Im Land des Herrn | 77. Jahrgang | 2023 - 3

Franziskanische Zeitschrift für das Heilige Land 77. Jahrgang 2023 / Heft 3

er Tempelberg in Jerusalem, heute in Arabisch „Al-Haram AschScharif“, das „noble“ bzw. „edle“ Heiligtum im Herzen der Jerusalemer Altstadt soll in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift im Mittelpunkt stehen. Wir befassen uns mit seiner Geschichte und in einem zweiten Artikel von P. Sigfrid Grän (†) mit der Beziehung Jesu zu diesem zentralen Ort des jüdischen Kultes, erfahren wir doch in den Evangelien einiges dazu. „Der Tempelberg ist einer der umstrittensten heiligen Orte der Welt“ – darum ist es gut, sich mit dessen Geschichte zu befassen. Vor diesem Hintergrund sind die Konflikte um diesen Platz besser zu verstehen – wenn auch nicht zu akzeptieren, denn schließlich ist dieses Heiligtum ein für alle drei monotheistische Religionen außerordentlich wichtiger Platz der Gotteserfahrung. Schon im Namen werden die Unterschiede recht deutlich: es ist schon ein großer Unterschied und eine Interpretation ob man vom „Tempelberg“ oder dem „Haram“ spricht. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, und seine Pilgerfahrt ins Heilige Land stehen im Mittelpunkt eines weiteren Artikels. Uns fehlt ein minutiöser Pilgerbericht, wir erfahren aber, dass sich Ignatius wie alle lateiSehr verehrte Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Heiligen Landes! nischen Pilger dieser Zeit der Obhut und Gastfreundschaft der Franziskaner anvertraut. Dass es dabei auch zu Meinungsverschiedenheiten kam, soll nicht verschwiegen werden. Bis vor kurzem wurde im Konvent von St. Salvator in Jerusalem auch ein „Kerker des heiligen Ignatius“ gezeigt, der allein deshalb schon nicht echt sein kann, weil beim Besuch des Ignatius der Sitz der Franziskanerkustodie noch auf dem Berg Zion angesiedelt war. Zwei freudige Ereignisse möchten wir unseren Lesern und Freunden gern mitteilen: der Heilige Vater, Papst Franziskus, hat P. Hanna Jallouf zum Bischof (Apostolischer Vikar) der Katholiken des lateinischen Ritus in Aleppo ernannt. Nicht lange nach dieser Ernennung erreichte uns die Nachricht, dass der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa in den Kardinalsstand erhoben wurde. Davon werden wir in der nächste Ausgabe unserer Zeitschrift berichten. Im Namen aller deutschsprachigen Kommissare des Heiligen Landes grüße ich Sie, D

3/2023 3 Inhalt Werbung für die Schule Hans-Josef Klauck OFM Der Tempelberg Al-Haram Asch-Scharif Heinrich Fürst – Gregor Geiger Alltag zur Zeit Jesu Der Tempel in Jerusalem Sigfrid Grän Ignatius von Loyola Luri Sandrin SJ Auf dem Wasser gehen Paul Zahner OFM Die (Heilig-Grab) Kapelle Ottos und Edithas in Magdeburg Petrus Schüler Pater Hanna Jallouf OFM zum Apostolischen Vikar von Aleppo ernannt Buchempfehlung Titelbild: Felsendom Jerusalem Rückseite: Im Kindergarten der Franziskaner in Jericho Alle Fotos in der Zeitschrift (wenn nicht anders angegeben) © Petrus Schüler Seite 8 Seite 29 Seite 32 Seite 4 Seite 19 Seite 37 Seite 35 Seite 38

4 3/2023 1 Die Weisheit hat ihr Haus gebaut und ihre sieben Säulen behauen. 2 Sie hat ihr Vieh geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch gedeckt. 3 Sie hat ihre Mägde ausgesandt, zu rufen oben auf den Höhen der Stadt: 4 „Wer noch einfältig ist, der kehre hier ein!“ Wer unverständigen Herzens ist, zu dem spricht sie: 5 „Kommt, esst von meinem Brot und trinkt von dem Wein, den ich gemischt habe!“ 6 Verlasst die Torheit, und lebt und schreitet einher auf dem Weg der Klugheit! Werbung für die Schule (Spr 9,1–6) Hans-Josef Klauck OFM In der Terra-Santa Schule in Amman, Jordanien

3/2023 5 Nicht für die Schule, sondern fürs Leben ... rfahrungsgemäß freuen sich Schüler, wenn die Schule ausfällt und es einen freien Tag oder ein paar freie Stunden gibt. Das ist zwar nicht ganz logisch, weil wir nach einem alten Grundsatz für das Leben lernen und nicht für die Schule, und der versäumte Lernstoff muss früher oder später doch nachgeholt werden. Aber verdeutlicht wird dadurch, dass Lernen und Lehren oft Mühe bereiten. Beides erfordert Anstrengung; innere Widerstände müssen überwunden werden; es bedarf, kurz gesagt, einer entsprechenden Motivation. Gute Lehrer bemühen sich deshalb darum, ihren Unterricht möglichst attraktiv zu gestalten. Aber äußere Anreize nützen auf Dauer nichts, wenn es nicht gelingt, den Schülern überzeugend zu vermitteln, warum das, was sie lernen sollen, für sie hilfreich und wichtig ist. Schulbetrieb in Israel Lehrer und Schüler gab es auch schon im alten Israel. Die Lehrer werden gewöhnlich als „Weisheitslehrer“ bezeichnet, und manches von dem, was sie in der Schule weitergaben, ist uns in den Weisheitsbüchern der Bibel erhalten geblieben. Das beginnt mit einfachen Sprichwörtern, die alltägliche Lebensklugheit einzufangen suchen. „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ zum Beispiel, oder „Hochmut kommt vor dem Fall“ oder „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ – solche immer noch beliebten Aussprüche begegnen alle schon im Buch der Sprüche im Alten Testament (vgl. Spr 26,27; 16,18; 16,9). Schritt um Schritt geht es weiter mit dem Vermitteln von Lesen und Schreiben, von allgemeiner Bildung. Die Unterweisung in bestimmten Fertigkeiten, die jemand etwa als Schreiber am Königshof braucht, schließt sich an, und zuletzt kommen wir zur Erklärung und Auslegung des Willens Gottes, wie er sich im Gesetz des Volkes Israels und in seinem Schrifttum niedergeschlagen hat. Probleme mit der Motivation Auch Israels Weisheitslehrer mussten die Erfahrung machen, dass ihr Angebot nicht immer auf den entsprechenden Widerhall stieß. Andere Möglichkeiten des Zeitvertreibs schienen ver- lockender, konkurrierende Bildungsangebote wurden bevorzugt, die menschliche Trägheit schob sich störend dazwischen. Also suchten sie nach Wegen, wie sie ihre Zuhörer besser motivieren, wie sie für ihr Anliegen werben konnten. Ein Ergebnis dieses Bemühens liegt uns im Buch der Sprüche vor. Weisheit ist an sich ja ein Abstraktbegriff. Hier aber wird uns die Weisheit als Person vor Augen gestellt, sicher nicht zufällig auch als Frau, wir dürfen annehmen: als schöne und anziehende Frau. Sie ist zudem augenscheinlich sehr begütert und führt ein großes Haus. Sie besitzt Viehherden und verfügt über einen Weinkeller. In ihren Diensten stehen Mägde, die sie aussenden kann, um die Leute herbeizurufen. Das nämlich ist der springende Punkt: Frau Weisheit lädt die Menschen in ihr prächtiges Haus ein, zu einem festlichen Mahl, und wer wollte einer solchen Einladung nicht Folge leisten? Dass es dabei um mehr geht als um Essen und Trinken, zeigen die deutenden Formulierungen, die in die knappe Erzählung eingebaut sind. Eingeladen werden alle, die noch unerfahren oder unwissend sind. Die Aufforderung, beim Mahl zuzugreifen und vom Mischwein zu trinken, verbindet Frau Weisheit mit einem Appell: Ihre Gäste sollen von der Torheit ablassen und sich auf den Weg der Einsicht begeben. Was im Haus der Weisheit bei ihrem Mahl eigentlich genossen wird, liegt damit auf der Hand: Bildungsgut und Bildungswissen, das zu einem besseren Leben verhilft. Das Gegenbild wird gleich mitgeliefert. Im selben Kapitel des Buchs der Sprüche lädt auch Frau Torheit zum Mahl in ihr Haus ein, und auch sie richtet sich speziell an die Unerfahrenen und Unwissenden. Aber wir ahnen schon, dass dabei nichts Gutes herauskommen kann. Auf den ersSchule Schule E

