Im Land des Herrn | 77. Jahrgang | 2023 - 2

Franziskanische Zeitschrift für das Heilige Land 77. Jahrgang 2023 / Heft 2

ange haben Interessenten für eine Heilig-Land-Pilgerfahrt warten müssen; nun endlich, nach dem Abklingen der Corona-Pandemie, können wir wieder uneingeschränkt Menschen in das Heilige Land begleiten. Während ich diese Zeilen schreibe, befindet sich gerade eine Pilgergruppe auf Zypern – denn Zypern gehört zu den Wirkungsstätten der Franziskaner der Kustodie. In der nächsten Ausgabe unserer Zeitschrift werden wir Ihnen ausführlich darüber berichten. Im letzten Heft stand am Anfang ein Artikel über die „Flagellatio“ am Kreuzweg in Jerusalem. In der aktuellen Ausgabe finden Sie einige Artikel über das Areal bei der Kirche St. Anna: einmal über die Kirche und ihre Tradition als Geburtsort der Gottesmutter Maria. Ich erinnere mich, dass ich in Jerusalem im Gespräch mit einem muslimischen Freund die etwas unbedachte Äußerung machte, es wäre für uns Christen nicht unbedingt von größter Wichtigkeit, wo Maria geboren wurde. Daraufhin wurde mein Gesprächspartner etwas ungehalten und tadelte mich, denn die Muslime verehren den Ort explizit als Geburtsort Mariens – natürlich sehen sie Maria als Mutter des Propheten Jesus. Wenige Meter neben der Kirche liegt das Ausgrabungsgebiet des „Teiches Betesda“. Lange war man sich im Unklaren, wo der Teich Betesda eigentlich lokalisiert werden kann. Man nahm zum größten Teil an, dass sich der Ort weiter südlich befand, denn dort gab es ein WasserreserSehr verehrte Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Heiligen Landes! voir (heute zugeschüttet), den „Teich der Söhne Israels“. Erst die Archäologie konnte hier Klarheit bringen. Doch nicht nur um Archäologie und alte Steine soll es gehen: St. Anna ist heute eine wichtige Niederlassung der „Weißen Väter“, besser der „Missionare Afrikas“. „Russland in Israel“ könnte man einen weiteren Schwerpunkt des Heftes nennen: seit dem Zusammenbruch des Ostblocks haben die in großer Zahl nach Israel einströmenden russischen Juden die Gesellschaft nachhaltig verändert. Doch schon im 19. Jahrhundert ist das Heilige Land für russische Christen interessant geworden, worauf im Artikel eingegangen wird. An dieser Stelle möchte ich mich auch im Namen der Mitbrüder der Kustodie bedanken für alle Hilfe und Verbundenheit, die wir in der Zeit der Corona-Pandemie von unseren Freunden und Wohltätern erfahren haben. Das Erdbeben in Syrien und die wirtschaftliche Katastrophe im Libanon sind Herausforderungen auch für die Mitbrüder der Kustodie – und diesen Herausforderungen können wir uns stellen, weil wir uns auf Gottes Vorsehung und die Hilfe unserer Wohltäter verlassen können. Vergelts Gott dafür! Im Namen der deutschsprachigen Kommissare des Heiligen Landes, L

2/2023 3 Inhalt Der Engel, der das Wasser aufwühlt (Joh 5,1–16) Hans-Josef Klauck Die „Weißen Väter“ in Jerusalem Frans Bouwen Die Kirche St. Anna am Teich Betesda Heinrich Fürst – Gregor Geiger Im Suk von Jerusalem Petrus Schüler Interview mit dem Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Msgr. Pierbattista Pizzaballa Gefährliche Regierungskoalition Der erschrockene Apostel Paul Zahner Das Heilige Grab in Konstanz Petrus Schüler Kreuzfahrer-Siegel in München Petrus Schüler Das „russische“ Gesicht des Heiligen Landes Russland und Russischsprachige im Heiligen Land: zwei Realitäten, zwei Geschichten Karine Eysse Zwischen Ethnizität und Religion: Was heißt „Jude sein“? Cécile Lemoine Auf dem Berg Zion Spannungen abbauen Cécile Lemoine Beruf: Graffiti-Jäger Cécile Lemoine Titelbild: Heilung am Teich Betesda, Fenster in St. Bonifatius Bad Nauheim Rückseite: Kirche St. Anna Jerusalem von Osten aus Alle Fotos in der Zeitschrift (wenn nicht anders angegeben) © Petrus Schüler Seite 12 Seite 18 Seite 14 Seite 4 Seite 9 Seite 22 Seite 20 Seite 26 Seite 27 Seite 30 Seite 32 Seite 35

4 2/2023 1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus stieg hinauf nach Jerusalem. 2 Es gibt aber in Jerusalem beim Schaftor einen Teich, auf Hebräisch „Bethesda“ [„Bethzatha“] genannt, der von fünf Hallen umgeben ist. 3a In diesen lag eine Menge von Kranken, darunter Blinde, Lahme, Ausgezehrte, [Paralytiker], [3b die auf die Bewegung des Wassers warteten. 4 Denn ein Engel des Herrn stieg von Zeit zu Zeit hinab in den Teich (nahm ein Bad) und wühlte (so) das Wasser auf. Wer immer nun als erster hinunterstieg nach dem Aufwallen des Wassers, wurde gesund, an welcher Krankheit auch immer er litt.] 5 Es gab aber dort einen gewissen Menschen, der schon achtunddreißig Jahren als Kranker verbracht hatte. 6 Jesus sah ihn da liegen und erkannte, dass er schon lange Zeit so zubrachte. Er sagt zu ihm: „Willst du gesund werden?“ 7 Der Kranke antwortete ihm: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringen würde, wenn das Wasser aufgewühlt wird. Bis ich mich hingeschleppt habe, steigt schon ein anderer vor mir hinab.“ 8 Jesus sagt zu ihm: „Steh auf, hebe deine Bahre auf und geh umher!“ 9 Und sogleich wurde der Mensch gesund, und er hob seine Bahre auf und ging umher. Es war aber Sabbat an jenem Tag. 10 Da sagten die Juden zu dem Geheilten: „Es ist Sabbat, und es ist dir nicht erlaubt, deine Bahre aufzuheben.“ 11 Er aber antwortete ihnen: „Der mich gesund gemacht hat, jener hat zu mir gesagt: ‚Hebe deine Bahre auf und geh umher!‘“ 12 Sie fragten ihn: „Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: ‚Hebe auf und geh umher?‘“ 13 Der Geheilte aber wusste nicht, wer es war. Jesus hatte sich nämlich abgewendet, da an dem Ort eine (zu große) Menschenmenge anwesend war. 14 Danach trifft Jesus ihn im Tempel und sagte zu ihm: „Siehe, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nicht noch etwas Schlimmeres widerfährt.“ 15 Der Mensch ging weg und erklärte den Juden, dass es Jesus sei, der ihn gesund gemacht habe. 16 Und deshalb verfolgten die Juden Jesus, weil er dies an einem Sabbat getan hatte. Der Engel, der das Wasser aufwühlt (Joh 5,1–16) Hans-Josef Klauck Der Beitrag der Archäologie er das Glück hat, nach Jerusalem reisen zu dürfen, sollte es auf keinen Fall versäumen, den Teich Bethesda aufzusuchen, der in Joh 5,1–9 eine entscheidende Rolle spielt (aber in den touristischen Routenplänen leider oft ausgelassen wird). „Bethesda“ kann man vermutlich verstehen als „Haus der Gnade“, was ja bestens zu der folgenden Erzählung passt. Allerdings hat unsere maßgebliche Ausgabe des griechischen Neuen Testaments (Nestle-Aland) anstelle von „Bethesda“ den Ortsnamen „Bethzatha“, der schwer zu erklären ist. Mit dem jüdischen Historiker Flavius Josephus könnte man ihn verstehen als „Neustadt“ und ihn auf die Lage des Teichs in der nördlichen Vorstadt Jerusalems beziehen. Aber die Mehrzahl der Erklärer hält wohl zurecht an „Bethesda“ fest. An dem archäologischen Befund, auf den wir gleich eingehen, ändert sich dadurch W

