10 2/2023 ter, 1878, brach die erste Karawane mit „Weißen Vätern“ nach Ost- und Zentralafrika auf. Im selben Jahr trafen die „Weißen Väter“ aber auch in Jerusalem ein. Lavigeries „Weg nach Damaskus“ Die Vorgeschichte dazu: In seiner Funktion als Direktor des heutigen „L’Œuvre d’Orient“ in Paris unternahm Lavigerie 1860 einen dreimonatigen Besuch im Libanon und in Syrien. 1860 waren viele örtliche christliche Gemeinden bzw. Christen von Drusen massakriert worden. (Den Massakern war in Damaskus u. a. der selige Tiroler Franziskanermissionar Engelbert Kolland zum Opfer gefallen.) Lavigerie wollte helfen und dieser Besuch hat ihn tief und nachhaltig beeindruckt. Einige Jahre später wird er sagen, dass er dort seine missionarische Berufung gefunden hat, seinen „Weg nach Damaskus“. Seitdem haben ihn das Interesse und die Sorge um den christlichen Osten nicht mehr losgelassen. Sobald er also eine Möglichkeit fand, seine Missionare nach Jerusalem zu entsenden, zögerte er nicht und gab ihnen klare Anweisungen, ähnlich denen, die er seinen Missionaren in Afrika gab: „Alles für alle“ zu werden (1 Kor 9,19), wobei die Sprache und die Lebensweise der lokalen Bevölkerung so weit wie möglich übernommen werden sollte. Im Osten bedeutete das für Lavigerie die volle Achtung der östlichen Kirchen und Traditionen, ihrer liturgischen Riten und Theologie. Für ihn bestand darin auch die einzige Möglichkeit, die Einheit zwischen Osten und Westen zu fördern. In diesem Punkt war er ein Pionier seiner Zeit, als von vielen katholischen Missionaren die Latinisierung noch stark gefördert wurde. Wie in seiner Vision von Afrika bestand er auch nachdrücklich auf der Ausbildung von örtlichen Priestern, und in diesem Sinne stimmte er 1882 zu, dass seine Missionare die Leitung des neuen Seminars für die melkitischen griechischkatholischen Priester übernahmen. Als Folge der Besatzung Ost-Jerusalems durch Israel wurde das St. Anna Priesterseminar 1967 in den Libanon verlegt. Während der 85-jährigen Tätigkeit in Jerusalem kamen etwa 350 Priester aus diesem Seminar, darunter etwa 40 Bischöfe und 3 Patriarchen. Die Früchte der Ausbildung in diesem Seminar wurden beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) deutlich sichtbar, wo die griechisch-katholischen Bischöfe die aktivsten Verfechter der Rechte und Privilegien der katholischen Ostkirchen waren. Gleichzeitig breitete sich der Einfluss von St. Anna weit über die Mauern des Priesterseminars aus. Fr. Pierre Michel, Professor am Priesterseminar, brach beim Eucharistischen Kongress 1893 in Jerusalem eine Lanze für die östlichen Traditionen. Sein Appell führte 1894 zur Veröffentlichung der En- zyklika „Orientalium Dignitas“ durch Papst Leo XIII., ein echter Meilenstein in der Anerkennung der Würde der Ostkirchen. Ein ehemaliger Professor am Seminar, Fr. Antoine Delpuch, spielte 1917 eine zentrale Rolle bei der Gründung der Kongregation für Studenten der Weißen Väter © Bouwen IM LAND DES HERRN
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