6 3/2023 IM LAND DES HERRN ten Blick wirkt ihre Einladung noch verführerischer, aber auf Dauer führt sie zum Untergang des Menschen. Die Weisheit als Mittlerin Dass hier Werbung für die Weisheitsschule, für das jüdische Lehrhaus, getrieben wird, dürfte deutlich geworden sein. Wir könnten nun fragen: Ist das nicht etwas zu wenig für einen biblischen Text? Nicht unbedingt, wäre dem entgegenzuhalten. Man kann es durchaus positiv sehen, wenn auch die Weitergabe von lebenspraktischem Wissen und die Einübung in die Lebenskunst als religiöses Anliegen herausgestellt werden. Aber wir müssen in der Tat, um das Gesagte in seiner ganzen Tragweite zu überblicken, im Buch der Sprüche ein wenig zurückblättern. In Kapitel 8 erfahren wir nämlich, dass Frau Weisheit sich schon bei der Schöpfung in Gottes Nähe aufhielt, dass sie, damals noch ein Kind, vor ihm spielte, und dass es ihre Freude war, bei den Menschen zu sein (Spr 8,22–31). Diese Weisheit können wir näher definieren als die den Menschen zugewandte Seite Gottes. Sie verkörpert das, was Gott selbst seiner Schöpfung eingestiftet hat. Sie verkörpert jene Grundordnung der Welt, die Gottes Willen entspricht und die den Menschen zu einem Grundvertrauen ins Dasein befähigt. Dadurch rückt die Weisheit in die Position einer Mittlergestalt zwischen dem fernen Gott und den Menschen auf Erden ein, und was sie vor allem vermittelt, ist Gottes Menschenfreundlichkeit. Gottes Weisung will dem Menschen dabei helfen, sein Leben so zu gestalten, dass es gelingt „Sieben Säulen der Weisheit“, Fels-Formation im Wadi Rum, Jordanien, so benannt nach T.E. Lawrence gleichnamigen Buch (1926) © Igor Hollmann

3/2023 7 „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut, sie hat sieben Säulen aus (dem Stein) geschnitten…“, Sprichwörter. 9,1 Vulg, Stuckatur Pfarrkirche Lermoos, Österreich und nicht zu einem Fehlschlag wird. Dazu ist es notwendig, dass man bei Frau Weisheit in die Schule geht. Das „Lehrgebäude“ Lenken wir noch einmal zum Hausbau der Weisheit zu Beginn unseres Textes zurück. Ein Detail fällt dabei besonders ins Auge. Das sind die sieben Säulen, die von der Weisheit behauen werden, vermutlich um das Dach des Gebäudes zu tragen. Daraus sollen wir zunächst wohl auf die Größe und Pracht dieses Hauses schließen. Vielleicht gewinnt das Haus dadurch auch einen kultischen Anstrich, weil es anscheinend Tempel gegeben hat, die bewusst sieben Säulen hatten, nicht weniger und nicht mehr (Sieben ist eine heilige Zahl). Aber es kommt noch etwas Wichtiges hinzu, ein weiteres Moment der Übertragung: Das Buch der Sprüche in seiner jetzigen Gestalt besteht aus sieben einzelnen Büchern, aus sieben Teilsammlungen, die zu einem Ganzen zusammengefügt wurden. Das sind sozusagen die sieben Säulen, die Frau Weisheit angefertigt hat. In diesen sieben Büchern ist das notwendige Wissen gespeichert, das man braucht, um selbst weise zu werden; in ihnen ist es erschöpfend dargelegt. Auch wir kennen den Ausdruck „Lehrgebäude“, und wir meinen damit die Konstruktion und Darstellung eines geistigen Systems. Genau das wird uns vom Buch der Sprüche anschaulich vor Augen gestellt: wie die Weisheit ihre Lehrgebäude errichtet, wie planvoll sie dabei vorgeht und wie sie uns einlädt, uns darin zu Hause zu fühlen. Schule Schule

IM LAND DES HERRN 8 3/2023 Jerusalem zur Zeit Jesu, Lage des Herodianischen Tempels © Bibelwerk Linz

3/2023 9 ieser Berg, so berühmt er ist und so eifersüchtig er gehütet wird, tritt relativ spät, erst um das Jahr 1000 v. Chr., in die Geschichte ein. Juden und Muslimen ist der Berg ein Heiligtum ersten Ranges. Die Juden nennen ihn Har ha-Bajt, „Berg des Hauses (Gottes)“, die Muslime Harám asch-Scharíf, „der Ehrwürdige Bezirk“ – Haram bedeutet eigentlich „privater, d. h. verbotener Bereich“, was sich sowohl auf einen religiösen heiligen, abgegrenzten Bereich als auch auf den privaten Harem beziehen kann. Auch für die Christenheit ist der Tempel mit Erinnerungen verbunden, ist Jesus doch von Kindheit an (Lk 2,41–50) hier ein- und ausgegangen (Joh 10,22), hat gelehrt (Joh 7,14) und seine Heiligkeit verteidigt (Joh 2,13–22). Aber sie hat sich auch frühzeitig davon gelöst und gelernt, dass die wahre Anbetung Gottes nicht an diesem oder jenem Ort geschieht, sondern „im Geist und in der Wahrheit“ (Joh 4,20–24). Geschichte Der Erste Tempel: Bereits König David hatte die Absicht, für die Bundeslade in seiner Hauptstadt statt des Zeltes aus der Zeit der Wanderungen einen festen Tempel zu bauen (2Sam 7,1–2). Er hatte von dem Jebusiter Arauna, in dem man vielleicht den letzten kanaanäischen Herrscher von Jerusalem sehen darf, einen geeigneten Platz erworben und dort bereits „Brandopfer und Heilsopfer dargebracht“ (2Sam 24,18–25). Die Tenne des Jebusiters Arauna, auf der Salomo den Tempel baute, hielt man sogar für den Berg Morija (2 Chr 3,1), auf dem Abraham seinen Sohn Isaak als Opfer darbringen sollte (Gen 22,2). Das heißt also: Nicht nur David hätte auf dem späteren Tempelplatz geopfert, sondern schon Abraham! Dieser hohe Anspruch könnte durch die Begegnung Abrahams mit Melchisedek gestützt werden, denn „Melchisedek, der König von Salem, … war Priester des Höchsten Gottes“ (Gen 14,18). „Und es baute Salomo das Haus und vollendete es“ (vgl. 1 Könige 6,14), Darstellung des salomonischen Tempels im Vorgängerbau der „Schmidt-Schule“, heute „Italienische Synagoge“ Der Tempelberg/ Al-Haram Asch-Scharif Heinrich Fürst – Gregor Geiger D