2/2023 5 Teich Betesda Teich Betesda sowieso nichts. Das „Schaftor“ schließlich hat seinen Namen wohl daher, dass dort ein Markt für Schafe und Ziegen abgehalten wurde, die für die Opfer im Tempel nötig waren. Bethesda findet sich heute hinter der Kirche St. Anna der Weißen Väter, sozusagen Tür an Tür mit dem Institutum Biblicum Franciscanum. Die Ausgrabungen haben ergeben, dass wir es tatsächlich mit zwei trapezförmigen Teichen, einem nördlichen und einem südlichen, von unterschiedlicher Größe zu tun haben, die durch einen Damm voneinander getrennt sind. Daraus ergibt sich ein klares Bild, was die fünf Säulenhallen angeht: vier auf den vier Seiten der Doppelanlage und die fünfte auf der Krone der Trennmauer. Dem südlichen Pool wurde in der Antike offensichtlich eine heilende Kraft zugeschrieben. Ein Heiligtum des griechisch-römischen Heilgottes Asklepios entstand dort zwar erst im 2. Jahrhundert n. Chr., also nach der Tempelzerstörung und dem Bar-KochbaAufstand, als Erholungs- und Kurort für die römischen Besatzer. Aber seine Erbauer könnten sich durchaus auf ältere Traditionen gestützt haben, die mit dem Gewässer verbunden waren. Aus V. 7 bei Johannes geht ein eigentümliches Phänomen hervor, auch wenn wir es zunächst nur auf einer Negativfolie sehen: Von Zeit zu Zeit geriet das Wasser in Bewegung. Damit war der Glaube verbunden, dass geheilt werde, wer als erster das aufgewühlte Wasser erreichte. Daraus wiederum resultierte eine bittere Konkurrenz ausgerechnet unter den Kranken, die sich in einem ständigen Wettkampf aufrieben. Unser Mann hatte dabei keine Chance, wie wir aus seiner Klage in V. 7 entnehmen: ständig sich hinschleppen, aber immer zu spät, da allein und hilflos. „Ich habe keinen Menschen“ fasst die Situation zusammen und erweckt Mitleid beim Hörer, der sich vielleicht an vergleichbare eigene Lagen erinnert fühlt. Ob die achtunddreißig Jahre seiner Erkrankung etwas mit den vierzig Jahren als Prüfungszeit in der Bibel zu tun haben, lassen wir dahingestellt (vgl. immerhin Dtn 2,14: „Die Zeit, die wir … gewandert waren, … betrug achtunddreißig Jahre“). Heilung am Teich Betesda, St. Georgs-Kirche Paralimni, Zypern

IM LAND DES HERRN 6 2/2023 Eine frühere Generation von Archäologen nahm an, dass eine intermittierende Quelle in dem Becken sporadisch die Bewegung des Wassers verursachte. „Intermittierend“ heißt so viel wie nur ab und zu sprudelnd. Beim nicht weit entfernten Teich Schiloach (vgl. Joh 9,7) zum Beispiel war das der Fall, aber für Bethesda rückt man wieder davon ab. Stattdessen geht man jetzt davon aus, dass der kleinere südliche Teil als Mikveh diente, als Reinigungsbad nach jüdischem Ritualgesetz also, das nicht nur, aber auch und vor allem von den Pilgerströmen an den großen Wallfahrtsfesten vor dem Tempelbesuch benutzt wurde. Das Wasser in einem Ritualbad musste selbst von Zeit zu Zeit gereinigt werden, und das geschah durch Zufuhr von frischem Wasser, in diesem Fall aus dem oberen Pool. Wenn dafür die Schleusen im Damm geöffnet wurden, geriet die Wasseroberfläche des Bades in Bewegung. Eine volkstümliche Erklärung Mit dieser rational-nüchternen Deutung gab sich der antike Volksglaube aber nicht zufrieden. Man brauchte ein Moment des Wunderbaren. Es wird geliefert in den Versen 3b und 4, die oben in eckigen Klammern stehen, weil sie sich nur in einer Reihe meist jüngerer Handschriften finden, nicht aber in den ältesten und zuverlässigsten. Ein Engel steigt gelegentlich herab und rührt das Wasser auf, entweder einzig zum Zweck des Heilens oder sogar, so allerdings nur ein kleiner Teil der Texte, indem er ein Bad nahm (wörtlich „er wusch sich“) und etwas von seiner numinosen Macht an das Wasser abgab. Letzteres ist sogar eine sehr charmante Vorstellung; sie evoziert das Beispiel von badenden Göttinnen und Nymphen in der griechischen Mythologie. In der heiligen Stadt Jerusalem, in streng jüdischem Milieu, konnte es natürlich nur ein Engel sein. Ausgrabungen Teich Betesda

2/2023 7 Die meisten Erklärer betrachten diese hübsche Miniatur als einen späteren folkloristischen Eintrag. Ein evangelikaler (konservativer) Exeget dankt sogar Gott dafür, dass die Episode nicht in der älteren Überlieferung steht. Sie rieche nämlich zu stark „nach Heidentum und religiösem Aberglauben“ und gehöre daher nicht ins Evangelium. Man könnte dieses Argument aber auch umkehren. Frühe Schreiber nahmen schon Anstoß an dem Textstück und ließen es daher aus. Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder, bekannt durch sein Schauspiel „Unsere kleine Stadt“, verfasste 1928 eine Serie von wirklich sehr kurzen Mini-Dramen. Eins davon trägt den Titel „The Angel that Troubled the Water”, der Engel, der das Wasser aufrührte, frei nach Joh 5. Wilder hatte offensichtlich in seiner englischen Bibel das Zwischenstück noch gelesen. Vielleicht sollte man es doch wieder in den Text aufnehmen, auch in den Lektionarien, meinetwegen in eckigen Klammern, weil es mehr Farbe in die Erzählung hineinbringt. Von der Textkritik zur Theologie Das war eine Exkursion in eine Grundlagendisziplin der neutestamentlichen Exegese, die Textkritik, die sich um den ältesten erreichbaren Textbestand kümmert. Unsere Perikope aus Joh 5 konfrontiert uns allerdings mit weiteren Herausforderungen nicht zuletzt theologischer Art. Die Sabbatkontroverse, die sich hier entspinnt und sich weit in das 5. Kapitel hinzieht, werde ich nicht diskutieren. Das würde uns zu einer Diagnose führen, zu der man auch in anderen verwandten Fällen gelangt. Den jüdischen Gegnern Jesu wird professionelle Deformation unterstellt, während der christliche Erzähler eine Tendenz hat, jüdisches Verhalten zu karikieren (das Herumtragen einer Bahre, die im Grunde nur eine Matte war, zum Gesetzesverstoß zu stilisieren wirkt nahezu lächerlich, ebenso der Versuch, Jesus als Auftraggeber dafür zur Rechenschaft zu ziehen). Ein echtes Fragezeichen ergibt sich hinsichtlich des Charakters des Mannes, der geheilt wurde. Nachdem er Jesus im Tempel identifiziert hatte (V. 14), geht er zurück zu den jüdischen Autoritäten und sagt zu ihnen: „Es war Jesus“. Das sieht nicht gut aus, sondern wirkt wie eine gezielte Denunziation, durch die der Mann zugleich die Verantwortung für die Verletzung des Sabbats von sich abwälzen will. Dass man „er sagt zu ihnen“ in V. 15 auch übersetzen könnte mit „er verkündigte ihnen“, dürfte ihn kaum schon zu einem christlichen Verkünder und Bekenner machen. Im besten Fall verhält er sich begriffsstutzig und naiv. Im schlimmsten Fall geriert er sich als Petzer („whistle-blower“) und Klatschmaul („tattletale“). So oder so legt der lahme Mann – das Wortspiel sei erlaubt – eine lahme Reaktion auf seine Heilung an den Tag. Die theologische und pastorale Hauptfrage Das führt uns zu dem hauptsächlichen theologischen, aber fraglos auch pastoralen Problem, das dieses Evangelium uns aufgibt. Jesus sagt zu dem Mann bei der Begegnung im Tempel in V. 14: „Sündige nicht mehr, damit dir nicht noch etwas Schlimmeres widerfährt“. Ist das etwa ein eindeutiger Beleg dafür, dass Krankheit als Strafe Gottes für persönliche Sünden aufgefasst werden sollte? In der gesamten Antike und auch in der Bibel war das tatsächlich zum Teil der Fall. Meine erste Antwort wäre die: Blicken wir im Evangelium voraus auf das 9. Kapitel. Dort begegnet Jesus einem Mann, der blind geboren wurde, was die Jünger zu der Frage provoziert, ob der Mann selbst gesündigt habe (vor seiner Geburt, wohlgemerkt!) oder ob es seine Eltern waren, die dies taten, ebenfalls eine bekannte Denkfigur (vgl. nur Ex 20,5: „Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation…“; Solon [griech. Gesetzgeber]: „schuldlose Kinder oder die Enkel sogar büßen die frevelnde Tat“). Jesus antwortet: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden“ (9,3). Die etwas rätselhafte zweite Hälfte dieses Wortes meint in etwa: Der individuelle Fall des Teich Betesda Teich Betesda

