Im Land des Herrn | 78. Jahrgang | 2024 - 3

IM LAND DES HERRN 28 3/2024 sich der eine ganz selbstverständlich über den Segen des anderen freuen. Die Bevorzugung des einen erschiene dem anderen nicht spontan als Bedrohung. Aber diese Zeiten sind leider vorbei. Die Mahnrede Gottes geht zum einen Ohr Kains hinein und zum anderen hinaus. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Der Mord und das Verhör Unser Text malt den Brudermord nicht aus. Er sagt lediglich (nachdem Kain den Abel eingeladen hat, mit ihm aufs Feld zu gehen – der Text ist an dieser Stelle übrigens wieder einmal verderbt und wohl von späteren Abschreibern ergänzt worden): „Kain stand auf wider Abel seinen Bruder und tötete ihn.“ Dass hier noch einmal das „Bruder-Sein“ Abels betont wird, mag eine versteckte Begründung der furchtbaren Tat sein: gerade weil Abel und Kain Brüder sind, ist der Segen des einen eine solche Herausforderung für den anderen. Wären sie sich ferner gestanden und einander gleichgültig gewesen, wäre es nicht zum Mord gekommen. – Unmittelbar nach der Tat tritt Gott auf den Plan. Er stellt (ähnlich wie nach der Ursünde der Stammeltern) den Übeltäter zur Rede. Auf Gottes Frage nach seinem Bruder gibt Kain eine freche Antwort: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ – Man kann darin ein Wortspiel sehen: Bin ich etwa der Hirte des Hirten Abel, der Hüter des Schafhüters? Gott lässt sich auf keine Diskussion ein und sagt dem Mörder seine Schuld direkt zu. – Es ist übrigens möglich, dass Kain den ermordeten Bruder bereits verscharrt hat und sich bei den Menschen mit seinem „ich weiß nicht, wo er ist“ vorbeimogeln kann. Aber an Gott kommt er nicht vorbei. – Berühmt geworden ist die Formulierung, die der anklagende Gott gegenüber dem Mörder gebraucht: „Das Blut deines Bruders schreit aus dem Acker zu mir.“ Blut und Leben gehören nach alttestamentlicher Anschauung allein Gott. Wo gemordet wird, greift der Mensch in Gottes Besitzrecht ein. Leben zu verderben, Der Brudermord auf der Bernwardstür des Hildesheimer Domes

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