Franziskaner Herbst 2023 Weitere Themen: Letzte Generation »Wir sind der Feuermelder« +++ Franziskanische Geschichte Ordensleute gründen Banken +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de Die Lage ist kompliziert … Christen in China
4 Nachrichten und Anregungen 6 China • China heute – Ein kleiner Einstieg in ein großes Thema • Die Wurzeln des Christentums in China • Zur Situation der katholischen Kirche • Auf den Spuren Matteo Riccis in China 20 Ukraine Odessa war eines der ersten Ziele 23 Geistlicher Wegbegleiter 27 Fratelli tutti 28 Christlich/Islamisch Beten 30 Letzte Generation »Wir sind der Feuermelder« 35 Franziskanischer Freiwilligendienst in Europa 38 Franziskanische Geschichte Ordensleute gründen Banken – Alternative Wirtschaftsmodelle sind möglich 41 In memoriam 42 Franziskaner sein Franziska Katharina Spang OSCCap 44 Kursprogramm 45 Bruder Rangel kocht 46 Kommentar 47 Impressum Germanicus auf Reisen Inhalt Der »Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBA DE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank LINKS: © PICTURE-ALLIANCE.COM; RECHTS: © STEFAN FEDERBUSCH OFM Franziskanische Banken Die Werte, die Franziskus lehrte, können auch auf die Wirtschaft angewendet werden. So beschreibt Dr. Johannes-Baptist Freyer OFM die Entstehung und Entwicklung von Genossenschaftsbanken und Kreditinstituten auf der Grundlage der franziskanischen Theologie. Seite 38 Letzte Generation Sie werden herablassend als »Klimakleber« bezeichnet. Doch die Klimakrise ist wahrscheinlich das wichtigste Thema unserer Zeit. Wir haben mit der Aktivistin Josephine Schwenke von der »Letzten Generation« über Protest, Aktionsformen und die Chance, etwas zu verändern, gesprochen. Seite 30
3 FRANZISKANER 3|2023 »Bayerisch-China« Das oberpfälzische Dietfurt an der Altmühl ist ein ganz besonderer Flecken Bayerns. Hier betreiben wir Franziskaner seit 1977 neben unserem dortigen Kloster das Meditationshaus St. Franziskus, das älteste christliche Zen-Kloster im deutschsprachigen Raum. Noch außergewöhnlicher ist aber wohl die Lokaltradition, nach der die Einwohner von Dietfurt als Chinesen bezeichnet werden und Dietfurt als »Bayerisch-China«. Eine Legende besagt, dass der Fürstbischof von Eichstätt einst feststellte, dass die Dietfurter zu wenig Abgaben entrichteten. So schickte er seinen Kämmerer, um nach dem Rechten sehen. Die Dietfurter aber waren vorgewarnt. Sie verschlossen ihre Stadttore und gewährten dem Gesandten keinen Einlass. Verärgert berichtete der Kämmerer später seinem Bischof, dass die Dietfurter ihm »wie die Chinesen« vorkämen. Sie verschanzten sich »hinter ihrer Mauer«. Seit 1928 wird im Dietfurter Fasching die »chinesische Tradition« des Ortes aufgegriffen. Am letzten Donnerstag in der Faschingszeit, dem »Unsinnigen Donnerstag«, lädt die Stadt zum Chinesenfasching ein. Am großen Maskenumzug mit rund 50 Wagen, Fußgruppen sowie mehreren Musikkapellen nimmt auch regelmäßig eine Delegation des chinesischen Generalkonsulats in München teil. – Dietfurt ist als »Bayerisch-China« zweifelsohne ein Kuriosum. Was fällt Ihnen spontan zu China ein? Was wissen Sie über dieses Land, über die Völker und Kulturen, die auf seinem Staatsgebiet leben, über seine Geschichte, die Religionen und die aktuelle Lage in Gesellschaft und Politik? Immer wieder hören wir in den Medien von der expandierenden Wirtschaft dieses neben Indien bevölkerungsreichsten Landes der Erde, aber auch von gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen. Nicht nur für deutsche