8 2/2023 IM LAND DES HERRN Blindgeborenen gibt jetzt mir, Jesus, die Gelegenheit, ein eindrucksvolles Wunder zu vollbringen. Das Wunder wiederum demonstriert, dass Gottes Absicht nicht die Bestrafung ist, sondern die Rettung. Das lässt uns trotzdem mit der Frage zurück, was wir mit dem früheren Wort im 5. Kapitel tun sollen. Nicht zu sündigen, damit nicht noch Schlimmeres passiert – das können wir entgegen dem ersten Augenschein auch anderes verstehen, aber durchaus auf der Linie johanneischer Theologie. Das Schlimmste, was geschehen kann, besteht darin, seine Rettung zu verspielen, ewiges Leben zu verlieren. Die Sünde, die dazu führt, ist fehlender Glaube, ist Unglaube gegenüber Jesus als Gottes letztem Wort und Gottes Sohn. Der Mann, obwohl geheilt, setzt sich dem Risiko aus, dem Wundertäter Jesus doch nicht zu vertrauen (das wäre seine Sünde) und daher endgültiges Heil zu verlieren (das wäre das Schlimmere). Die Glaubensfrage wird den weiteren Verlauf von Joh 5 bestimmen. Und wir selbst? Eine letzte Frage wäre die, wo wir uns selbst in diesem Evangelium wiederfinden. Wahrscheinlich sind wir nicht sonderlich erpicht auf eine Identifizierung mit dem lahmen und dennoch geheilten Mann, der dafür ein zu zwielichtiger Charakter ist. Ich schlage vor, dass wir eine Lücke in der Erzählung zu füllen versuchen, die angezeigt wird durch die Klage des Mannes: „Ich habe keinen Menschen, der mich zum Wasser bringt.“ Er braucht eine helfende Hand. Das wird interessanterweise von Thornton Wilder – auf der Grundlage des Langtextes – gesehen. In einer Szenenanweisung schreibt er: „Eine Tür führt zu einem Vorbau, wo die Diener der Kranken mit Würfeln spielen, während sie auf den Zuruf warten, ihren Meister in das Wasser zu werfen, wenn der heilende Engel den Teich aufwühlt.“ Ich empfehle nicht das Würfelspiel, wohl aber die Rolle der Diener. Wir könnten Menschen helfen, die nach Heilung suchen, indem wir sie zu Jesus führen, der gerade im Johannesevangelium – und zwar das ganze Evangelium hindurch – als Quelle lebendigen Wassers in Erscheinung tritt (4,7–15: am Jakobsbrunnen, bes. 4,14: „…das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle von Wasser, das hinübersprudelt ins ewige Leben“; 7,38: „Aus seinem Innern werden Ströme lebendigen Wassers fließen“; 19,34: „und sogleich floss Blut und Wasser heraus“). Wenn wir versuchen, Menschen mit helfender Hand in dieses lebensspendende Wasser zu werfen, werden wir vielleicht ein Stück weit zu dienenden Engeln für sie. Heilung am Betesda, Beichtstuhl Pfarrkirche Edelstetten

2/2023 9 Die „Weißen Väter“ in Jerusalem Frans Bouwen ie „Weißen Väter“ kamen 1878 nach Jerusalem und leben seitdem im muslimischen Viertel der Altstadt. Seit mehr als 140 Jahren ist ihnen die Schutzherrschaft über die Kreuzfahrerbasilika der Heiligen Anna und über die biblische Stätte Betesda, Ort der Heilung des Gelähmten aus dem Johannes-Evangelium, anvertraut. Da der offizielle Name der „Weißen Väter“ „Missionare von Afrika“ lautet, stellt sich zu Recht die Frage: Wie kamen sie nach Jerusalem, das nicht gerade in Afrika liegt, und warum? Das offizielle Gründungsjahr der Gesellschaft der „Missionare von Afrika“ ist 1868. Ihr Gründer, Msgr. Charles Lavigerie, war ein Jahr zuvor Erzbischof von Algier geworden. Kurz nach seiner Ankunft war er mit einer dramatischen humanitären Situation konfrontiert, die durch Hungersnöte und verschiedene Krankheiten verursacht worden war. Er kümmerte sich um die Armen, vor allem um verlassene Kinder. Der dringende Bedarf an Mitarbeitern war der Ursprung der „Weißen Väter“ (White Fathers, WF). Sie erhielten diesen Namen aufgrund ihres Habits, der weißen Gandoura und dem Burnus, die der traditionellen Kleidung der Region ähneln. Ein Jahr später eröffnete Lavigerie auch das erste Noviziat der „Weißen Schwestern“, heute „Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika“ genannt. Als Lavigerie die Diözese Nancy (Frankreich) verließ und seine Ernennung nach Algier annahm, hatte er eine Vision. Er wollte sich nicht nur um die kürzlich in Algerien angekommenen französischen Christen kümmern, sondern war entschlossen, die gesamte Bevölkerung des Landes zu erreichen. Darüber hinaus betrachtete er Algier als Tor zum gesamten afrikanischen Kontinent. 1876 schickte er eine erste Karawane mit drei „Weißen Vätern“ durch die Wüste nach Westafrika südlich der Sahara, aber sie wurden unterwegs ermordet. Zwei Jahre späD Kardinal Lavigerie, Gründer der Gemeinschaft der Weißen Väter, Büste vor dem Seminar St. Anna