10 3/2023 Archäologisch kann man darüber kaum etwas sagen, weil der Ehrwürdige Bezirk für Muslime wie für strenggläubige Juden unantastbar ist und keine Ausgrabungen zugelassen werden. Den Angaben des jüdischen Historikers Flavius Josephus über den Ersten Tempel wird man keine zu große Bedeutung beimessen wollen; schreibt er doch 650 Jahre nach der Zerstörung dieses Tempels. Anders ist es mit der Bibel, deren Texte zwar oft Früheres mit Späterem vermischen, aber doch einen alten Grundbestand erkennen lassen. Nach der Bibel begann der Tempelbau im vierten Jahr der Regierung Salomos (1Kön 6,1); das wäre etwa 960 v. Chr. Freilich widerspricht das der ebenfalls biblischen Aussage, schon König David habe im „Haus des HERRN“ gebetet (2Sam 12,20). Für den salomonischen Tempelbau wurde nicht nur Stein verwendet, sondern auch reichlich Holz aus dem Libanon, das der König von Tyrus lieferte (1Kön 5,15–25). Da ein Architekt aus Tyrus (1Kön 7,13–14) und Gebaliter (Handwerker aus Gebal, heute: Byblos im Libanon) herbeigeholt wurden, werden phönizische Vorstellungen und Muster, wie man sie aus Ausgrabungen kennt, keine geringe Rolle gespielt haben. Bei den Beschreibungen (1Kön 6,1–38; 7,13–51) bleibt manches im Dunkeln; gerade bei den Details muss man damit rechnen, dass sie teilweise spätere Veränderungen widerspiegeln. Mit großer Wahrscheinlichkeit war das Gebäude ein Langhaustempel mit einer Bodenfläche von 27x9 m und einer Höhe von 13,5 m. Davor gab es noch eine offene Vorhalle. Die überraschende Höhe des Bauwerks wird dadurch bestätigt, dass die Anbauten mit der Zeit dreistöckig wurden. Die verhältnismäßig geringe Bodenfläche erklärt sich daraus, dass ein Tempel nicht Versammlungsraum einer Gemeinde, sondern nur Wohnung des Götterbildes oder, wie in Jerusalem, der Bundeslade war. Die Bundeslade stand im innersten, völlig fensterlosen Raum, dem Allerheiligsten, was die Unanschaubarkeit Gottes, ein Grunddogma der Religion Israels, besonders unterstrich. Salomo sagte: „Der HERR hat gesagt, er werde im Wolkendunkel wohnen“ (1Kön 8,12). An das Allerheiligste schloss sich der doppelt so lange Hauptraum an; beide Räume waren ganz mit Zedernholz getäfelt. Ob alles von Anfang an so überreich vergoldet war, wie die Bibel berichtet – sogar der Fußboden (1Kön 6,30) – ist ungeklärt. Es fällt nämlich auf, dass zuerst nur von Zedernholz die Rede ist; die Nachricht von der reichen Vergoldung wirkt nachgetragen. Nach siebenjähriger Bauzeit war jedenfalls der Tempel vollendet und konnte eingeweiht werden. Er bestand bis zur Eroberung Jerusalems durch die Babylonier im Jahr 586 v. Chr. Die wichtigste und immer noch nicht endgültig entschiedene Frage aber ist, wo der Tempel eigentlich genau stand. Man möchte annehmen, dass der Tempel bzw. das Allerheiligste sich am höchsten Punkt des Geländes befand, dort wo heute der heilige Felsen vom „Felsendom“ überwölbt ist. Man hat aber auch vermutet, dass dort der Brandopferaltar gewesen sei, der Tempel ein wenig westlich davon. Eine Zeder auf dem Libanongebirge IM LAND DES HERRN

3/2023 11 Der Zweite Tempel: Nachdem die deportierten Juden im Jahr 538 v. Chr. vom Perserkönig Kyros die Erlaubnis erhalten hatten, in ihr Land zurückzukehren und den Tempel in Jerusalem wiederaufzubauen (Esra 1,1–4), kehrten sie in mehreren Schüben zurück und errichteten zunächst den Brandopferaltar (Esra 3,2–3). Der Neubau des Tempels kam aber nicht voran, noch im Jahr 520 v. Chr. war der Platz ein Trümmerhaufen (Hag 1,2–15). Auf Betreiben der Propheten Haggai und Sacharja nahm man unter dem Statthalter Serubbabel und dem Hohenpriester Jeschua einen neuen Anlauf (Esra 5,1–2); im Jahr 515 konnte der Tempel eingeweiht werden (Esra 6,14–22). Der Zweite Tempel erhob sich wieder am selben Platz, auf denselben Grundmauern, und hatte wohl dieselben Ausmaße (Esra 6,3.7); dass freilich die Höhe doppelt so groß gewesen sein soll als früher, nämlich 27 m bei nur 9 m Breite (!), ist wenig wahrscheinlich. So verwundert es nicht, dass die Überlieferungen bei diesen Zahlenangaben auseinandergehen. Auch die goldenen und silbernen Geräte des Tempels sollten nach persischem Befehl zurückerstattet werden (Esra 6,5). Die Bundeslade freilich gab es nicht mehr, sie war und blieb verschollen. Die wesentlichen Kultgegenstände im Hauptraum waren wie früher der Schaubrottisch und ein Räucheraltar. Neu war im Tempel des Serubbabel der goldene Leuchter (hebr. Menora) mit sieben Lampen (vgl. Sach 4,1–2). Zwar sei schon der Leuchter, den Mose auf Gottes Anordnung für das Offenbarungszelt fertigen ließ, siebenarmig gewesen (Ex 25,31–39), doch sind die Einzelheiten des ideellen Offenbarungszeltes in der Wüste offensichtlich nach dem Muster des nachexilischen Tempels beschrieben. Der salomonische Tempel hatte einfach zu beiden Seiten je fünf goldene Leuchter (1Kön 7,49). Antiochus IV. Epiphanes raubte im Jahr 169 v. Chr. die goldene Menora (1Makk 1,21), Judas der Makkabäer ersetzte sie durch eine neue (1Makk 4,49). Sie wurde fortan zu einem Symbol des Judentums. Durch die mehrfachen Herrschaftswechsel im 2./1. Jh. v. Chr. – in den Makkabäer- und Hasmonäerkriegen wie auch wieder bei den Eroberungen Jerusalems durch Pompeius und durch Tempelberg Tempelberg Grabmal Kyros II in Pasargadae, Iran ©G. Klaus Relief am Hochaltar der ehem. Klosterkirche Bad Schussenried: Allerheiligstes des Tempels, unten der Altar, ein Priester beim Rauchopfer, links die Schaubrote und im oberen Abschluss die Bundeslade

