Im Land des Herrn | 77. Jahrgang | 2023 - 3

22 3/2023 IM LAND DES HERRN zu finden. Die Pilger aus Galiläa (zu denen auch die Heilige Familie gehört), die jährlich wenigstens einmal in Jerusalem erscheinen, kommen wohl bei Familien unter, mit denen sie eine längere Bekanntschaft verbindet. Es ist auch möglich, wie wir es in späteren Jahren von Jesus und seinen Jüngern hören, dass man außerhalb der Stadt (z. B. in Betanien) bei Freunden übernachtet. Für Wallfahrer, die keine persönlichen Kontakte zu Jerusalemer Familien haben, gibt es öffentliche Herbergen, die zu den Festzeiten allerdings hoffnungslos überfüllt sind. So muss ein Großteil von ihnen die Nacht im Freien verbringen. Das Paschafest dauert übrigens acht Tage (das Wochenfest einen Tag, das Laubhüttenfest sieben Tage). Ob die Wallfahrer die ganze Festzeit oder nur einige Tage in Jerusalem anwesend sein mussten, um ihrer Wallfahrtspflicht zu erfüllen, können wir aufgrund der uns verfügbaren Quellen nicht entscheiden. Vermutlich blieb es den Einzelnen überlassen, die Dauer ihres Aufenthalts in der Heiligen Stadt zu bestimmen. Der Tempel des Herodes Wir verlassen nun unsere galiläische Pilgergruppe und wenden uns in unserer Darstellung des „Alltags Jesu“ ganz dem Jerusalemer Tempel zu, der bis zu seiner Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. den jüdischen Alltag in der Form prägte, dass er jedem frommen Israeliten als die Heilige Stätte schlechthin galt, an der Gott Tag für Tag die gesetzlich vorgeschriebenen Opfer dargebracht wurden. Der Tempel, den Jesus erlebte, war von Herodes dem Großen (dem „Kindermörder“ des Evangeliums) vollständig erneuert worden. Im Jahre 20/19 v. Chr. begann man mit den Arbeiten, wobei Herodes durch Errichtung von Stützmauern den bisherigen Tempelplatz auf die doppelte Größe erweiterte, d. h. der neue Tempelbezirk bildete eine Rechteck von ca. 480 Meter Länge und 300 Meter Breite. Herodes scheute keine Kosten und trieb einen erheblichen Aufwand an Menschen und Material. Zunächst warb er zehntausend Arbeiter an. Dann ließ er tausend Priester und Leviten für die Gestaltung des heiligen Bezirkes in der Maurerkunst unterweisen. Für die Planung wurden die größten Baumeister der damaligen Welt herangezogen. Frühzeitig wurden in den umliegenden Steinbrüchen die benötigten Steine vorbereitet. Um sie herauszubrechen, bohrte man Löcher in den Fels, in die man Holzkeile trieb. Dann wurden die Holzkeile gewässert, wobei sie anschwollen und den Stein in der Bohrlinie heraus sprengten. Die Felsblöcke für die Außenmauern des Tempels bestanden aus riesigen Quadern, die im Durchschnitt neun bis zwölf Meter lang und über einen Meter hoch waren. Dass diese großen Steine (und natürlich erst recht die aus ihnen errichteten Bauwerke) allenthalben Bewunderung erregten, hat uns der Evangelist Markus in einer beiläufigen Bemerkung eines Jesus-Jüngers überliefert: „Als Jesus den Tempel verließ“, heißt es bei Mk 13,1, „sagte einer von seinen Jüngern zu ihm: Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten!“ – Jesus, der an die Zerstörung Jerusalems denkt, dämpft die Begeisterung des Jüngers mit dem Hinweis: „Siehst du diese großen Bauten? Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, der nicht niedergerissen wird.“ Die wesentliche Arbeit an dem neuen Tempelbau geschah in den ersten zehn Jahren. Während dieser Zeit ging das religiöse Leben und der kultische Betrieb ohne Unterbrechung weiter. – Anlässlich des Jahrestages der Thronbesteigung des Herodes fand im Jahre 10 v. Chr. die offizielle Einweihung des neuen Tempels statt. Bei dieser Gelegenheit, so berichtet der schon mehrmals zitierte Historiker Flavius Josephus, „freute sich das ganze Volk... dann opferte der König dreihundert Ochsen, und wer es sich leisten konnte, brachte so viele Tieropfer dar, dass es unmöglich ist, eine genaue Rechnung aufzustellen“ (Jüd. Alt. XV 421 ff.). Übrigens bildeten sich schon bald erste Legenden um den Tempelbau, von dem man annahm, dass er unter Gottes besonderem Schutz stand. So wurde behauptet, es habe während der ganzen Bauzeit nur nachts geregnet, sodass die

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