10 2/2023 ter, 1878, brach die erste Karawane mit „Weißen Vätern“ nach Ost- und Zentralafrika auf. Im selben Jahr trafen die „Weißen Väter“ aber auch in Jerusalem ein. Lavigeries „Weg nach Damaskus“ Die Vorgeschichte dazu: In seiner Funktion als Direktor des heutigen „L’Œuvre d’Orient“ in Paris unternahm Lavigerie 1860 einen dreimonatigen Besuch im Libanon und in Syrien. 1860 waren viele örtliche christliche Gemeinden bzw. Christen von Drusen massakriert worden. (Den Massakern war in Damaskus u. a. der selige Tiroler Franziskanermissionar Engelbert Kolland zum Opfer gefallen.) Lavigerie wollte helfen und dieser Besuch hat ihn tief und nachhaltig beeindruckt. Einige Jahre später wird er sagen, dass er dort seine missionarische Berufung gefunden hat, seinen „Weg nach Damaskus“. Seitdem haben ihn das Interesse und die Sorge um den christlichen Osten nicht mehr losgelassen. Sobald er also eine Möglichkeit fand, seine Missionare nach Jerusalem zu entsenden, zögerte er nicht und gab ihnen klare Anweisungen, ähnlich denen, die er seinen Missionaren in Afrika gab: „Alles für alle“ zu werden (1 Kor 9,19), wobei die Sprache und die Lebensweise der lokalen Bevölkerung so weit wie möglich übernommen werden sollte. Im Osten bedeutete das für Lavigerie die volle Achtung der östlichen Kirchen und Traditionen, ihrer liturgischen Riten und Theologie. Für ihn bestand darin auch die einzige Möglichkeit, die Einheit zwischen Osten und Westen zu fördern. In diesem Punkt war er ein Pionier seiner Zeit, als von vielen katholischen Missionaren die Latinisierung noch stark gefördert wurde. Wie in seiner Vision von Afrika bestand er auch nachdrücklich auf der Ausbildung von örtlichen Priestern, und in diesem Sinne stimmte er 1882 zu, dass seine Missionare die Leitung des neuen Seminars für die melkitischen griechischkatholischen Priester übernahmen. Als Folge der Besatzung Ost-Jerusalems durch Israel wurde das St. Anna Priesterseminar 1967 in den Libanon verlegt. Während der 85-jährigen Tätigkeit in Jerusalem kamen etwa 350 Priester aus diesem Seminar, darunter etwa 40 Bischöfe und 3 Patriarchen. Die Früchte der Ausbildung in diesem Seminar wurden beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) deutlich sichtbar, wo die griechisch-katholischen Bischöfe die aktivsten Verfechter der Rechte und Privilegien der katholischen Ostkirchen waren. Gleichzeitig breitete sich der Einfluss von St. Anna weit über die Mauern des Priesterseminars aus. Fr. Pierre Michel, Professor am Priesterseminar, brach beim Eucharistischen Kongress 1893 in Jerusalem eine Lanze für die östlichen Traditionen. Sein Appell führte 1894 zur Veröffentlichung der En- zyklika „Orientalium Dignitas“ durch Papst Leo XIII., ein echter Meilenstein in der Anerkennung der Würde der Ostkirchen. Ein ehemaliger Professor am Seminar, Fr. Antoine Delpuch, spielte 1917 eine zentrale Rolle bei der Gründung der Kongregation für Studenten der Weißen Väter © Bouwen IM LAND DES HERRN

2/2023 11 Weiße Väter Weiße Väter die orientalischen Kirchen und des Päpstlichen Orientalischen Instituts in Rom. Pierre Duprey wurde 1962 als Sachverständiger zum Zweiten Vatikanischen Konzil und später als Vizesekretär, dann als Sekretär in den Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen berufen. Dank seiner Jerusalem-Erfahrung trug er wesentlich zur Wallfahrt von Papst Paul VI. ins Heilige Land, zu seinem Treffen mit dem Patriarchen Athenagoras in Jerusalem 1964 sowie zur bemerkenswert positiven Entwicklung der Beziehungen zu den orthodoxen Kirchen bei. Die Zeitschrift „Proche-Orient Chrétien“ Im Jahre 1951 gründeten die Professoren des St. Anna Priesterseminars die Zeitschrift „Proche-Orient Chrétien“, die sich der Geschichte, Theologie, Liturgie, Spiritualität und Gegenwart der Kirchen im Nahen Osten widmet. Von Anfang an war die Suche nach der Einheit der Christen das Hauptziel dieser Initiative, unter Berücksichtigung des interreligiösen Kontextes. Diese in ökumenischen und akademischen Kreisen weithin geschätzte Zeitschrift wird oft als Erinnerung an 70 Jahre kirchliches Leben und ökumenisches Anliegen im Nahen Osten betrachtet. Seit 2015 kümmert sich die „Université Saint Joseph“ in Beirut unter der Leitung der Jesuiten um diese Publikation. Aktivitäten heute Die „Weißen Väter“ setzen in Jerusalem ihren ökumenischen und interreligiösen Dienst inmitten einer komplexen und unsicheren politischen Situation fort. Einige beteiligen sich auf lokaler und internationaler Ebene an offiziellen ökumenischen Dialogen mit verschiedenen Ökumenischen Institutionen wie dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, dem Rat der Kirchen im Nahen Osten, der österreichischen Stiftung „Pro Oriente“ und anderen. In Jerusalem ist ihr Hauptanliegen die Arbeit an der Basis, innerhalb der lokalen christlichen Gemeinschaft, sowohl für die ökumenischen als auch für die internationalen Beziehungen, da diese Anliegen in erster Linie in der Verantwortung der Ortskirchen liegen. Gleichzeitig sind die ökumenischen und interreligiösen Dialoge untrennbar mit den Anliegen um Gerechtigkeit und Frieden verbunden, was in erster Linie eine gerechte und dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts bedeutet. Nur dann kann Jerusalem seiner Berufung voll und ganz gerecht werden, Symbol und Versprechen der Brüderlichkeit und des friedlichen Zusammenlebens für die Menschheit zu sein, insbesondere für diejenigen, die sich als Kinder Abrahams betrachten: Juden, Christen und Muslime. Die Übersetzung aus dem Englischen von Eveline Ranhater, freundliche Genehmigung „Information Christlicher Orient“ Vorderansicht des Seminars St. Anna

12 2/2023 rstaunlich ist, dass sich gerade an diesem unzweifelhaft durch Jesu Wirken geheiligten Platz die Nachricht vom Haus der Großeltern Jesu, Joachim und Anna, und der Geburt Mariens festgesetzt und in einer Kirche der Gottesmutter konkretisiert hat. Das würde ja bedeuten, dass Jesus den Kranken in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauses seiner Großeltern geheilt hätte. Der Evangelist lässt davon nicht das Geringste verlauten. Doch kann man in Betracht ziehen, dass nach den Evangelien die Blutsverwandtschaft wenig zählte, man beachte etwa die scheinbare Zurückweisung Mariens bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,4). Diese Tradition kommt offensichtlich vom Protoevangelium („Vorevangelium“) des Jakobus her, einer legendenhaften Schrift aus der Zeit um 150 n. Chr., die von der Kirche nicht als Heilige Schrift anerkannt wird, in der Frömmigkeits- und Kunstgeschichte aber dennoch eine sehr große Rolle spielt. Diese Schrift legt Wohnort und Haus von Joachim und Anna, den Eltern Mariens, zwar auch nicht fest, setzt aber die Nähe des Tempels voraus. Und da nach dieser Erzählung Joachim ein wohlhabender Herdenbesitzer war, lag der Bezug zum Schafteich nahe. Man erklärte sich den Namen des Teiches damit, dass hier die Schafe gewaschen wurden, die für die Opfer im Tempel bestimmt waren. Auch theologische Erwägungen mögen eine Rolle gespielt haben, da ja Maria, die den Gottessohn Jesus unter ihrem Herzen trug, so zu einem Tempel Gottes geworden war, so dass die Nähe zum (jüdischen) Tempel Gottes nahelag. Historisch fassbare Zeugnisse über die Herkunft Mariens haben wir nicht – in den biblischen Evangelien werden nicht einmal die Namen ihrer Eltern erwähnt. Eine konkurrierende Tradition gibt es in Sepphoris, wenige Kilometer von Nazaret entfernt. Und vielleicht stammte sie ja auch aus Nazaret selbst, die Verkündigung könnte im Elternhaus der noch unverheirateten Maria stattgefunden haben. Die Kreuzfahrer jedenfalls störten sich nicht an der Doppeltradition, sie errichteten sowohl in Sepphoris als auch hier Kirchen, die der hl. Anna geweiht waren. Die St.-Anna-Kirche besticht durch ihre monumentale Schlichtheit: Die Kirche St. Anna am Teich Betesda Heinrich Fürst – Gregor Geiger Blick in das Innere der Kreuzfahrerkirche St. Anna E

