Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 2
2/2022 19 auf! Warum lasst ihr sie nicht in Ruhe? Sie hat ein gutesWerk an mir getan. Denn die Armen habt ihr immer bei euch, und ihr könnt ihnen Gutes tun, so oft ihr wollt. Mich aber habt ihr nicht immer. Sie hat getan, was sie konnte. Sie hat im Voraus meinen Lein für das Begräbnis gesalbt. Amen, ich sage euch: Auf der ganzen Welt, wo das Evange- lium verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.“ Jesus erkennt als einziger, was im Inneren dieser Frau vorgeht und was sie zu ihrer großzügigen Geste antreibt: Es ist nicht Verschwendungs- sucht, sondern ein waches Gespür für die Bedeu- tung der „Gegenwart Jesu“. Für diese Frau ist Jesus der höchste Wert und um ihre Wertschät- zung zum Ausdruck zu bringen, ist ihr nichts zu kostbar. Sie treibt buchstäblich „mit Jesus einen Kult“, und Jesus interpretiert ihr Tun als Anerkennung seines erlösenden Lebens, Lei- dens und Sterbens. – Die Frau von Betanien ist in ihrer Hingabe an Jesus nicht weniger radi- kal als die „arme Witwe“ und wie diese stellt sie die meisten ihrer jüdischen und christlichen Glaubensbrüder in den Schatten. Frauen als Gesprächspartnerinnen Jesu Bekanntlich sollten jüdische Männer nach Mög- lichkeit jede Unterhaltung mit einer Frau ver- meiden; besonders für einen Gelehrten schickte es sich nicht, in der Öffentlichkeit mit einer Frau zu sprechen. Dass sich Jesus auch in die- sem Punkt anders verhalten hat, als es die patriarchali- schen Konventionen ver- langten, dafür liefert uns das Johannesevangel ium einen wichtigen Beleg im „Ge sprä ch Je su mi t de r Samar i ter in am Jakobs - brunnen“ (Joh 4,1–42). Diese hervorragend gestal- tete Erzählung kreist um hochtheologische Themen (Heilsangebot Got- tes in Gestalt von „lebendigemWasser“, die Fra- ge nach der rechten Gottesverehrung und dem Messias) und ist so reich und kompliziert, dass wir sie hier nicht referieren können. Natürlich nimmt kein Historiker an, dass Jesus wörtlich so mit einer unbekannten Samariterin diskutiert hat, wie wir es bei Johannes lesen. Aber dass der Evangelist überhaupt eine Szene wie die vorliegende entwerfen konnte, lässt uns erkennen, dass sein Bericht im Kern durchaus Jesus-gemäß ist. Solche Gelegenheiten wie am Jakobsbrunnen wird es im Leben Jesu des Öfte- ren gegeben haben und wir können uns vorstel- len, dass Jesus dabei mit spontaner Selbstver- ständlichkeit zu interessierten Frauen über reli- giöse Themen gesprochen hat. Und vielleicht hat er dabei eine Erfahrung gemacht, die auch heute noch gilt: nämlich dass Frauen für bestimmte Seiten der christlichen Botschaft aufgeschlos- sener sind als Männer. Diese machen in unserer Geschichte übrigens keine besonders gute Figur: die „Jünger“ haben nichts Besseres zu tun, als sich „zu wundern“, dass ihr Meister „mit einer Frau spricht“. Immerhin haben sie soviel Res- pekt, dass keiner zu fragen wagt: „Was redest du mit ihr?“ (Joh 4,27). Zum Stichwort „Gespräche mit Frauen“ gibt es im Lukasevangelium noch eine Episode, an die sich jeder bibelkundige Leser erinnert: Jesus als Frau in der jüdischen Gesellschaft Frau in der jüdischen Gesellschaft Salbung in Betanien, Mosaik in der Lazarus-Kirche Betanien © Petrus Schüler
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