Politikerinnen und Politiker führt die Spannung zwischen wirtschaftlichen Interessen und dem Eintreten für Menschenrechte immer wieder zu einem Spagat. Christliche Missionare werden seit den frühen 1950er-Jahren nicht mehr in China geduldet und die Kirchen streng kontrolliert. Seitdem organisieren sich viele Christinnen und Christen in China in den Hausgemeinden der Untergrundkirchen, andere in den offiziell vom Staat anerkannten Gemeinden. Was bedeutet dies für das christliche Leben in China heute? Und welche Auswirkungen hat diese Situation auf die China-Politik des Vatikans? All diesen Fragen gehen wir in der vorliegenden Ausgabe des FRANZISKANERS nach. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und schöne herbstliche Tage! Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister) © ALESSANDRA SCHELLNEGGER – PICTURE-ALLIANCE.COM
4 FRANZISKANER 3|2023 Der Garten des Sonnengesangs in Hannover Vor hundert Jahren lagen Teile des Botanischen Garten Hannovers dort, wo heute der Garten des Sonnengesangs zu finden ist. 1927 wurde dort der Grundstein gelegt für eine neue Niederlassung der Franziskaner in Hannover-Kleefeld. Mittlerweile sind die Franziskaner an diesem Ort längst Geschichte, doch die von ihnen einst aufgebaute Kirche St. Antonius und die besondere Gestaltung des ehemaligen Klostergartens künden noch heute von ihrer einstigen Präsenz. Schon vor dem Weggang der letzten Brüder im Jahr 2010 hatte sich ein Team um Georg Wippler gebildet, das sich der Idee eines franziskanisch inspirierten Gartens verschrieben hatte. 2011 konnte er eröffnet werden. Entstanden ist eine Oase der Stille, die seither immer wieder neu gestaltet wird. Der gerne besuchte Garten bietet nicht nur Erholung, sondern ist auch eine gelungene und lebendige Erinnerung an die franziskanische Geschichte des Ortes. Zu den sieben Stationen des Sonnengesangs kommen Stationen, die der franziskanischen Spiritualität entsprechen: ein Gruß an die Gottesmutter Maria, die Gemeindewiese zur Begegnung und ein überdachter Platz zum Ausruhen. Den Garten des Sonnengesangs finden Sie hinter der Kirche St. Antonius in der Kirchröder Straße 12a, 30625 Hannover. Öffnungszeiten: Mo bis Fr (April bis Oktober): 16 bis 18 Uhr, (November bis März): 16 bis 17 Uhr. An Wochenenden sowie feiertags ist der Garten von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Führungen sind auch außerhalb der Öffnungszeiten möglich. Anfragen an den Gemeindereferenten Thomas Wirth unter Telefon 05 11 9 55 99 18 oder E-Mail: wirth@kirche-mit-herz.de Viele Orte sind von franziskanischen Gemeinschaften oder einzelnen franziskanisch inspirierten Kunst- und Kulturschaffenden gestaltet worden. Wir stellen sie vor … © GANGOLF BRAND Franziskanische Orte entdecken
5 FRANZISKANER 3|2023 Kursübersicht auf Seite 44 Eines unserer Angebote Bundesverdienstkreuz für Franziskaner Hans-Joachim Stobbe Der Franziskaner Hans-Joachim Stobbe erhielt am 10. Oktober 2023 das Bundesverdienstkreuz für sein jahrzehntelanges Engagement im sozialen und kirchlichen Bereich als Franziskaner und Arbeiterpriester. Übergeben wurde die Ehrung von dem Wuppertaler Oberbürgermeister Uwe Schneidewind im Rathaus der Stadt. Peter Amendt OFM würdigte vor allem den außergewöhnlichen Lebenseinsatz des unkonventionellen Priesters, der in Obdachlosenwohnheimen lebte und sich dort für die Menschen einsetze. Er ist trotz Ruhestand immer noch aktiv bei der Initiative »Chance! Wuppertal!