2/2023 13 34x20 m – die Kuppel, 18 m hoch, ist für diese Zeit ein erstaunliches Unternehmen. Sie war der Geburt der Gottesmutter, die man in der Krypta verehrte, und damit der hl. Anna geweiht. Sie ist von den vielen Kirchen des Mittelalters im Heiligen Land eine der wenigen, die unversehrt erhalten blieb, und von ihnen wohl – zumindest für den nüchternen mitteleuropäischen Geschmack – die schönste. Daneben bestand ein Benediktinerinnenkloster, in das sich Königinnen und Prinzessinnen zurückzogen, aber nur die Kirche überdauerte die Zeiten. Ihre Erhaltung verdankt sie einem Dekret Saladins von 1192 nach der Einnahme Jerusalems. Es ist über dem Mittelportal angebracht und macht die Kirche zu einer muslimischen Koranschule. Seit dem Mittelalter war die Kirche somit für Christen unzugänglich. In der osmanischen Zeit schafften es die Franziskaner, wenigstens am Fest Mariä Geburt (8. September) gegen ein gutes Bakschisch in die Krypta der St.-Anna-Kirche zu gelangen und dort eine Messe zu feiern. Freilich blieb ihnen dabei der normale Weg durch die ehemalige Kirche – jetzt Koranschule – verwehrt, sie mussten sich durch ein schmales Fenster an der Südseite in die Krypta hinunterzwängen. (Man sieht dieses Fenster noch: wenn man in die Krypta hinabsteigt, rechts oben.) Ein aus heutiger Sicht positiver Nebeneffekt dieser muslimischen Nutzung ist, dass der Kirche Umgestaltungen des Barocks und der Romantik erspart geblieben sind. Nach der Schenkung an Frankreich (1856) und der Berufung der Weißen Väter wurde sie durch den Architekten C. Mauß mustergültig restauriert und ihrer ursprünglichen Bestimmung als Kirche zurückgegeben. 1967, bei der Eroberung der Altstadt durch Israel, wurde die Kirche beschädigt, konnte aber 1971 neueröffnet werden. Durch das Mittelportal von extremer, mönchischer Einfachheit tritt man in einen Raum ein, der beste Romanik mit Anklängen an die Gotik verbindet. Verzierungen fehlen zwar nicht ganz, sind aber so sparsam eingesetzt, dass man sie suchen muss. So ist die Kirche trotz ihrer drei Schiffe und der Kuppel von äußerster Schlichtheit – ein stilles Zeugnis dafür, wie unter den Kreuzfahrern das mönchische Armutsideal sehr wohl gepflegt wurde. Dazu passt der moderne Altar des französischen Bildhauers Philippe Kaeppelin (1954) gut. Er zeigt Szenen aus dem Marienleben: an der Vorderfront zwischen der Verkündigung (rechts) und der Geburt Jesu (links) den toten Jesus im Schoß seiner Mutter; an der rechten Seite die Darbringung Mariens im Tempel, Maria mit ihrer Mutter Anna auf der linken Seite. Neben der Optik, vielleicht noch mehr als diese, beeindruckt die Akustik der Kirche mit einem Nachhall von mehreren Sekunden. Aus einer Pilgergruppe wird im Nu ein Chor, und hat man das Glück, dort einen richtigen Chor singen zu hören, kann man sich kaum der Macht des gesungenen Gotteslobes entziehen. Im rechten Seitenschiff führen Treppen hinab in die Krypta. Diese, teils gemauert, teils aus natürlichem Fels, gilt mindestens seit Kreuzfahrerzeiten als Ort der Geburt Mariens. Kirche St. Anna Kirche St. Anna Maria Geburt, Krypta der St. Anna Kirche

14 2/2023 itus Tobler (1806–1877) trägt zu Recht den Titel eines „Pioniers der Palästinologie“, mehrere Reisen führten ihn in das Heilige Land, von denen er später in mehreren Büchern berichtet. Tobler war ein sehr aufmerksamer Beobachter besonders auch des täglichen Lebens und er gibt uns in seinen „Denkblättern aus Jerusalem“ aus dem Jahre 1853 eine anschauliche Beschreibung, wie es im Suk in der Altstadt von Jerusalem in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat. Zunächst definiert er das Wort „Suk“ so: Suk ist eine Marktgasse mit Krämer- und Arbeiterbuden… Die Franken (damit werden die Europäer gemeint) nennen gemeiniglich das Ganze Kaufhaus oder Basar. Im Folgenden wollen wir ein wenig seinen Ausführungen folgen, um das Aussehen dieser Altstadtstraßen von damals mit den heutigen Gegebenheiten zu vergleichen. Weitaus die meisten Gassen stehen unter freiem Himmel. Doch es gibt auch manche Gewölbe und Dächer, nicht bloß über den Markt- und Budengassen, sondern auch an anderen Orten… Dieses Merkmal fällt dem heutigen Besucher genau so auf wie damals: wenn man zum Beispiel vom Damaskustor in die Altstadt geht, kommt man zuerst auf einen recht großen, abschüssigen Platz, der südlich in die beiden Straßen des „Cardo“ mündet, welche dann über große Strecken überdacht sind. Im weiteren Verlauf des „Cardo“, schon in Höhe der Grabeskirche, verzweigt sich diese Straße in mehrere Gassen und Tobler schreibt: … gibt es drei gewölbte Marktgassen, neben einander, die von Süd nach Nord sich richten. Die westlichste von diesen Gassen heißt Suk el La hem oder, wie man es gewöhnlich aussprechen hört, Lachem, oder Fleischmarkt… Diese Straße, welche damals als Fleischmarkt bezeichnet wurde, ist auch gegenwärtig gut auszumachen: an der Ostseite der Erlöserkirche sich nach Süden hinziehend sind es in dieser Straße vor allem Fleischgeschäfte, die ihre Waren anbieten. Auch am Abend und in der Nacht, wenn alles geschlossen ist, kann man hier den unangenehmen Geruch ausmachen, denn die Reste wie Knochen und Felle bleiben einfach auf dem Pflaster liegen und locken natürlich allerlei Getier an. Tobler unterscheidet die im Suk tätigen „Krämer“ in vier verschiedene Gruppen: Die einen sind solche, welche an der Gasse oder in der Bude arbeiten, und ihre Industrieprodukte sogleich verkaufen, wie der Pfeifenverfertiger, der Pfeifenrohrdrechsler, die Schuhmacher, die Sattler u.a. Diese Handwerker schließen am Abend ihre Arbeitsstätte, verlassen sie, und ziehen über Nacht in ihre Wohnung, welche in geringerer oder größerer Entfernung abliegt. Die anderen Krämer besitzen Läden, wie die unsrigen, und befassen sich mit nichts Weiterem, als mit dem Verkaufe von Waaren. Während dort die Muße mit Arbeit ausgefüllt wird, kann man hier den Müßiggang wie im Abendlande treffen. Die dritten Verkäufer, meist Landleute, besitzen keine Buden, sondern postieren sich in eine Ecke, in einen Winkel, Im Suk von Jerusalem Petrus Schüler Typische Sukstraße T

