Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 2
2/2022 9 In der Gewalt des Vaters Wenn man einem jüdischen Vater meldete, es sei ihm ein Knabe geboren worden, dann empfand er das als „frohe Botschaft“. Die Geburt eines Mädchens hingegen war in vielen Familien von Teilnahmslosigkeit, ja von Trauer begleitet. „Wehe dem, dessen Kinder Mädchen sind!“, lautetet der Ausspruch eines Rabbis. Diese Geringschätzung der Frau hatte natürlich praktische Konsequenzen. Die Töchter hatten grundsätzlich hinter den Söhnen zurückzuste- hen. Die Ausbildung, die man ihnen angedeihen ließ, beschränkte sich in der Regel auf die Haus- arbeiten, vor allem auf Stricken und Weben; auch mussten die Mädchen für ihre jüngeren Geschwister „Kindsmagd“ sein. Dem Vater gegenüber hatten sie ähnliche Pflich- ten wie die Söhne. Sie mussten z. B. demVater die Speisen und Getränke reichen, ihn kleiden und zudecken, ihn führen (wenn er alt geworden war) und ihm Gesicht, Hände und Füße waschen. Wenn es ums Erben ging, waren die Töchter den Söhnen nachgeordnet. Hier wurden zuerst die Söhne und deren Nachkommen bedacht. Bis zum Alter von zwölfeinhalb Jahren war ein Mädchen gewissermaßen „Eigentum des Vaters“. Was es durch Arbeit verdiente, was es durch einen glücklichen Zufall gefunden hatte (es kam damals öfter vor, dass man auf verborgene Wertsachen stieß, weil die Menschen in Krisen- zeiten kostbare Dinge in der Erde versteckten – man vgl. dazu das berühmte Gleichnis von den „anvertrauten Talenten“, in dem der drit- te Knecht sein Geld vergräbt, Mt 25,18) – alles Die Frau in der jüdischen Gesellschaft P. Sigfrid Grän (†) ieser Artikel behandelt die weibliche Hälfte des auserwählten Volkes, die Frauen in der jüdischen Gesellschaft. – Jeder einigermaßen gebildete Zeitgenosse wird bei diesen Stich- worten an „Entmündigung“ und „Unterdrückung der Frauen in der antiken Welt“ denken; und er wird vielleicht hinzufügen, dass er von Jesus gehört hat, er habe die Frauen „irgendwie aufgewertet“. Prüfen wir nach, wieweit sich diese Meinungen durch historische Quellen belegen lassen! D Frauen beimWasser holen, Anfang 20. Jahrhundert © Archiv Kommissariat München
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