12 3/2023 Herodes – muss auch der Tempel sehr in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Der große Bauherr Herodes, der selbst kein Jude, sondern ein Idumäer (südliches Nachbarvolk Israels) war, fasste den Plan, den Tempel großzügig neu zu bauen. Er sah darin eine Gelegenheit, sich bei den Juden Anerkennung zu verschaffen. Diese hätten sich kaum darauf eingelassen, wenn keine Notwendigkeit bestanden hätte. Sie stellten jedoch zwei Bedingungen, nämlich dass vorher ausreichendes Baumaterial herbeigeschafft werden müsse und dass nur Priester am Tempel bauen dürften. Herodes schaffte das Baumaterial bei; nach Flavius Josephus wurden 1000 Priester in den notwendigen handwerklichen Fertigkeiten ausgebildet. Diese Nachricht erfährt eine überraschende Bestätigung durch ein Grab aus herodianischer Zeit in einer nördlichen Vorstadt von Jerusalem (Givat ha-Mivtar), in dem ein Ossuarium die aramäische Inschrift „Simeon, der Tempelbauer“ trägt. Es muss sich um einen Toten handeln, der am Neubau des Tempels durch Herodes beteiligt war und dessen Angehörige ihm diesen Ruhmestitel mit ins Grab gaben. Herodes begann mit dem Tempelbau im Jahr 19 v. Chr. Es dauerte etwa neun Jahre, bis man den Tempel im Beisein des Königs einweihen konnte; für das Tempelhaus hatte man eineinhalb Jahre gebraucht. Die Herausforderungen des Neubaus waren aber so vielfältig und umfassend, dass sie noch Jahrzehnte in Anspruch nahmen. Auf diese Situation bezieht sich das Wort der Juden im Johannesevangelium: „Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten?“ (Joh 2,20). Damit käme man in das Jahr 28 n. Chr. für diese Auseinandersetzung Jesu mit den Juden. Nach Flavius Josephus wurden Modell der Stadt Jerusalem mit dem Herodianischen Tempel, im rechten Teil die Burg Antonia IM LAND DES HERRN

3/2023 13 die Arbeiten am Tempel erst unter dem Prokurator Albinus (62–64 n. Chr.) abgeschlossen, also wenige Jahre vor der Zerstörung durch Titus im Jahr 70. Christliche Geschichtsschreiber pflegten früher drei Tempel zu unterscheiden, den salomonischen, den nachexilischen und den herodianischen Tempel. Bei den Juden ist es üblich geworden, nur von einem Ersten und einem Zweiten Tempel zu sprechen, vielleicht weil man dem Nicht-Juden Herodes nicht so viel Ehre antun will. Eine gewisse sachliche Rechtfertigung ist, dass vor Herodes ja keine Zerstörung eingetreten war und der Neubau sich weitgehend am Bisherigen orientierte. Die Maße des eigentlichen Tempels blieben die gleichen, nur die Vorhalle, also die Fassade, durfte Herodes auf 45 m Breite und ebensolche Höhe vergrößern, wenn man Flavius Josephus glauben darf. Vor allem aber ließ Herodes den Tempelplatz sowohl nach Norden wie nach Süden bedeutend erweitern. So bildet er bis heute ungefähr ein Rechteck mit ungleichen Seitenlängen: Die Westmauer ist 485 m lang, die Ostmauer 470 m; während die Nordmauer 315 m misst, sind es im Süden nur 280 m. Insgesamt umschließt der Tempelplatz 144.000 Quadratmeter. Damit ragt der Jerusalemer Tempelplatz weit aus den Heiligtumsbezirken der Antike heraus. Das erforderte in der gebirgigen Landschaft gewaltige Stützbauten, die an der Südseite bis über 50 m hoch sind. Die legendären Pferdeställe Salomos unter der Südostecke des Tempelplatzes (42 m hoch über dem Felsgrund) sind ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür. Sie haben mit Salomo nichts zu tun, sondern sind zwölf Reihen von Stützbogen, mit denen Herodes das Plateau des Tempelplatzes nach Süden ausdehnte. Im Mittelalter wurden hier tatsächlich Pferdeställe eingerichtet; die Löcher in den Pfeilern dienten zum Anbinden der Pferde des Templerordens. Gewaltig war auch der Wasserbedarf des Tempels; im 19. Jahrhundert, als manche Forschungen noch leichter möglich waren, hat man 37 Zisternen im Bereich des Tempelplatzes gezählt! Alle vier Seiten des riesigen Platzes waren mit Säulenhallen umgeben; die Königliche Halle lag auf der Südseite, die Halle Salomos auf der Ostseite, so dass sie Schutz vor kalten Wüstenwinden bot (Joh 10,23); sie scheint ein bevorzugter Platz der ersten Christen gewesen zu sein: „Alle kamen einmütig in der Halle Salomos zusammen“ (Apg 5,12; vgl. 3,11). Überhaupt spielte sich vieles, was wir im Deutschen ungenau dem Tempel zuschreiben, in den Höfen des Tempels ab. Die Bibel macht einen Unterschied zwischen dem Tempelhaus, der Wohnung Gottes, und dem Heiligen Bezirk mit seinen Höfen. Die Israeliten werden aufgefordert: „Kommt mit Dank durch seine Tore, mit Lobgesang in seine Höfe!“ (Ps 100,4) Die Unzuträglichkeiten mit den „Verkäufern von Rindern, Schafen und Tauben und den Geldwechslern“ konnten sich nur in diesen Höfen Tempelreinigung, Gemälde in der Certosa S. Martino, Neapel Tempelberg Tempelberg

IM LAND DES HERRN 14 3/2023 abspielen: „Das Paschafest der Juden war nahe und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern; das Geld der Wechsler schüttete er aus, ihre Tische stieß er um und zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle! Seine Jünger erinnerten sich, dass geschrieben steht: Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren. Da ergriffen die Juden das Wort und sagten: Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst? Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines Leibes. Als er von den Toten auferweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.“ (Joh 2,13–22). Diese Höfe waren unterteilt. So gab es einen abgegrenzten Bezirk, den nur Juden betreten durften. Der innere Hof, den es schon am Ersten Tempel gab (1Kön 6,36; 7,12) und der nach Ezechiel acht Stufen höher lag (Ez 40,37), machte im herodianischen Tempel nur ein Achtel des ganzen Areals aus. Bereits 1870 wurde eine Warntafel in der allen verständlichen Verkehrssprache Griechisch entdeckt, 1935 kam das Fragment einer zweiten hinzu, nach der bei Todesstrafe „kein Fremder die Abgrenzung und Umzäunung um den Tempel herum betreten darf“. Siehe Foto auf Seite 8. Das war auch das Delikt, das dem Apostel Paulus vorgeworfen und das zum Anlass seiner Verhaftung wurde: Das ist der Mensch, der in aller Welt Lehren verbreitet, die sich gegen das Volk und das Gesetz und gegen diesen Ort richten; er hat sogar Griechen in den Tempel mitgenommen und diesen heiligen Ort entweiht. Sie hatten nämlich kurz zuvor den Epheser Trophimus mit ihm zusammen in der Stadt gesehen und meinten, Paulus habe ihn in den Tempel mitgenommen (Apg 21,28–29). Frauen durften nur den vom Tempel entfernteren östlichen Teil dieses Hofes betreten, so dass etwa die Darstellung des Jesuskindes im Tempel (Lk 2,22–38) oder Jesu Milde gegenüber der Ehebrecherin (Joh 8,2–11) nicht näher am Tempel als in diesem Frauenvorhof denkbar sind. Den Gelähmten, der die Apostel um ein Almosen anhielt, setzte man an die Schöne Pforte (Apg 3,2), die in den Hof der Frauen heraufführte, weil dort seine Chancen weitaus besser waren, als wenn er nur bei den Männern gebettelt hätte. Die Männer konnten durch das prächtige Nikanortor näher an den Tempel heranHörner-Altar in Be’er Sheva, Original im Israel-Museum Jerusalem