2/2023 15 Suk von Jerusalem Suk von Jerusalem oder an die Seite der Gasse, während ihre Waaren auf dem Boden liegen. Wenn es wohl geht, verbreitet man einen Teppich auf dem Boden, und hockt darauf…… Die vierte Klasse bilden die ambulierenden Krämer, sei es, daß sie, was noch seltener, einen Gegenstand zur Schau haltend, die Gasse hin- und her-, rauf- oder abziehen … Im heutigen Suk von Jerusalem wird kaum mehr etwas hergestellt; man findet noch Schuh- und Gürtelmacher, einige Hersteller von Keramik und auch eine Sesam-Mühle. Aber die meisten Geschäfte werden von reinen Händlern betrieben. Grundsätzlich kann man sagen, dass zwei Personengruppen im Suk bedient werden: zum einen die Touristen und Pilger und zum anderen – besonders im Bereich des Cardo – die ländliche einheimische Bevölkerung (die besonders aus der Richtung des Damaskustores, wo sich die Busstationen befinden), die auf dem Weg zur Al AksaMoschee den Markt passieren und hier die Waren des täglichen Bedarfs, Lebensmittel, Bekleidung erwerben können. 50 Jahre nach Titus Tobler berichtet dann Konrad Sixt in seiner „Pilgerreise nach Rom und Jerusalem im Jubeljahre 1900“ vom Geschäftsgebaren der Händler gegenüber den bayerischen Pilgern: Die Geschäftswelt in Jerusalem lebt ja hauptsächlich von Anfertigung und Absatz von Pilger-Artikeln, weßhalb ihnen die fremden, kaufenden Pilger, gleichviel welcher Nation oder Religion diese angehören, stets willkommen sind. Die sehr schön gepreßten Blumenbilder, in deren Anfertigung die Araber eine besondere Geschicklichkeit haben, sowie Medaillen, Kreuze, Rosenkränze, Schnitzwaren, Ansichten, etc. etc., haben wir in größerer Menge erworben. Von den sehr zudringlichen Kaufleuten wurde man ohnedieß auf den Straßen stets an den Aermeln gezupft und mit den einladenden Worten „kute, kute Waare“ in den Laden geführt; einige Händler hatten es im Deutschen so weit gebracht, daß sie in recht steifer Weise ständig riefen: „Mein – Herr, – halbe – Preise“, dabei versuchten sie aber gar wohl, volle Preise herauszuschinden. Wie die Italiener, so sind auch die Araber unverschämt im Vorbieten (Feilschen), worauf wir wiederholt aufmerksam gemacht wurden. … Die Pilger die vorzeitig einkauften, sind manchmal hübsch hereingefallen … Daran hat sich auch heute noch nicht viel geändert: der Händler im Suk setzt das Feilschen voraus und kann sich nicht vorstellen, dass das für Europäer anstößig sein könnte. In „Meyers Reisebücher Palästina und Syrien“ aus dem Jahre 1907 finden wir dann auch schon eine gewisse Anleitung, wie man sich am besten beim „Feilschen“ verhält: Wer ohne die Landessprache zu kennen größere Einkäufe im Basar machen will, tut gut, dazu einen sprachkundigen Begleiter oder einen Dragoman mitzunehmen. Beim Handel kann man sicher sein, daß der Verkäufer als geforderten Preis das Doppelte, wenn nicht das Mehrfache des wahren Wertes nennt; man nenne ohne Scheu als Gegengebot ein Viertel oder ein Drittel der geforderten Summe… Bei großer Hartnäckigkeit des Händlers beschleunigt es manchmal den Abschluß, wenn man sich kurz zum Gehen wendet und auf eine benachbarte Bude zuschreitet. Macht der Verkäufer keine Anstalten den Käufer zurückzurufen, so ist das ein Zeichen, daß das letzte Gebot hinter dem wirklichen Werte der Sache zurückblieb. Im allgemeinen muss sich der reisende darein finden, daß er viel zu teuer kauft … Gemüseverkauf am Damaskustor

IM LAND DES HERRN 16 2/2023 Ein anderer „Trick“ der Händler: interessiert sich ein Tourist am Anfang einer Marktstraße für ein bestimmtes Produkt, rufen sich die Händler halblaut das Wort für dieses Produkt zu, zum Beispiel „Sandale“. Der Kunde wird sich wundern, wenn in den nächsten Geschäften auf einmal die Sandalen in der ersten Reihe zur Auswahl stehen. Für Pilger aus Europa interessant sind die „Mitbringsel“ und da bietet sich im Suk der Kauf von Keramik an. Man sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass die in den Buden angepriesene Ware meistens aus Massenproduktion stammt und wenig originell ist – wenn man etwas Höherwertiges erwerben möchte, bieten sich die meist armenischen Keramikstudios an. Als Tobler die Heilige Stadt besuchte, gab es im Suk noch keinen nennenswerten Devotionalienhandel außer einigen wenigen Buden im Bereich der Grabeskirche; Konrad Sixt berichtet dann schon von Rosenkränzen, Blumenbildchen, Medaillen und anderen Schnitzereien. Im Jahre 1883 hat sich das Angebot der Waren für den Pilger schon auffällig verändert: … Dagegen findet der Pilger die reichste Auswahl der gewünschten Devotionalien: Rosenkränze in allen Sorten und Größen, Kreuze aus Perlmutter und Olivenholz, Blumenbilder in den mannigfaltigsten Zusammensetzungen, kurz, Jerusalem producirt außer den religiösen Andenken nicht e i n e n nennenswerthen Artikel für den Export ins Ausland…… („Pilgerreise eines Kölners von Venedig nach Jerusalem und Rom 1883“) Bei den heutigen Rosenkränzen handelt es sich meist um Ware aus Betlehem und es lohnt, einige Euro mehr zu zahlen, wenn die haltbareren Rosenkränze aus Olivenholz angeboten werden. Auch beim Einkauf von Weihrauch kann man hier nicht viel falsch machen: fast immer handelt es sich um griechischen Weihrauch oder von griechischen Mönchen im Land hergestellten Weihrauch. Viele Artikel sind speziell für orthodoxe Gläubige im Angebot, darunter die wohlriechenden Öle, meist Narde, mit denen orthodoxe Pilger den Salbungsstein in der Grabeskirche benetzen. Was Tobler uns über die Pausen der Suk-Händler berichtet, hat sich bis heute nicht wesentlich verändert: „Das Essen nimmt der Krämer in der Regel außer dem Laden zu sich. Ein Kaffeewirth bringt ihm allenfalls eine Schale von Kaffee; wenn er aber das Mittagsmahl halten oder in das Gotteshaus gehen will, schließt er entweder die Bude, und er ersucht seinen Nachbar, daß er Acht gebe, oder er setzt Jemand provisorisch an seine Stelle…“ Dieses Bild bietet sich auch dem heutigen Besucher: der Laden wird mit einem Seil oder ähnlichem etwas versperrt, bis der Besitzer aus der Moschee oder dem Kaffeehaus zurückkehrt. Was sich allerdings in den letzten Jahren völlig verändert hat, sind die „Öffnungszeiten“: unsere älteren Franziskaner berichten, dass noch bis vor ca. 50 Jahren die Läden Verkäufer von Süßigkeiten um 1900 ©Dia Archiv München

