Im Land des Herrn | 77. Jahrgang | 2023 - 2

2/2023 27 er eine Reise in das „russische“ Heilige Land antreten will, sollte dort zuerst die Wurzeln der russischen Präsenz freilegen. Denn diese Präsenz bezieht sich einerseits auf den russischen Staat, andererseits auf die russische Bevölkerung. Genauer gesagt, auf die russisch- und slawischsprachige Bevölkerung. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hatte verschiedene Bevölkerungsgruppen unter einer einzigen Flagge vereint, der der UdSSR. Nun steht jede Gruppe für sich, stammt aber aus demselben geographischen und kulturellen Raum. Es gibt Russen, Ukrainer, Belarussen, Moldawier usw. Diese beiden Realitäten, die Präsenz des russischen Staates und die der russischsprachigen Bevölkerung, beeinflussen heutzutage in unterschiedlichem Maße das soziale, wirtschaftliche und politische Leben in der Region. Das 19. Jahrhundert als Matrix der Präsenz des russischen Staates im Hl. Land In der Mitte des 19. Jahrhunderts ließen sich die Großmächte in Palästina nieder. Wie Frankreich, Großbritannien und Österreich wollte selbstverständlich auch das Russland des Zaren Nikolaus I. dieses Gebiet prägen, das damals unter osmanischer Herrschaft stand (nach einer kurzen Episode von 1832 bis 1841 unter ägyptischer Herrschaft). Der Historiker Henry Laurens bezeichnet diese Zeit als „Erfindung“ des Hl. Landes: darunter muss man seine geographische Erfindung als territorialen und nicht mehr nur als spirituellen Raum verstehen. Nacheinander entstanden religiöse Institutionen und diplomatische Vertretungen. Für Russland wurde der erste Schritt 1847 mit der Einrichtung einer kirchlichen Mission in Jerusalem vollzogen. Ihre Ziele unterschieden sich nicht von denen ähnlicher Institutionen: Der orthodoxen Kirche ging es darum, eine Vertretung beim griechisch-orthodoxen Patriarchat in Jerusalem zu haben und den Pilgern aus Russland eine Anlaufstelle zu bieten. Die Historikerin Elena Astafieva betont aber, dass die russische Präsenz im Gegensatz zu der von Frankreich oder England ihre Einzigartigkeit hervorheben wollte. Denn zu einer Zeit, in der Ideologien wie der Liberalismus und der Sozialismus entstanden, blieb Russland von Religiosität durchdrungen. Zar Nikolaus I. selbst war den heiligen Stätten, insbesondere der Grabeskirche, sehr verbunden. Deswegen begann Russland neue Ländereien zu kaufen, während sich andere Länder darauf beschränkten, Vertretungen und Missionen zu eröffnen. Diese Politik hat heute noch Folgen, da Putin immer wieder die Rückgabe dieser Kirchengüter fordert. Im 19. Jahrhundert reisten jährlich einige hundert französische Pilger nach Palästina, aus Russland waren es bis zu 7000. Diese massive Präsenz war kein Zufall: Die russische orthodoxe Kirche Das „russische“ Gesicht des Heiligen Landes Russland und Russischsprachige im Heiligen Land: zwei Realitäten, zwei Geschichten Karine Eysse W

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