3/2023 15 treten in den Vorhof der Israeliten. So betet der Psalmist: „Deinen Altar, HERR, will ich umschreiten, um laut das Lob zu verkünden und all deine Wunder zu erzählen. HERR, ich liebe die Stätte deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit“. (Ps 26,6–8) In der Spätzeit des Alten Testaments gibt es um den Tempel und den Brandopferaltar herum einen eigenen Hof der Priester (2 Chr 4,9). Auch die Priester konnten aber nicht beliebig den Tempel betreten. Wir lesen im Lukasevangelium vom Priester Zacharias, dem Vater Johannes’ des Täufers: „Es geschah aber, als seine Abteilung wieder an der Reihe war und er den priesterlichen Dienst vor Gott verrichtete, da traf ihn, wie nach der Priesterordnung üblich, das Los, in den Tempel des Herrn hineinzugehen und das Rauchopfer darzubringen.“ (Lk 1,8–9) Das Allerheiligste durfte sogar der Hohepriester nur einmal im Jahr betreten (Lev 16,2; vgl. Hebr 9,6–7), und zwar am Versöhnungstag (hebr. Jom Kippur). Wenn also nach der berühmten Lehrerzählung Jesu zwei Männer zum Tempel hinaufgingen, „um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner“ (Lk 18,10), konnten sie das nur in einem der Höfe tun (denn nur dort kann man seine Augen „zum Himmel erheben“): „Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lk 18,13) Wo ehemals der Tempel stand, der am Ende des Ersten Jüdischen Krieges im Jahr 70 n. Chr. eingeäschert wurde, errichteten die Architekten Hadrians 135 einen Tempel zu Ehren der römischen Götter Jupiter, Juno und Minerva. Von ihm weiß man nicht viel, außer dass in seiner Nähe zwei Kaiserstatuen errichtet waren. Im Kultgeräte die im „Tempel-Institut Jerusalem“ für einen „Dritten Tempel“ vorbereitet werden Inneres der Kuppel im Felsendom Tempelberg Tempelberg

IM LAND DES HERRN 16 3/2023 christlich gewordenen byzantinischen Reich ließ man den heidnischen Tempel zerfallen, er diente nur noch zum Abbau von Baumaterial. Christen brauchten diesen Kultort nicht mehr und ließen ihn unbebaut, da an die Stelle der alten Opfer das Opfer Christi getreten ist: „Wir sind durch die Hingabe des Leibes Jesu Christi geheiligt – ein für alle Mal. Und jeder Priester steht Tag für Tag da, versieht seinen Dienst und bringt viele Male die gleichen Opfer dar, die doch niemals Sünden wegnehmen können. Dieser aber hat nur ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht und sich dann für immer zur Rechten Gottes gesetzt.“ (Hebr 10,10–12). Im Islam: Neues Interesse an dem Berg zeigten erst wieder die Muslime. Bereits Omar, der 638 n. Chr. Jerusalem einnahm, dürfte hier eine Art Moschee errichtet haben, vielleicht indem er die Halle Salomos restaurierte. Dies wurde der Grund, dass man ihm später die al-Aqsa-Moschee zuschrieb und sie fälschlich Omarmoschee nannte. Der Felsendom (arab. Qubbat as-Sahra) wurde 50 Jahr später, 687–691, von Kalif Abd al-Malik gebaut. Al-Muqaddasi, ein arabischer Geograph des 10. Jahrhundert, erklärt das so: Als Abd al-Malik die riesige und imposante Kuppel der Grabeskirche sah, fürchtete er, dass sie die Herzen der Muslime in ihren Bann ziehen werde. Deshalb errichtete er die Kuppel, die wir auf dem Felsen sehen. Auch politische Erwägungen mögen mitgespielt haben. So berichtet der schiitische Geschichtsschreiber al-Jaqubi im Jahr 874, Abd al-Malik hätte ein Gegengewicht zu Mekka und Medina schaffen wollen. Diese These wird verschiedentlich bis heute aufgegriffen, häufig in anti-muslimischer Polemik. Wie auch immer, Abd al-Malik nahm die jüdisch-christliche Heiligkeit Jerusalems bewusst für den Islam in Anspruch. Er ließ über dem heiligen Felsen Abrahams ein prächtiges Kuppelheiligtum bauen. Es versteht sich von selbst, dass die zumeist einheimischen Architekten, Künstler und Handwerker byzantinische Bauformen aufgriffen. Der Felsendom ist in seinen vollkommenen Formen und Proportionen ein Höhepunkt sakraler Architektur, und er ist nicht zuletzt weltweit der älteste erhaltene islamische Sakralbau. Abd al-Malik vergaß freilich nicht, die christliche Lehre deutlich zu korrigieren und die Christen zurechtzuweisen. In einer dem Koran (Sure 4) entsprechenden Inschrift heißt es: Ihr Leute des Buches: Übertretet nicht die Schranken euerer Religion und sagt bezüglich Gott nichts als die Wahrheit. Der Messias Jesus, der Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und Geist von ihm … Darum glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht: Drei. Hört auf! Das ist besser für euch. Gott ist nur ein einziger Gott. Gepriesen sei er. Er ist darüber erhaben, ein Kind zu haben. Jerusalem erhält den Ehrentitel al-Quds, „die Heilige“, obwohl es genau genommen im Koran nicht erwähnt Felsen im Mittelpunkt des Felsendomes

3/2023 17 wird. Abd al-Maliks Sohn und tatkräftiger Nachfolger Walid I. verfolgte die Linie seines Vaters weiter. Er bereicherte 709 bis 715 Jerusalem mit der noch größeren al-Aqsa-Moschee. Diese (al-Aqsa heißt „das/die Entfernteste“) dagegen hat ihren Namen tatsächlich aus dem Koran. In Sure 17 wird nämlich eine nächtliche Reise (Vision) des Propheten Mohammed geschildert: Lobpreis sei Gott, der seinen Diener von der heiligen Moschee (Mekka) zu der fernsten Moschee (al-Masdschid al-Aqsa) führte. Manche Koranausleger sahen diese fernste Moschee im Himmel, es setzte sich aber die Auslegung auf Jerusalem durch. Vom heiligen Felsen in Jerusalem habe das Pferd des Propheten ihn dann in den Himmel hinaufgetragen. Jerusalem wird die dritte heilige (al-Quds) Stadt des Islams (nach Mekka und Medina). Sowohl der Felsendom als auch die al-AqsaMoschee wurden schon bald durch die Erdbeben von 747 oder 749 und 765 betroffen; die größeren Schäden erlitt dabei immer die al-Aqsa-Moschee wegen ihrer „luftigen“ Substrukturen. Nach der Restaurierung durch den Kalifen al-Mahdi 780 (bereits aus der Abbasidendynastie von Bagdad) hatte sie 15 Schiffe. Bei der Wiederherstellung 1035 nach dem besonders schlimmen Beben von 1033 stellte der Kalif az-Zahir vermutlich die ursprünglichen sieben Schiffe wieder her. Auch am Felsendom wurden im 9. und im 11. Jahrhundert Restaurierungsarbeiten durchgeführt. Der Kalif al-Mamun (813–833) ließ dabei in der großen Inschrift den Namen des Gründers Abd al-Malik durch seinen eigenen Namen ersetzen; der Betrug zum Ruhm des Herrschers und der Dynastie von Bagdad ist bis heute dadurch erkennbar, dass er übersah, auch die Jahreszahl zu korrigieren! Als 1099 die Kreuzfahrer kamen, nannten sie den Felsendom in Erinnerung an den salomonischen Tempel Templum Domini, „Tempel des Herrn“, und machten ihn zur Kirche, indem sie auf dem heiligen Felsen einen Altar errichteten. In der Zeit der Kreuzfahrer war der Felsendom bis auf halbe Höhe mit Mosaiken geschmückt, die oben in Marmorplatten übergingen (so in der Beschreibung des Heiligen Landes von Johannes von Würzburg, 12. Jahrhundert). Südlich davon war für die Kreuzfahrer der Palast Salomos. Dort nahmen die Könige von Jerusalem ihre Residenz, wenigstens vorläufig, bis 1128 die neue Residenz beim ehemaligen Herodespalast fertiggestellt war. Danach überließen sie die Bauten dem 1118 entstandenen Ritterorden, der von diesem Ort her den Namen Templer bekam. Wie die al-Aqsa-Moschee in dieser Periode ausgesehen hat, ist nicht recht klar. Bis vor einiger Zeit hielt man sie für die wiederhergestellte Muttergotteskirche Nea (griech. „die Neue“) des Kaisers Justinian, die scheinbar spurlos verschwunden war. Seit man deren wirkliche Lage im heutigen jüdischen Viertel kennt, ist man etwas ratlos. Johannes von Würzburg spricht von einem „Stall von so wunderbarer Größe, dass er mehr als 2000 Pferde oder 1500 Kamele fassen konnte“, Museum neben der al-Aqsa-Moschee: im hinteren Raum sind die noch aus der Kreuzfahrerzeit stammenden Gitter des Felsens zu sehen Tempelberg Tempelberg

