2/2023 7 Die meisten Erklärer betrachten diese hübsche Miniatur als einen späteren folkloristischen Eintrag. Ein evangelikaler (konservativer) Exeget dankt sogar Gott dafür, dass die Episode nicht in der älteren Überlieferung steht. Sie rieche nämlich zu stark „nach Heidentum und religiösem Aberglauben“ und gehöre daher nicht ins Evangelium. Man könnte dieses Argument aber auch umkehren. Frühe Schreiber nahmen schon Anstoß an dem Textstück und ließen es daher aus. Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder, bekannt durch sein Schauspiel „Unsere kleine Stadt“, verfasste 1928 eine Serie von wirklich sehr kurzen Mini-Dramen. Eins davon trägt den Titel „The Angel that Troubled the Water”, der Engel, der das Wasser aufrührte, frei nach Joh 5. Wilder hatte offensichtlich in seiner englischen Bibel das Zwischenstück noch gelesen. Vielleicht sollte man es doch wieder in den Text aufnehmen, auch in den Lektionarien, meinetwegen in eckigen Klammern, weil es mehr Farbe in die Erzählung hineinbringt. Von der Textkritik zur Theologie Das war eine Exkursion in eine Grundlagendisziplin der neutestamentlichen Exegese, die Textkritik, die sich um den ältesten erreichbaren Textbestand kümmert. Unsere Perikope aus Joh 5 konfrontiert uns allerdings mit weiteren Herausforderungen nicht zuletzt theologischer Art. Die Sabbatkontroverse, die sich hier entspinnt und sich weit in das 5. Kapitel hinzieht, werde ich nicht diskutieren. Das würde uns zu einer Diagnose führen, zu der man auch in anderen verwandten Fällen gelangt. Den jüdischen Gegnern Jesu wird professionelle Deformation unterstellt, während der christliche Erzähler eine Tendenz hat, jüdisches Verhalten zu karikieren (das Herumtragen einer Bahre, die im Grunde nur eine Matte war, zum Gesetzesverstoß zu stilisieren wirkt nahezu lächerlich, ebenso der Versuch, Jesus als Auftraggeber dafür zur Rechenschaft zu ziehen). Ein echtes Fragezeichen ergibt sich hinsichtlich des Charakters des Mannes, der geheilt wurde. Nachdem er Jesus im Tempel identifiziert hatte (V. 14), geht er zurück zu den jüdischen Autoritäten und sagt zu ihnen: „Es war Jesus“. Das sieht nicht gut aus, sondern wirkt wie eine gezielte Denunziation, durch die der Mann zugleich die Verantwortung für die Verletzung des Sabbats von sich abwälzen will. Dass man „er sagt zu ihnen“ in V. 15 auch übersetzen könnte mit „er verkündigte ihnen“, dürfte ihn kaum schon zu einem christlichen Verkünder und Bekenner machen. Im besten Fall verhält er sich begriffsstutzig und naiv. Im schlimmsten Fall geriert er sich als Petzer („whistle-blower“) und Klatschmaul („tattletale“). So oder so legt der lahme Mann – das Wortspiel sei erlaubt – eine lahme Reaktion auf seine Heilung an den Tag. Die theologische und pastorale Hauptfrage Das führt uns zu dem hauptsächlichen theologischen, aber fraglos auch pastoralen Problem, das dieses Evangelium uns aufgibt. Jesus sagt zu dem Mann bei der Begegnung im Tempel in V. 14: „Sündige nicht mehr, damit dir nicht noch etwas Schlimmeres widerfährt“. Ist das etwa ein eindeutiger Beleg dafür, dass Krankheit als Strafe Gottes für persönliche Sünden aufgefasst werden sollte? In der gesamten Antike und auch in der Bibel war das tatsächlich zum Teil der Fall. Meine erste Antwort wäre die: Blicken wir im Evangelium voraus auf das 9. Kapitel. Dort begegnet Jesus einem Mann, der blind geboren wurde, was die Jünger zu der Frage provoziert, ob der Mann selbst gesündigt habe (vor seiner Geburt, wohlgemerkt!) oder ob es seine Eltern waren, die dies taten, ebenfalls eine bekannte Denkfigur (vgl. nur Ex 20,5: „Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation…“; Solon [griech. Gesetzgeber]: „schuldlose Kinder oder die Enkel sogar büßen die frevelnde Tat“). Jesus antwortet: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden“ (9,3). Die etwas rätselhafte zweite Hälfte dieses Wortes meint in etwa: Der individuelle Fall des Teich Betesda Teich Betesda
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