Im Land des Herrn | 78. Jahrgang | 2024 - 3

IM LAND DES HERRN 30 3/2024 der ursprünglichen Gottesbeziehung herausgefallen ist. – Trotzdem wird man sagen dürfen: Der schwer einzuordnende und irgendwie unheimliche Stamm der Keniter hat für das Bild, das unser Autor von Kain und seinem Schicksal malt, sicherlich so manche Linie und Farbe geliefert. Eine moderne Auslegung Die biblische Darstellung des ersten Brudermordes bietet Anregungen für mannigfaltige Auslegungen vor allem psychologischer Art. Wer unter mehreren Geschwistern aufgewachsen ist, weiß aus schmerzlicher Erfahrung, dass Brüder und Schwestern nicht nur Freunde sind, die einander fördern, sondern dass sie sich öfter als Konkurrenten fühlen, die einander zu verdrängen und auszustechen suchen. Es ist hier nicht der Ort, diese Beobachtungen näher auszuführen. Nicht auf das unübersehbare weite Feld der Psychologie wollen wir zum Abschluss unseres Beitrags einen Blick werfen, sondern auf ein Beispiel aus der Nachkriegs-Literatur. Der bei uns wenig bekannte jüdische Dichter Uriel Birnbaum hat 1957 eine Reihe von Biblischen Sonetten erscheinen lassen, unter denen das folgende Kains Schicksal nach der Tat reflektiert. Viele Jahrhunderte durch ist Kain durch die Welt gehetzt, als ewig Verbannter. Wenn er an Abel denkt, dem solches erspart blieb, dann gerät er aufs neue über den Bruder in Zorn. So sucht er Abels Grab auf (das nach jüdischer Tradition im Bereich des alten Paradieses liegt) und gesteht seinem Bruder: Noch immer bist du der Bevorzugte. Und wenn ich könnte, würde ich dich heute wieder erschlagen! – Ein bitteres Bekenntnis, das uns zeigt, wie wenig Kain zu sich selbst gefunden hat und wie sehr er seinen Wert noch immer von Abel her bestimmt. – Hören wir den Text des kunstvoll gebauten Sonetts: Nacht war in Eden. Durch den Kreis der Engel, Wo Schwert mit Schwert Flammenkreise ergab, Wand sich den Wall erkletternd, mit Geschlängel Der alte Kain – sprang von dem Wall hinab. Und ging, gestützt auf seinen Eisenstab, Durch Edens duftdurchhauchte dunkle Süße. Er suchte und er fand des Abels Grab. Und bückte sich und sprach, als ob er’s grüße: „Abel, ich komme nicht, damit ich büße, Was ich an dir getan, in Zorn entloht. Die von neunhundert Jahren müden Füße Hierher geführt hat neuen Zorns Gebot. Von Leben weißt du nichts noch Lebens Not. – Gern schlüg’ ich dich, Beglückter, nochmals tot!“ Kain und Abel, Fenster der Pfarrkirche Oelde/Münsterland

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=