IM LAND DES HERRN 18 3/2023 meint damit aber sicherlich die unterirdischen Pferdeställe Salomos. Denn er bemerkt auch, dass die „neue und große Kirche“ der Templer noch nicht fertig sei, worunter man die al-AqsaMoschee verstehen kann. In einer wenig späteren Beschreibung wird vom Tempel des Herrn südlich davon ein Tempel Salomos unterschieden; man hat also zwei Kirchen. Der verwirrende Name Tempel Salomos erklärt sich am besten so, dass die zum Palast Salomos gehörige Kirche (der Templer) jetzt Tempel Salomos genannt wird. In einer für Philipp von Burgund gemalten prächtigen Karte von Jerusalem (1455), die auf Burkard vom Berg Sion (1283) zurückgeht, sieht man die al-Aqsa-Moschee mit Giebeldach und goldener Kuppel, drei hohen Schiffen und niedrigeren Anbauten. Die Templer müssen also die al-Aqsa-Moschee zum Teil neu gebaut haben. Die Eingriffe der Kreuzfahrer waren nicht von langer Dauer, denn 1187 wurden die Muslime wieder Herren Jerusalems und damit des Tempelplatzes, des Ehrwürdigen Bezirks, und machten sich an die Restaurierung ihrer Heiligtümer. Beim Felsendom war das nicht schwierig: Sie mussten nicht viel mehr tun, als den christlichen Altar wieder zu entfernen. Die Mitte der Fassade der al-Aqsa-Moschee stammt vom Jahr 1227, zeigt aber bei genauem Hinsehen Elemente im Kreuzfahrerstil. Die meisten der sonstigen Bauten auf und um den Platz wurden in den folgenden Jahrhunderten von den Mamluken errichtet. Die Bauwerke des Ehrwürdigen Bezirks blieben auch weiterhin von Beschädigungen durch Kriege, Brände und Erdbeben nicht verschont. Bedeutende Restaurierungen und Umbauten wurden besonders vom osmanischen Sultan Suleiman dem Prächtigen (1522–1560) und wieder im 20. und 21. Jahrhundert unter Mithilfe verschiedener muslimischer Herrscher vorgenommen. Blick auf die Fassade der al-Aqsa-Moschee

3/2023 19 Alltag zur Zeit Jesu Der Tempel in Jerusalem Sigfrid Grän achdem wir uns in den letzten Artikeln dieser kleinen Reihe mit dem Lebensumfeld Jesu beschäftigt haben, wollen wir unseren Blick auf das zentrale Heiligtum der Israeliten lenken, auf den Tempel in Jerusalem. Beim Stichwort „Tempel“ dürften die meisten Christen an zwei Episoden aus dem Leben Jesu denken: an die Geschichte vom „Zwölfjährigen im Tempel“ und an die „Tempelreinigung“. – Wir wollen am ersteren Ereignis anknüpfen und uns den „Alltag“ einer damaligen Wallfahrt nach Jerusalem vergegenwärtigen. Die Verpflichtung Bei Lukas 2,41 lesen wir: „Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach.“ Das klingt ganz sachlich, enthält in Wirklichkeit aber ein Kompliment an die Heilige Familie und ihre besondere Frömmigkeit. Im Mosaischen Gesetz heißt es nämlich: „Dreimal im Jahr sollen alle deine Männer vor dem Antlitz des Herrn erscheinen... am Fest der Ungesäuerten Brote, am Wochenfest und am Laubhüttenfest...“ (vgl. Ex 34,23, Dtn 16,20 f.). Mit anderen Worten: Nur die Männer waren zur Wallfahrt nach Jerusalem verpflichtet; zum Mann aber wurde der jüdische Knabe erst mit dreizehn Jahren. – Wenn also in unserer Erzählung bereits der zwölfjährige Jesus nach Jerusalem zieht, wenn er überdies nicht nur von seinem Vater, sondern auch von seiner Mutter begleitet wird, dann geschieht hier mehr als vom Gesetz verlangt ist. Die Heilige Familie zeichnet sich also durch besonderen Gesetzeseifer aus. Damit steht sie freilich nicht allein. Es kam häufig vor, dass sich ganze Familien (einschließlich der Alten und Kranken) zur Wallfahrtszeit auf den Weg nach Jerusalem machten. In seiner „Geschichte des jüdischen Krieges“ berichtet der jüdisch-römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus von der Stadt Lydda, dass der römische Befehlshaber Cestius dort nur etwa fünfzig Personen vorfand, „die er töten und dann die Stadt in Flammen aufgehen ließ, weil die ganze Bevölkerung wegen des Laub- Der 12-jährige Jesus lehrt im Tempel, Dom Mailand N

IM LAND DES HERRN 20 3/2023 hüttenfestes hinauf nach Jerusalem gezogen war“ (Bell II, 19,1). Auch dass Jesus schon vor dem dreizehnten Lebensjahr in den Wallfahrtsbrauch eingeübt wird, ist nicht ungewöhnlich. Nach der Auffassung des strengeren Rabbi Schammai soll ein Knabe nach Jerusalem mitgenommen werden, sobald er auf den Schultern des Vaters „hinaufreiten“ kann, nach der Schule des liberaleren Rabbi Hillel dagegen erst dann, wenn er an der Hand des Vaters selbst zum Tempel hinaufsteigen kann. Der Pilgerweg Nach Angabe von Flavius Josephus hatten die Pilger aus Galiläa die Gewohnheit „wenn sie zu den Festen in die Heilige Stadt zogen, den Weg durch das Land der Samariter zu nehmen“ (Ant XX 6,1). Diese Route, die dem Höhenzug des westjordanischen Gebirges folgt, ist nicht nur die kürzeste, sondern auch die sicherste, weil sie stets durch bewohntes Gebiet führt. So ist man gegen Räuberbanden geschützt und findet leicht Verpflegung und Übernachtungsmöglichkeiten. Auch ist dieser Höhenweg klimatisch weitaus günstiger als etwa der Weg durch den östlich gelegenen Jordangraben mit seinen mörderisch heißen Temperaturen. Eine Schwierigkeit freilich muss man dabei in Kauf nehmen: man kommt mit den Samaritern in Berührung, und zwischen ihnen und den Juden besteht seit Jahrhunderten eine tiefsitzende Feindschaft. Hier sei nur auf eine Erfahrung Jesu verwiesen, die uns Lukas überliefert hat: „Als sich die Tage erfüllten... fasste Jesus den festen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen. Und er schickte Boten vor sich her. Diese gingen und kamen in ein Dorf der Samariter und wollten eine Unterkunft für ihn besorgen. Aber man nahm ihn nicht auf, weil er auf dem Weg nach Jerusalem war.“ Die Apostel Jakobus und Johannes reagierten darauf „typisch jüdisch“, indem sie Jesus fragten: „Herr, sollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel fällt und sie verzehrt?“– Jesus, der nicht im herkömmlichen Feindschema dachte, wies sie zurecht und zog ohne viel Aufhebens in ein anderes Dorf (vgl. Lk 9,51–56). In der Reisegruppe Maria und Josef meinten – heißt es bei Lukas 2,44 –, „er sei in der Pilgergruppe...“ – Diese beiläufige Bemerkung wird von anderen Quellen bestätigt. Man reiste zur Zeit Jesu innerhalb Palästinas vorwiegend in Reisegesellschaften oder Karawanen. Das war notwendig, um sich besser gegen Wegelagerer wehren zu können. Die Pilger wurden nämlich gern von Straßenräubern überfallen, weil man wusste, dass sie Geld bei sich hatten, um in Jerusalem Einkäufe zu erledigen und im Tempel die vorgeschriebenen Ab- gaben zu entrichten. Je größer eine Gruppe war, desto langsamer kam sie in der Regel voran. Die meisten gingen zu Fuß, manche hatten einen Esel als Reittier (nur ganz wenige Reiche konnten sich einen Reisewagen leisten). Darstellung einer Karawane im Nationalpark Avdad

