2/2023 35 er Archivar und Paläograph Clément Dussart untersucht die lateinischen Inschriften, die im Mittelalter von Pilgern im Heiligen Land hinterlassen wurden. Von der Grabes- bis zur Geburtskirche erstreckt sich eine noch unerforschte Welt, in der persönliche Geschichten von der Weltgeschichte erzählen. Der Forscher, der sein Metier versteht, hat immer eine Lampe in der Hand. In der Geburtskirche in Betlehem spielt Clément Dussart mit der Neigung des Lichtstrahls, um die Unebenheiten eines ganzen Wandabschnitts in einem stillgelegten Raum des armenischen Klosters erkennbar zu machen. Vielleicht hat ein Pilger eine Inschrift hinterlassen oder seinen Namen eingeritzt? Mit seiner Erfahrung kann er die Details einordnen, die herausstechen: Dieser Wandabschnitt weist kein Graffiti auf. Wenn er eines finden würde, wäre es eine beispiellose Entdeckung. Um jeden Quadratzentimeter sorgfältig zu durchkämmen, zögert er nicht, über Schuttberge in dem gewölbten Raum zu klettern. Diesem modernen Indiana Jones fehlt es nicht an Stil: Er trägt eine leuchtend rote Hose. Seine Begeisterung ist spürbar: „Die Herausforderung besteht darin, Inschriften zu entziffern, die noch nie entschlüsselt worden sind.“ Clément Dussart ist als Doktorand an der Universität Poitiers eingeschrieben und nimmt am Projekt GraphEast teil. In seiner Doktorarbeit geht es um die Schriftarten in den Heiligen Stätten, wobei der Fokus auf den lateinischen Inschriften liegt, die zwischen dem 11. und dem 16. Jahrhundert im Heiligen Land von Pilgern hinterlassen wurden. Das Gebiet, das es zu erforschen gilt, ist riesengroß. Früher, als sie noch für reinen Vandalismus standen, wurden die Graffiti von der Forschung ignoriert. Erst in jüngster Zeit, parallel zur Entwicklung der Street-Art, nahmen manche Historiker den Reichtum dieser Schreibpraxis wahr, der in Pilgerstätten eine besondere Bedeutung zukommt. Die Geburtskirche ist unter allen Heiligtümern im Heiligen Land der Ort, an dem die meisten Graffiti gefunden wurden. „Wenn der Akt des Einritzens verboten gewesen wäre, gäbe es nicht so viele – und von so guter Qualität“, erklärt Estelle Ingrand, Spezialistin der mediävistischen Epigraphik und Leiterin des Forschungsinstituts Graph-East. Fromme Hände haben Graffiti auf Säulen oder Mauern hinterlassen: Sie sind in lateinischen, arabischen, griechischen oder armenischen Buchstaben eingraviert. Die Verflechtung von Epochen und Alphabeten ist so komplex, dass die Graffiti schwer zu entziffern sind. Die einzigen Arbeiten auf diesem Gebiet sind Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden. Der Franziskaner Emérico Vicente Juhász hat 1949 und 1950 36 Wappen und 70 Inschriften in lateinischen Buchstaben aufgelistet. „Das ist aber sehr lückenhaft. Es gibt noch Hunderte andere. Damals waren die Säulen verschmutzt und die Erhebungstechniken nicht so wie heute“, bemerkt Clément Dussart. Er hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, eine umfassende Bestandsaufnahme zu erstellen. Diese ist notwendig, um das Phänomen an sich und seine Bedeutung für drei Kirchen zu verstehen: die Grabeskirche, die Geburtskirche und die in Ramla. Von März bis September 2022 weilte der Forscher in Jerusalem, wo er von besseren ArbeitsbedinBeruf: Graffiti-Jäger Cécile Lemoine D
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