Im Land des Herrn | 77. Jahrgang | 2023 - 2

30 2/2023 ie Ankunft von einer Million Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren hat in Israel die Definition der jüdischen Identität in Frage gestellt. Interview mit Julia Lerner, Anthropologin an der Ben-GurionUniversität des Negev. In Israel besteht die russischsprachige Bevölkerungsgruppe mehrheitlich aus Menschen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren einwanderten. Inwieweit hat ihre Herkunft ihr Verständnis des Judentums beeinflusst? Bei den meisten Menschen, die sich als Juden bezeichnen, sind die ethnischen und religiösen Aspekte ihrer Identität eng miteinander verbunden. Aber der Sowjetismus schuf eine Trennung zwischen dem Judentum und seiner religiösen Komponente, die sich sogar in der russischen Sprache widerspiegelt: „Jude sein“ bedeutete Mitglied einer ethnischen Gruppe zu sein (hebräisch „evrei“) und nicht einer Religionsgemeinschaft („iudei“). Nach 70 Jahren Sozialismus meinten die meisten in Großstädten aufgewachsenen sowjetischen Juden, sie seien Atheisten oder Agnostiker. Andere hatten Nicht-Juden geheiratet oder waren zum Christentum konvertiert. Der ethnische Stolz der Juden in der Sowjetunion beruhte auf ihren großen beruflichen und intellektuellen Erfolgen. Ihr persönliches Pantheon hatte nicht viel zu tun mit den Rabbinern und den jüdischen Weisen, eher mit den russischen Nobelpreisträgern, Dichtern, Künstlern und Forschern jüdischer Herkunft. Als die UdSSR implodierte, nahm Israel mehr als eine Million Einwanderer auf und verlieh ihnen sofort die israelische Staatsbürgerschaft aufgrund des Rückkehrgesetzes. Bald stellte sich die Frage, wie authentisch ihre jüdische Identität sei. Waren sie Israel nicht jüdisch genug? In Israel war das Jüdisch-Sein schon immer eine heikle Frage. Die Einwanderungspolitik Israels ist sehr offen: Nach dem Rückkehrgesetz hat jeder, der jüdische Großeltern hat, Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft. Aber Zwischen Ethnizität und Religion: Was heißt „Jude sein“? Cécile Lemoine D Russische Buchhandlung in Jerusalem ©MAB CTS

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