«, die sich aus einer von ihm gegründeten Hausaufgabenhilfe entwickelte und heute Teil des Vereins »vision:teilen« ist. Die Initiative bietet Sprachkurse für Geflüchtete an und organisiert Ferienfreizeiten, Schwimm- und Kochkurse, steht für Beratungs- und seelsorgerische Gespräche zur Verfügung. Nähere Informationen ▶▶ www.franziskaner.de Menschen für Mitlebekonvent gesucht Die Franziskanerinnen von Gengenbach sind dabei, das Projekt einer Mitlebegemeinschaft zu gestalten, und suchen Interessierte für den Aufbau. Sie wollen neue Perspektiven bieten mit einer gemeinsamen Lebensform, die ein franziskanisch-spirituelles Leben ermöglicht. Zusammen mit Interessierten möchten sie die franziskanische Lebensweise und Traditionen in Harmonie mit den weltlichen Alltagsanforderungen bringen. Dies soll in Form der täglichen Meditation und bei gemeinsamen Projekten in Haus, Hof, Garten und der Betreuung von alten Menschen weitergegeben werden. Interessierte können sich bei den Schwestern telefonisch oder per E-Mail melden. Nähere Informationen ▶▶ www.franziskanisch.net Ansprechpartnerin: Schwester Ruperta Krieger E-Mail: Ruperta.Krieger@gmx.de, Tel.: 01 71 11 84 32 3 OBEN © FIZKES/STOCKADOBE.COM | UNTEN LINKS © STEFANIE VOM STEIN – MEDIENZENTRUM STADT WUPPERTAL 3. bis 5. November 2023 Gewaltfreie Kommunikation Einführung in Methoden und Haltungen der Gewaltfreien Kommunikation nach Dr. Marshall B. Rosenberg mit Übungen und Praxisbeispielen. Das Seminar soll als eine erste Erfahrung mit den Grundlagen der Gewaltfreien Kommunikation dienen. Sie lernen unter anderem Ihr eigenes Kommunikationsverhalten kennen und erfahren, wie Sie sich Ihrer Denk- und Verhaltensmuster bewusst werden können. Sie erhalten Werkzeuge, um sich selbst zu reflektieren, Ihre alten Muster zu verändern und achtsam zu kommunizieren. Sie lernen, aus Vorwürfen und Kritik Ihres Gegenübers die Anliegen und Bedürfnisse herauszuhören, und können dadurch die Qualität Ihrer beruflichen und privaten Beziehungen verbessern. Leitung: Aadel Maximilian Anuth und Melanie Heinz Haus Ohrbeck bei Osnabrück Tel.: 0 54 01 3 36-0 E-Mail: info@haus-ohrbeck.de Nähere Informationen ▶▶ www.haus-ohrbeck.de Grüne Reihe Krone der Schöpfung? Die neue Ausgabe der Zeitschrift Grüne Reihe fragt, wie ein Verständnis von Natur als Mitwelt aussehen kann und beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven das Selbstverständnis des Menschen und seine Beziehungen zur Mitwelt. Bestellung: kostenlos unter bildung@franziskaner-helfen.de oder in digitaler Form auf franziskaner-helfen.de/mediathek/gruene-reihe
6 FRANZISKANER 3|2023 Christen in China
7 FRANZISKANER 3|2023 China heute Ein kleiner Einstieg in ein großes Thema Thomas Meinhardt Was wissen Sie über die Volksrepublik China? Wie stehen Sie zu Staat und Gesellschaftssystem des Landes? Wie sollte Deutschland die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China gestalten? Und wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Vatikan und chinesischer Staatsführung? Wie leben die Christinnen und Christen in diesem – laut Verfassung – atheistischen Staat? Fragen Sie sich bereits an dieser Stelle, warum Sie China überhaupt interessieren sollte? Dann geht es Ihnen wie den meisten Deutschen. Die Kenntnis hierzulande vom kommunistischen »Reich der Mitte« ist eher gering bis holzschnittartig, und die Einstellung gegenüber dem Land wurde in den letzten Jahren immer negativer. Übrigens ganz anders als bei vielen Chinesinnen und Chinesen: Viele interessieren sich für deutsche Kultur und Gesellschaft – nicht nur für deutsche Autos – und haben von Deutschland ein eher