Im Land des Herrn | 79. Jahrgang | 2025 - 1

36 2/2025 IM LAND DES HERRN Vielleicht beschreibt die prophetische Stimme ja eine korporative Persönlichkeit, die als Verkörperung eines Volkes zu verstehen ist. Das würde dann auf das Volk Israel zielen oder auf Teile davon in den Tagen seines Exils. Diese Interpretation kann in beiden Teilen klassifiziert werden als eine historisch-kritische Auslegung des Textes in der modernen Exegese oder als Literalsinn (= Schriftsinn Nr. 1). Die zweite Lesart Aber das ist noch nicht die volle Wahrheit des Abschnitts, die Philippus im Sinn hatte, wenn er den Äthiopier fragt: „Verstehst du auch, was du da liest?“ (V. 30). Sein eigenes, neues Verständnis der Passage ist streng christologisch ausgerichtet (allegorischer Sinn = Schriftsinn Nr. 2). Auf einer ersten Ebene bezieht sich der ganze Text dann von der ersten bis zur sechsten Zeile auf den Tod Jesu Christi, des wahren Gottesknechts, und ein Spielraum für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird nicht erkennbar. Dieses Verständnis suggerieren manche Übersetzungen. Aber Vorsicht! Der Text besitzt auch eine weitere Dimension. Die ersten drei Zeilen, von „wie ein Schaf“ bis „er öffnete nicht seinen Mund“ bleiben auf den Tod Jesu fixiert. Aber ab Zeile vier erfolgt in der Apostelgeschichte, die sich am Text des griechischen Alten Testaments orientiert (Septuaginta), ein Umschlag mit einer Revision von Jesu Schicksal. Wir übersetzen nicht wie in Jesaja 53,8 im hebräischen Alten Testament (Masora): „Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft“, sondern vielmehr: „In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben“, das heißt, das ungerechte (Todes-)Urteil über ihn wurde revidiert und seine Rehabilitierung beginnt. Dann lesen wir nicht „doch wen kümmert sein Geschick?“ (AT), sondern „sein Geschlecht, wer wird es beschreiben“, im Sinn von „seine Nachkommen, wer kann sie zählen“, weil Jesus der Erstgeborene von Generationen von Brüdern und Schwestern ist (vgl. Röm 8,29). Mit der letzten Zeile verhält es sich dann eher einfach. „Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten“ (AT), ändern wir um in „denn weggenommen wird von der Erde sein Leben“, oder plastischer „sein Leben wurde hinaufgehoben“, und verstehen das als eine Jesaja, Figur vom Hochaltar der Wallfahrtskirche Maria Taferl mit dem Abschnitt aus Psalm 35,8b, aus dem Lateinischen übersetzt: „Wegen der Verbrechen meines Volkes hat er sie geschlagen“ Biblische Rollen in den dafür verwendeten Tongefäßen, nachgestellte Auffindungssituation im Bibelhaus Erlebnismuseum Frankfurt (mit freundlicher Genehmigung)

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