2/2023 17 schon „beim ersten Hahnenschrei“, gegen 4 bis 5 Uhr öffneten. Natürlich spielt sich für die arabischen Bewohner der Altstadt das soziale Leben viel mehr als für Europäer auf der Straße ab. So sieht man die männlichen Jugendlichen („Shebab“) zusammen beim Rauchen der Wasserpfeife oder beim Warten vor dem Friseurladen. Weniger frequentiert werden von Einheimischen die Restaurants im Suk, denn das sind Orte für Touristen und Pilger. Einheimische holen aber gern gewisse Lebensmittel nach Hause, zum Beispiel „Hummus“ (Kirchererbsenmus) oder Falafel. In den ersten Artikeln dieser Zeitschrift ging es um den Teich Betesda und die Kreuzfahrerkirche St. Anna. Über dem Hauptportal der St. AnnaKirche beim Teich Betesda verkündet die arabische Inschrift, dass nach einem Dekret Saladins aus dem Jahre 1192 das Gebäude als Koranschule diente. Dem aufmerksamen Betrachter fallen die lateinischen Buchstaben am oberen linken Rand ins Auge: (San)CT(a) ANNA. Die gleiche Inschrift aus der Kreuzfahrerzeit ist noch mehrere Male im Suk zu finden: geht man am Abend (nach „Geschäftsschluss“) östlich der Grabeskirche in das Gewirr des Suk, so kommt man nach Überquerung des „Cardo“ (Haupteinkaufsstraße) nach wenigen Metern in die Straße „Al-Attarin“ (wörtlich: „Gewürz-Markt“) zu einem Kreuzfahrer-Gewölbe mit kleinen Läden auf beiden Seiten. Dort sieht man, wenn die Läden verschlossen sind, noch mehrere Male die gleiche lateinische Inschrift, wie hier im Bild zu sehen. Die so bezeichneten Läden waren Eigentum des Frauenklosters St. Anna und somit an dieses abgabepflichtig. Dass diese Inschriften nach so langer Zeit noch deutlich zu sehen sind, liegt daran, dass diese Markthalle im Laufe der Jahrhunderte mit Schutt angefüllt wurde. Heute befinden sich in dieser eher ruhigen Straße des Marktes vor allem Bekleidungsgeschäfte für die einheimische Bevölkerung. Verwendete Literatur Titus Tobler „Denkblätter aus Jerusalem“ St. Gallen und Konstanz, 1853 Konrad Sixt „Pilgerreise nach Rom und Jerusalem im Jubeljahre 1900“ Selbstverlag des Verfassers, 1901 Meyers Reisebücher Palästina und Syrien“ Leipzig und Wien 1907 Pilgerreise eines Kölners von Venedig nach Jerusalem und Rom vom 4.April bis 29. Mai 1883, Köln 1883 Wasserpfeifencafe im Suk Arabische Inschrift über einem Eingang der St. Anna-Kirche, links oben die Inschrift „Sankt Anna“ Zwei Beispiele der lateinischen Inschriften von St. Anna im Suk Suk von Jerusalem Suk von Jerusalem

18 2/2023 as sind die größten Herausforderungen unter der Regierung von Benjamin Netanjahu? Pizzaballa: Netanjahu selbst ist als Premierminister in Israel keine Schlagzeile wert, die aktuelle Regierungskoalition dagegen schon. Als katholische Bischöfe haben wir bereits Stellung bezogen, als die Regierung gerade erst gebildet wurde: „Wir möchten unsere Besorgnis äußern über den politischen Kontext, in dem diese Regierung gebildet wird, und über die allmähliche Verschlechterung der allgemeinen sozialen und politischen Situation im Heiligen Land. Einige Äußerungen von Mitgliedern der Regierungskoalition sind höchst ambivalent gegenüber der arabischen oder insgesamt nichtjüdischen Gesellschaft. Sie widersprechen dem Geist eines friedlichen und konstruktiven Zusammenlebens der verschiedenen Gemeinschaften, die unsere Gesellschaft bilden. Solche Aussagen begünstigen diejenigen in diesem Land, die eine Spaltung herbeiführen wollen. Sie schaffen Misstrauen und Ressentiments. Sie legen den Grundstein für weitere Gewalt. Eine weitere Herausforderung ist der altbekannte israelisch-palästinensische Konflikt. Auch wenn kaum noch jemand darüber spricht, brennt die Wunde und muss versorgt werden. Sie nicht weiter zu beachten führt ebenfalls zu Gewalt, wie wir in diesen Tagen wieder sehen.“ Wir Bischöfe haben in dieser Stellungnahme hinzugefügt: „Gewalt ist die Konsequenz eines tiefen Misstrauens und vielleicht sogar Hasses, der sich einwurzelt in den Herzen der beiden Bevölkerungsgruppen, Israelis und Palästinenser. Es ist die Verantwortung eines jeden, vor allem der religiösen und politischen Führer aller Konfessionen, gegenseitig Respekt zu fördern und nicht Trennung oder gar Hass.“ Welchen Bedrohungen sind Christen ausgesetzt? Pizzaballa: Christen stellen kein separates Volk dar. Sie leben unter den gleichen Bedrohungen wie alle anderen auch. Kürzlich mussten wir einige Übergriffe von israelischen Siedlern auf christliche Symbole und heilige Stätten verzeichnen, auf Friedhöfe, Kirchen, und auf Geistliche. In den letzten Wochen verzeichneten wir eine Serie an Übergriffen. Einige Touristen wurden von einer Gruppe israelischer Siedler angegriffen. Die Siedler drangen über das Neue Tor in das christliche Viertel Jerusalems ein und verwandelten es in ein Schlachtfeld. Ein christlicher Friedhof in Jerusalem wurde verwüstet. Graffiti wie „Tod den Christen“ auf den Mauern eines Klosters im armenischen Viertel werden schon fast zur Gewohnheit. Ein maronitisches Zentrum in Nordisrael wurde ebenfalls verwüstet. Leider ist all das nicht neu. Manchmal spüren wir Spannungen mit muslimischen Gruppen. Aber ich muss betonen, dass es mit der Mehrheit der Bevölkerung, muslimisch oder jüdisch, keine ernsthaften Schwierigkeiten gibt. Unsere Sorge gilt der Zunahme gewaltbereiter, radikaler reliInterview mit dem Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa Gefährliche Regierungskoalition W

2/2023 19 giöser Gruppen, die christliche Einrichtungen ins Visier nehmen. Arbeiten die christlichen Konfessionen zusammen gegen die Angriffe auf die Demokratie – und wer sind die Bündnispartner? Pizzaballa: Wie gesagt: Die Christen sind kein separates Volk. Sie sind Teil der Gruppen, Bewegungen und Vereinigungen, in denen sie arbeiten: Anwaltskanzleien, Krankenhäuser, Universitäten. Es ist wichtig, dass Christen teilnehmen am allgemeinen Widerstand, nicht als isolierte Gruppe, sondern als Teil ihrer eigenen Gesellschaft. In einem Kontext, in dem es als normal angesehen wird, Barrieren aufzurichten, physische und mentale, sollte es unsere Priorität sein, uns für Inklusion, Teilhabe und Offenheit einzusetzen. Inwiefern werden langfristige Herausforderungen vernachlässigt? Wasserknappheit, Umweltschutz, Bevölkerungswachstum oder die Bedrohungen durch den Iran, die Hisbollah, Russland, Syrien? Pizzaballa: Jeder hier ist so gefangen in der alltäglichen Mühsal, dass es sehr wenig Aufmerksamkeit für andere wichtige Themen gibt – und das ist sicherlich falsch. Der Konflikt absorbiert alle Energien und lässt kaum mentale Kapazitäten übrig für die langfristigen Angelegenheiten. Wenn es große Krisen gibt, dann engagieren wir uns natürlich, wie gerade bei dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Aber nach ein paar Tagen lassen uns die alltäglichen Auseinandersetzungen wieder zurück in unsere „Normalität“ kehren. Mit freundlicher Genehmigung der „HerderKorrespondenz“, die Fragen stellte Hilde Naurath Der Lateinische Patriarch von Jerusalem bei einem Besuch in Ainhofen, Oberbayern Interview Interview

