Im Land des Herrn | 78. Jahrgang | 2024 - 2

IM LAND DES HERRN 30 2/2024 ohne sich schämen zu müssen heißt in diesem Fall: Man darf sich vor dem Partner so geben, wie man ist, man muss nichts verheimlichen, nichts beschönigen. Man fühlt sich vom anderen angenommen und ist mit ihm vertraut. Wenn man nach einer griffigen Definition für „das Paradies“ sucht, ist man nicht schlecht bedient, wenn man im Sinn des eben Dargelegten sagt: „Das Paradies ist (bzw. wäre!) überall da, wo ich vor meinen Mitmenschen nackt sein darf, ohne mich schämen zu müssen.“ Der Sündenfall Bekanntlich hat Gott dem Menschen die Herrschaft über die ganze Schöpfung übertragen. Nur eine einzige Einschränkung war ihm auferlegt: Von dem in der Mitte des Gartens stehenden Baum der Erkenntnis von Gut und Böse durfte er nicht essen. Damit sollte der Mensch offenbar daran erinnert werden, dass ihm eine Schranke gesetzt ist. Er trägt zwar Göttliches in sich (er ist Ebenbild Gottes), aber er ist nicht selber Gott. Er ist seinsmäßig begrenzt und es ist ihm nicht alles erlaubt, was machbar ist. – Diese Grenze hat der Mensch überschritten. Er wollte „sein wie Gott“. – Die Stimme, die ihn in diese verderbliche Richtung lockt, wird vom Erzähler in eine Schlange verlegt. Aber diese Schlange ist letztlich nur eine Verkörperung von dunklen und rebellischen Tendenzen, die im Menschen selbst schlummern. Eva tut den ersten Schritt und greift nach der verbotenen Frucht. Adam ist aber nicht viel besser als seine Gefährtin. Er steht schon bereit und muss nicht lange „verführt“ werden. Ohne sich zu wehren oder zu entsetzen, isst er mit. – Die „neue Erkenntnis“ trifft sofort ein, aber in ganz anderer Weise, als sie der Mensch erhofft hat. Der Zustand der „Unschuld“, in dem jeder vor dem anderen ganz selbstverständlich „nackt“ war und sein durfte, ist dahin. Die Menschen beginnen, sich vor einander zu verstecken und zu schämen. Und in gleicher Weise ist ihre Beziehung zu Gott schwer geschädigt. Sie verbergen sich vor ihrem Freund und Schöpfer ängstlich in den Büschen des Paradieses. – Durch die Sünde, die gottgleiche Selbstherrlichkeit anstrebte, wurde gewissermaßen das Gegenteil erreicht: die Verletzlichkeit, das „Bloßgestelltsein“ des Menschen wurde aufgedeckt und das Verhältnis zu Gott wurde von Angst und Misstrauen vergiftet. Deutung der Ursünde In der theologischen und philosophischen Literatur wurde viel über den eigentlichen Charakter der „Ursünde“ spekuliert. Besonders anregend erscheinen dabei Deutungen, die von einer gewissen Unvermeidbarkeit der Sünde ausgehen. Die Vertreter dieser Richtung sagen: Mit dem „Essen vom Baum der Erkenntnis“ ist das Erwachen des heranwachsenden Menschen zum vollen Bewusstsein bezeichnet. Indem der Mensch „Gut und Böse“, d. h. seine Verantwortung für die moralische Qualität seiner Handlungen erkennt, verlässt er das „Paradies der Kindheit“, wo er von vielen Sorgen verschont geblieben war, weil sie einfach noch im Unbewussten schlummerten. – Wenn vom Baum der Erkenntnis der Tod kommt („sobald du davon isst, wirst du sterben!“), dann ist das in dieser Deutung insofern zutreffend, als das Thema „Tod“ im Kinderparadies nicht existiert hat. Erst mit fortschreitendem Bewusstsein erlebt der Mensch das Sterbenmüssen als sein unvermeidliches Schicksal. (Näher können wir hier auf solche Spekulationen nicht eingehen.) Sündenfall, Bernwardstür des Hildesheimer Domes

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