tora aufgerufen wurde, später war das nicht mehr üblich. Bezeichnend für die untergeordnete Stellung der Frau (die übrigens auch vor Gericht nicht das Recht zur Zeugenaussage besaß) ist die häu- fig zitierte Formel: „Frauen, Sklaven und Kin- der“, d. h. die Frau stand auf einer Stufe mit dem nichtjüdischen Sklaven und dem unmündigen Kind: Sie hatte einen menschlichen Herrn, ihren Ehemann, über sich und war dadurch auch in ihrem Dienst vor Gott nicht frei. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass ein frommer Jude täglich beten konnte: „Gepriesen sei Gott, dass er mich nicht als Weib erschaffen hat!“ Mit diesen Bemerkungen ist der Rahmen skiz- ziert, innerhalb dessen Jesus die jüdischen Frau- en erlebt hat. Jesus und die Frauen In der jüdischen Gesellschaft zur Zeit Jesu stand die Frau auf einer Stufe mit den nichtjüdischen Sklaven und dem unmündigen Kind. Tonange- bend war allein der Mann, der das Weibliche für minderwertig, für nicht gleichberechtigt ansah. In diesem Kapitel wollen wir fragen: Wie hat sich Jesus in dieser von Männern beherrschten (in dieser „patriarchalischen“) Umwelt den Frauen gegenüber verhalten? Hatte auch er Vorbehalte gegen seine „Schwestern“? Drängte er sie an den Rand? Behandelte er sie (auch das ist einer Form der Verachtung!) huldvoll „von oben herab“? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, wird es nötig sein, uns seine Reihe von Szenen vor Augen zu führen, in denen Jesus mit Frauen spricht, an ihnen handelt und sich von ihnen behandeln lässt, in denen er sie lobt und tadelt und zu ver- stehen gibt, dass er sich in sie einfühlen kann. Keine historischen Protokolle Bei unserer Darstellung ist zu beachten: Unse- re Evangelien sind im Durchschnitt mehr als 40 Jahre nach dem Tod Jesu entstanden. Kein Evangelist war Augenzeuge dessen, was Jesus gesagt und getan hat. – Darüber hinaus gilt: Als Kinder ihrer Zeit waren die Apostel und Evange- listen patriarchalisch ausgerichtet, d. h. sie waren (von klein auf) von der Überzeugung erfüllt, dass der Mann über der Frau steht. Deshalb waren sie grundsätzlich geneigt, den Wert der Frauen „herunterzuspielen“. Als eine heidnische Frau hinter Jesus herläuft und ihn dringend um Hei- lung ihrer kranken Tochter bittet, sagen die Jün- ger: „Tu ihr doch den Willen, damit sie uns nicht weiter belästigt!“ (Mt 15,23). Das heißt, die Frau wird wie ein lästiges Kind eingestuft, das man klugerweise zufriedenstellt, damit man vor ihm seine Ruhe hat. Aus diesen Einsichten ergibt sich Folgendes: Wenn uns die Evangelien von Jesus berich- Christus und die Kaaniiterin  © Bayerisches Nationalmuseum München, Foto Dr. Matthias Weniger

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