Im Land des Herrn | 79. Jahrgang | 2025 - 1

2/2025 35 Erlebnisse beim Lesen Schon als Kind und mehr noch als Jugendlicher war ich ein unersättlicher Leser. Ich verschlang einfach alles, was mir in die Finger kam und sich nicht wehren konnte. Zwei Gattungen von Büchern aber waren es, die ich besonders liebte, zum einen Märchen aller Art, zum Beispiel jene der Brüder Grimm oder jene von Ludwig Bechstein, zum anderen Abenteuerromane, die in den blutigen Gründen des Wilden Westens oder in orientalischen Palästen, Harems, Städten und Wüsten spielten. Der erste Band einer populären Serie von Karl May trägt denn auch den bezeichnenden Titel „Durch die Wüste“. Wozu diese Kindheitserinnerungen? Nun, im Schrifttext aus der Apostelgeschichte entdecke ich einige nahezu märchenhaften Züge, aber auch Bausteine einer Abenteuergeschichte. Die Intervention des Engels, die Tätigkeit des Geistes, auch die Tatsache, dass Wasser punktgenau zur Stelle ist, wenn es gebraucht wird – all das schafft eine leicht unrealistische, märchenhafte Atmosphäre. Aber es sind auch Elemente eines klassischen Abenteuers in die Erzählung eingewoben. Ein exotisches Land taucht am Horizont auf, Äthiopien, weit im Süden, wo die Welt endet. Der Mann aus Äthiopien und seine Begleiter, die für seinen Transport im Wagen sorgten (letztere sind impliziert in dem Befehl in V. 38), müssen mutig gewesen sein, um sich auf eine solche Expedition einzulassen, die leicht vier Monate und mehr dauern konnte. Und mittendrin, im Zentrum des Geschehens, treffen wir auf eine alte Schriftrolle von einem Typ, der den Geheimplan zu einem verborgenen Schatz enthalten könnte. Der Schatz, den die Rolle in sich birgt, erweist sich in diesem Fall als eine Botschaft, und sie wiederum besteht aus sechs Zeilen aus dem Propheten Jesaja, der damit die Figur des leidenden Gottesknechts beschreibt. Es ergeben sich mehrere Möglichkeiten, das Textstück zu verstehen, wie der Äthiopier selbst andeutet: „Spricht der Prophet über sich selbst oder über jemand anderen?“ (V. 34). Die erste Lesart Das führt uns zur Lesart Nummer eins. Nehmen wir an, dass der Prophet über sich selbst spricht oder dass seine Schüler sein schlimmes Schicksal beschreiben. Er wurde verfolgt und er litt, aber er tat es so sanftmütig wie ein Lamm, das sprichwörtliche Opfertier. Er hat keine Kinder und keine Nachkommenschaft, die seine familiäre Linie fortführen könnte (letzteres ein wichtiger Gesichtspunkt im alten Israel). Sein Leben wird einfach von der Erde entfernt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dieser eher fatalistischen Sicht der Dinge kann man eine leicht symbolische Wendung geben. Weg nach Gaza Weg nach Gaza Darstellung der Perikope in der Taufkapelle von S. Maria della Misericordia, Capodimonte, Neapel

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