20 2/2023 n der letzten Ausgabe unserer Zeitschrift erschien ein Artikel über die Taufkapelle in Nazaret; direkt daneben befindet sich ein sehenswertes Museum mit archäologischen Fundstücken. Darunter sind fünf romanische Kapitelle aus der Kreuzfahrerzeit, die erstaunlich gut erhalten sind. Grund dafür ist, dass diese Kapitelle am Ende der Kreuzfahrerzeit in Sicherheit gebracht worden sind, indem man sie im Sand der unterirdischen Grotten vergraben hat. Die plastischen Darstellungen wirken auf den ersten Blick modern, denn sie sind optisch „verzerrt“, weil sie von unten und aus einer gewissen Entfernung betrachtet werden sollten. Bis auf ein Kapitell sind es immer Apostel die dargestellt sind (Thomas, Petrus, Jakobus und Matthäus). Ein Kapitell hat die Kirche zum Thema, welche einen Apostel sanft zur Verkündigung antreibt, während die Dämonen das zu verhindern versuchen. Dieses erste Kapitell soll in diesem Beitrag betrachtet werden. Das Heilige Land umfasst nicht nur großartige Landschaften und eindrückliche Geschichten, sondern es lebt auch von noch so vielen Kleinigkeiten, die Tiefes auszudrücken vermögen und die man zuerst einmal entdecken muss. So gibt es in Nazareth im „Terra Sancta Museum“ (Nazareth Antiquarium) des franziskanischen „Studium Biblicum“ eine ganze Reihe von eindrücklichen Säulenkapitellen vom 12. bis 13. Jahrhundert, aus der Kreuzritterzeit. Diese Kapitelle stellen mehrheitlich Apostel dar, die die Kirche begründet haben und die mit ihren Lebensgeschichten und Erfahrungen wie Säulen in der Kirche stehen und diese mittragen. Eines dieser Kapitelle möchte ich auswählen, um so einen deutenden Blick auf den christlichen Glauben in unserer Zeit werfen zu können. Von Dämonen umgeben Die zwei zentralen Personen des Kapitells sind umgeben von zwei Dämonen, die aus dem Hinterhalt heraus mit Pfeilbogen auf sie zu schießen versuchen. Die Welt wird damit nicht nur als schöner Ort dargestellt, sondern im Leben des Menschen stellen wir immer wieder boshafte Angriffe fest, die – nach der Deutung des Kapitells – letztlich von den Dämonen des Bösen herkommen. Die Dämonen verstecken sich, so dass sie nicht gleich erkannt werden können und ihre Pfeile können so als menschliches Unglück erlebt werden. Aus dem Hinterhalt versuchen sie die Menschen zu bedrohen und anzugreifen, damit diese in Angst geraten und schließlich verletzt und vielleicht sogar getötet werden. Versteckt ist das Böse in der Welt gegenwärtig. Der erschrockene Apostel Ein Jünger oder ein Apostel steht im Zentrum der Darstellung. Es könnte vermutlich Petrus Der erschrockene Apostel Paul Zahner I Frontansicht Kapitell © Igor Hollmann

2/2023 21 Erschrockener Apostel Erschrockener Apostel selber sein, der auf anderen Kapitellen dargestellt ist. Petrus steht ganz erschrocken da: mit gebeugten Knien wie ein „Angsthase“, nicht vorwärtsgehend, erschreckt seinen eigenen Gürtel festhaltend und es scheint, dass er gleich wegrennen möchte. Sein Gesicht scheint den Schrecken zu sehen und gelähmt zu werden. Ist das nicht ein Bild der Kirche, wie wir sie auch heute noch öfters erleben? Sie weiß nicht immer wo sie steht und möchte am liebsten angesichts all der Probleme davonrennen. Dass auch Petrus, der Leiter der ganzen Kirche, der „Fels“ in der Kirche, so dasteht, ist sehr eindrücklich. Die Angst und der Schrecken ist Teil seiner Wirklichkeit. Und Schrecken und Angst gehören auch zur Kirche damals und heute dazu. An der Hand von Mutter Kirche Vor dem Apostel steht eine weitere Person, offensichtlich eine Frau. Sie trägt eine Krone und ist würdevoll angezogen. In der Hand hat sie einen Wanderstab, einen Pilgerstab, der sie stützt und weiterführt. Mit ihrem Arm ergreift sie die Hand des Petrus und zieht diesen von Angst gelähmten Apostel vorwärts. Diese Frau muss offensichtlich Mutter Kirche sein, die ihren Weg ohne Furcht von der Gegenwart in die Zukunft geht. Den irdischen Leiter dieser Kirche, Petrus, hält sie dabei an der Hand und führt ihn. Seine Angst lässt den Apostel nicht selber vorwärts gehen, sondern er wird vorwärts geführt, vielleicht vorwärts gezogen und muss sich Mutter Kirche anvertrauen. Ohne diese Führerin würde er sich in der nächsten Höhle verstecken, um nicht angegriffen und verwundet zu werden. Die gelähmte irdische Kirche muss von Mutter Kirche aus ihrem Angstzustand herausgerissen werden. Die wandernde und pilgernde Kirche Die Kirche ist wandernd und wie eine Pilgerin in den Zeiten unterwegs. Das ist eine zentrale Aussage dieser Darstellung und ein Wesenselement der Kirche schlechthin. Und die Kirche kann und darf Angst haben, weil sie sich bedroht und unverstanden fühlt. Gerade die „Amtsträger“, die Offiziellen dieser Kirche haben vielleicht sogar am meisten Angst und verstecken sich oft hinter diplomatischen Reden, die nichts wirklich besagen wollen und wie Ausreden wirken. Aber die ängstlichen Amtsträger von damals und heute sind nicht alleine, sondern sind begleitet von der vorwärtsgehenden Kirche, die ohne Ängste ihren Weg pilgernd durch alle Zeiten geht. Besteht diese Kirche nicht aus der heiligen Kirche, die pilgernd im Heute voranschreitet, und aus der sündigen Kirche, die hilflos in der Welt steht, von Angst gelähmt ist und sich zu verstecken sucht? Wie sagen doch die Kirchenväter so spitz und unangenehm, dass die Kirche gleichzeitig Braut und Hure ist, weil sie die beiden Elemente in ihr als gegenwärtig erkennen. Wenn aber beide Elemente zusammen arbeiten und Hand in Hand zu gehen vermögen, wenn die hoffnungsvolle Pilgerfahrt zusammen mit der angstbesetzten Lähmung da sein darf, kann letztlich nichts passieren. So dürfen wir die Kirche als heilig ehren und gleichzeitig ihre irdischen Fehler erleben und erleiden. Dann erst wird sie zur wirklichen Mutter Kirche. Es ist mir sehr eindrücklich, dass ein Kapitell des Heiligen Landes aus dem 12. oder 13. Jahrhundert zu solchen Aussagen führen können, die uns auch heute noch gleichzeitig erschüttern und ermutigen können. Bleiben wir glaubende Pilger durch unser Leben hindurch. Seitenansicht Kapitell © Raynald Wagner

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