3/2023 21 Die Tagesleistung einer Pilgergruppe war unter anderem vom Klima abhängig. In den heißen Sommermonaten, wo man nur in den kühlen Morgen- und Abendstunden unterwegs sein konnte, musste man sich mit zehn bis fünfzehn Kilometer pro Tag zufriedengeben. Eine Reisegesellschaft zum Paschafest, das im klimatisch günstigen Frühjahr lag, mochte (mit Frauen und Kindern im Gefolge) auf eine Tagesleistung von rund dreißig Kilometer kommen. Die von Lukas erwähnte Pilgergruppe aus Nazaret (das von Jerusalem ca. 130 km entfernt ist) musste also mindestens vier Tage angestrengt wandern (mit drei Übernachtungen), um in die Heilige Stadt zu gelangen. Da die Straßen steinig und staubig waren und die primitiven Herbergen zur Wallfahrtszeit die vielen Pilger kaum fassen konnten (man schätzt für die Zeit Jesu die ständige Einwohnerzahl Jerusalems auf 25.000 bis 30.000; die Zahl der herbeiströmenden Festpilger aber auf 85.000 bis 125.000), war eine Wallfahrt zum Tempel mit vielen Mühseligkeiten und Strapazen verbunden. Trotzdem scheinen die Wallfahrer von einer heiteren Stimmung erfüllt gewesen zu sein. Darauf deuten jedenfalls bestimmte Psalmverse hin, in denen der Beter dankbar bekennt: „Ich will in einer Schar einherziehen. Ich will in ihr zum Haus Gottes schreiten, im Schall von Jubel und Dank in festlich wogender Menge“ (Ps 42,5); oder an anderer Stelle: „Ich freute mich, als man mir sagte: zum Haus des Herrn wollen wir pilgern“ (Ps 122,1). Übrigens hat sich im „Buch der Psalmen“ eine ganze Reihe von Dichtungen erhalten, die ausdrücklich als „Wallfahrtslieder“ gekennzeichnet sind (Psalmen 120 bis 134). Wer sie aufmerksam liest, mag noch heute etwas von der Frömmigkeit und Freude spüren, von denen die damaligen Pilger ergriffen wurden, je mehr sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten. Auf Quartiersuche Natürlicherweise steuern die Pilger zunächst den Tempel an, den sie in ihren Wallfahrtsliedern ausgiebig besungen haben. Unter „Flötenspiel... mit Pauken und Zithern“ zieht man hinauf „zum Berg des Herrn, zu Israels Felsen“ (Jes 30,29.32b). Während die Pilger das große Lob aus den Psalmen 113 bis 118 anstimmen, antwortet ihnen aus dem Inneren des Tempelbezirks der Chor der Priester mit den Schlussversen von Psalm 118: „Gesegnet sei, der kommt im Namen des Herrn. Wir segnen euch vom Haus des Herrn her … Tanzt den Festreigen mit Zweigen bis zu den Hörner des Altars.“ Erst nach dem Tempelbesuch begibt man sich in die Stadt, die von Gästen aus aller Herren Länder wimmelt, um ein Quartier für die nächsten Tage Alltag zur Zeit Jesu Alltag zur Zeit Jesu Psalm 122, Poster Im „Bibelhaus Frankfurt“

22 3/2023 IM LAND DES HERRN zu finden. Die Pilger aus Galiläa (zu denen auch die Heilige Familie gehört), die jährlich wenigstens einmal in Jerusalem erscheinen, kommen wohl bei Familien unter, mit denen sie eine längere Bekanntschaft verbindet. Es ist auch möglich, wie wir es in späteren Jahren von Jesus und seinen Jüngern hören, dass man außerhalb der Stadt (z. B. in Betanien) bei Freunden übernachtet. Für Wallfahrer, die keine persönlichen Kontakte zu Jerusalemer Familien haben, gibt es öffentliche Herbergen, die zu den Festzeiten allerdings hoffnungslos überfüllt sind. So muss ein Großteil von ihnen die Nacht im Freien verbringen. Das Paschafest dauert übrigens acht Tage (das Wochenfest einen Tag, das Laubhüttenfest sieben Tage). Ob die Wallfahrer die ganze Festzeit oder nur einige Tage in Jerusalem anwesend sein mussten, um ihrer Wallfahrtspflicht zu erfüllen, können wir aufgrund der uns verfügbaren Quellen nicht entscheiden. Vermutlich blieb es den Einzelnen überlassen, die Dauer ihres Aufenthalts in der Heiligen Stadt zu bestimmen. Der Tempel des Herodes Wir verlassen nun unsere galiläische Pilgergruppe und wenden uns in unserer Darstellung des „Alltags Jesu“ ganz dem Jerusalemer Tempel zu, der bis zu seiner Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. den jüdischen Alltag in der Form prägte, dass er jedem frommen Israeliten als die Heilige Stätte schlechthin galt, an der Gott Tag für Tag die gesetzlich vorgeschriebenen Opfer dargebracht wurden. Der Tempel, den Jesus erlebte, war von Herodes dem Großen (dem „Kindermörder“ des Evangeliums) vollständig erneuert worden. Im Jahre 20/19 v. Chr. begann man mit den Arbeiten, wobei Herodes durch Errichtung von Stützmauern den bisherigen Tempelplatz auf die doppelte Größe erweiterte, d. h. der neue Tempelbezirk bildete eine Rechteck von ca. 480 Meter Länge und 300 Meter Breite. Herodes scheute keine Kosten und trieb einen erheblichen Aufwand an Menschen und Material. Zunächst warb er zehntausend Arbeiter an. Dann ließ er tausend Priester und Leviten für die Gestaltung des heiligen Bezirkes in der Maurerkunst unterweisen. Für die Planung wurden die größten Baumeister der damaligen Welt herangezogen. Frühzeitig wurden in den umliegenden Steinbrüchen die benötigten Steine vorbereitet. Um sie herauszubrechen, bohrte man Löcher in den Fels, in die man Holzkeile trieb. Dann wurden die Holzkeile gewässert, wobei sie anschwollen und den Stein in der Bohrlinie heraus sprengten. Die Felsblöcke für die Außenmauern des Tempels bestanden aus riesigen Quadern, die im Durchschnitt neun bis zwölf Meter lang und über einen Meter hoch waren. Dass diese großen Steine (und natürlich erst recht die aus ihnen errichteten Bauwerke) allenthalben Bewunderung erregten, hat uns der Evangelist Markus in einer beiläufigen Bemerkung eines Jesus-Jüngers überliefert: „Als Jesus den Tempel verließ“, heißt es bei Mk 13,1, „sagte einer von seinen Jüngern zu ihm: Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten!“ – Jesus, der an die Zerstörung Jerusalems denkt, dämpft die Begeisterung des Jüngers mit dem Hinweis: „Siehst du diese großen Bauten? Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, der nicht niedergerissen wird.“ Die wesentliche Arbeit an dem neuen Tempelbau geschah in den ersten zehn Jahren. Während dieser Zeit ging das religiöse Leben und der kultische Betrieb ohne Unterbrechung weiter. – Anlässlich des Jahrestages der Thronbesteigung des Herodes fand im Jahre 10 v. Chr. die offizielle Einweihung des neuen Tempels statt. Bei dieser Gelegenheit, so berichtet der schon mehrmals zitierte Historiker Flavius Josephus, „freute sich das ganze Volk... dann opferte der König dreihundert Ochsen, und wer es sich leisten konnte, brachte so viele Tieropfer dar, dass es unmöglich ist, eine genaue Rechnung aufzustellen“ (Jüd. Alt. XV 421 ff.). Übrigens bildeten sich schon bald erste Legenden um den Tempelbau, von dem man annahm, dass er unter Gottes besonderem Schutz stand. So wurde behauptet, es habe während der ganzen Bauzeit nur nachts geregnet, sodass die

3/2023 23 Arbeit zu keiner Zeit durch ungünstige Witterung behindert gewesen sei. Das Werk vieler Jahrzehnte Bei der Einweihung war der Tempel freilich noch lange nicht fertiggestellt. Es dauerte z. B. weitere acht Jahre, bis die Umfassungsmauern, die Hallen und Höfe alle vollendet waren. Insgesamt wurde fünfundachtzig Jahre an dem gewaltigen Werk gearbeitet. In einer Streitrede, in der Jesus von seinem Leib als vom „Tempel“ spricht, den er „in drei Tagen wieder aufrichten werde“, halten ihm die Juden entgegen: „Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten?“ (Joh 2,20). Wenn dieser Vorwurf historisch zu datieren ist, müsste er im Jahr 26 (oder 27) n. Chr. erhoben worden sein. Endgültig abgeschlossen wurde der Tempelbau erst unter dem römischen Landpfleger Albinus (62–64 n. Chr.) Wie schon angedeutet, war man in der ganzen damaligen Welt voller Bewunderung für dieses Bauwerk. In der Tat bot es sich den ankommenden Besuchern eindrucksvoll dar. Schon von weitem konnte man die prächtige Anlage sehen, die wie ein schneebedeckter Hügel in leuchtendem Glanz erstrahlte. Die Einzigartigkeit dieses Schauspiels veranlasste einen Rabbiner in Babylon zu der (später viel zitierten) Bemerkung: „Wer den Tempel des Herodes nicht gesehen hat, hat niemals ein wirklich schönes Bauwerk kennen gelernt.“ Freilich war es nicht nur der äußere Glanz, der den Tempel für einen frommen Juden zur „Freude der ganzen Erde“ machte (Ps 48,3), sondern der Glaube, dass hier die „Wohnung Gottes“ war, die Stätte der göttlichen Gegenwart. Auch wenn man sich mit König Salomo bewusst war, dass die Himmel Gott nicht zu fassen vermögen, „wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe“ (1 Kön 8,27), so empfanden doch viele wie die Beter von Psalm 84: „Ja, besser ist ein einziger Tag in deinen Höfen als tausend andere“ (Ps 84,11). Tragisch ist, dass dieses Bauwerk von höchstem künstlerischen und religiösen Rang nur ganze fünf Jahre nach seiner Vollendung bestand. Dann wurde es im Jahre 70 n. Chr. von den Soldaten des römischen Feldherrn Titus dem Erdboden gleichgemacht. Der Tempelplatz Schauen wir uns den Jerusalemer Tempel, wie wir ihn aus Rekonstruktionen kennen, näher an: Die Besu- Herodianische Quader im Unterbau des Tempelplatzes Alltag zur Zeit Jesu Alltag zur Zeit Jesu

24 3/2023 IM LAND DES HERRN cher gelangen auf den Tempelplatz durch Tore, die acht bis zwölf Meter hoch sind, zwei befinden sich im Süden, vier im Westen, je eines im Norden und im Osten. Für gewöhnlich kommen die Pilger von Süden, wobei sie sich zunächst auf einem gepflasterten Platz an der Südmauer sammeln. Dabei haben sie Gelegenheit, sich in einem Gebäude mit vielen in den Felsen gehauenen Wasserbecken zu reinigen, um den heiligen Bezirk in würdiger Verfassung zu betreten. – Man fühlt sich in diesem Zusammenhang an Psalm 24,3 f. erinnert: „Wer darf hinaufziehen zum Berg des Herrn, wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Der unschuldige Hände hat und ein reines Herz, der seine Seele nicht an Nichtiges hängt und keinen trügerischen Eid geschworen hat“ – Über eine vierundsechzig Meter breite Freitreppe erreichen die Pilger dann zwei Doppeltore („Hulda-Tore“), die nach der einst in Jerusalem wirkenden Prophetin (erwähnt in 2 Kön 22,14) benannt sind und über unterirdische Treppengänge auf den Tempelplatz hinauf führen. Hier befinden wir uns im sogenannten „Vorhof der Heiden“, dem ersten Vorhof der Tempelanlage, der (wie der Name sagt) auch von Nichtjuden betreten werden darf. Dieser Vorhof ist von einer Mauer umschlossen, an deren Innenseite überdachte Säulengänge um den ganzen Tempelplatz laufen. Die Säulenhalle an der Ostseite wird „Halle Salomos“ genannt, weil sie der Überlieferung nach von König Salomo erbaut worden sein soll. Von Jesus lesen wir, dass er zur Winterszeit in der Halle Salomos auf und ab ging und bei dieser Gelegenheit mit den Juden ein Streitgespräch über seine Messianität führte (vgl. Joh 10,22 f.). An der Südseite des HeidenVorhofs steht im Bereich der heutigen al-Aqsa-Moschee eine 185 Meter lange dreischiffige Basilika mit gewaltigen Säulen, die mit korinthischen Kapitellen geschmückt sind. Man vermutete, dass der Hohe Rat zur Zeit Jesu hier seine Sitzungen abhielt und dass Jesus aus dieser Halle (die auch als Markthalle verwendet wurde) die Verkäufer und Geldwechsler vertrieben hat. In der Mitte des Vorhofs der Heiden trifft der Besucher auf eine Balustrade aus 1,50 Meter hohen Säulen, die durch Steinplatten verbunden sind und den inneren Tempelbezirk abgrenzen. In dieser Balustrade gibt es dreizehn Durchgänge, an denen Schrifttafeln angebracht sind, die Titus-Bogen Rom: die Beutestücke des Jerusalemer Tempels werden in einem Triumphzug nach Rom gebracht © Raynald Wagner Treppenaufgang vor dem „Hulda-Tor“, rechts die östliche Toranlage

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