positives Bild. Warum wir uns intensiver mit Gesellschaft, Kultur und Politik Chinas beschäftigen sollten, liegt in einer globalisierten Welt, mit ihren engen gegenseitigen Abhängigkeiten, auf der Hand: Die VR China ist mittlerweile die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nach den USA. Mit gegenwärtig 300 Milliarden Euro ist sie der größte Handelspartner Deutschlands – und das bereits seit sieben Jahren. China spielt mit einer Bevölkerungszahl von 1,4 Milliarden Menschen in der internationalen Politik eine immer zentralere Rolle. Ohne den derzeit größten CO2- Emittenden der Welt (30% des weltweiten CO2- Ausstoßes) ist die wirksame Eindämmung der Klimaerhitzung nicht möglich. Nach Einschätzung vieler Fachleute wird die VR China in wenigen Jahren die USA als größte Wirtschaftsmacht ablösen und die Weltpolitik wesentlich mitbestimmen. All diese Fakten und insbesondere die großen Absatzchancen auf diesem riesigen und zunehmend kaufkräftigen Markt sowie die preiswerten Importe von Industrieprodukten und zentralen Rohstoffen wie den »seltenen Erden« haben in Wirtschaftskreisen bisweilen ein euphorisches Chinabild erzeugt. Die Geschäfte florierten, und da wurden Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber uigurischen und tibetischen Minderheiten, über die Unterdrückung jeglicher Opposition und die fehlende Religionsfreiheit ignoriert oder als Übergangsprobleme behandelt. In Teilen der Politik, bei vielen Medien und in der Mehrheit der Bevölkerung herrscht hingegen schon länger ein deutlich kritischeres Chinabild. Und dies scheint sich mittlerweile als generelle Haltung in Deutschland durchzusetzen. Innenpolitische Repression und Kontrolle der Privatwirtschaft Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Da sind zum einen Berichte über die innenpolitischen Repressionen und die massive Überwachung der eigenen Bevölkerung – mehr als die Hälfte der weltweiten Überwachungskameras sollen in China hängen. Für Schlagzeilen sorgt auch das ausgeklügelte staatliche Social-Scoring-System, wonach jedem Menschen je nach Wohlverhalten ein Punktestand zugeschrieben wird, der das ganze weitere Leben beeinflusst. Denunziantentum und gegenseitige Bespitzelung seien die Folge. Immer wieder wird die deutlich verschärfte Verfolgung jedweder eventuell abweichender Meinung oder eines unangepassten Verhaltens beklagt. Dies gilt auch für die Religionspolitik. So wird von den offiziellen staatlich kontrolCHINESISCHE MAUER: © WUSUOWE/STOCK.ADOBE.COM | ILLUSTRATIONEN IN DER TITELSTRECKE: © STOCK.ADOBE.COM
8 FRANZISKANER 3|2023 lierten christlichen Kirchen nicht nur völlige Loyalität gegenüber Partei und Staat verlangt, sondern auch die aktive Verbreitung der »XI-Jinping-Ideen des Sozialismus« unter den Gläubigen. Gleichzeitig macht es den Eindruck, als würde die chinesische Einparteienherrschaft immer mehr auch zu einer Art Einpersonendiktatur, bei der sich die Macht in Partei und Staat auf XI Jinping konzentriert, der alle Machtpositionen mit seinen eigenen Gefolgsleuten besetzt. Außenpolitisch baut die VR China zunehmend eine militärische Drohkulisse gegenüber der aus ihrer Sicht abtrünnigen Provinz Taiwan auf. Im Raum steht die Androhung einer gewaltsamen »Wiedervereinigung«. Zudem tritt China besonders im pazifischen Raum teils wirtschaftlich werbend, teils militärisch aggressiv als selbstbewusster Gegenspieler der USA auf. Die US-Regierungen der letzten Jahrzehnte sehen die VR China als den zentralen weltpolitischen Gegenspieler und Systemkonkurrenten. Mit Handelsbeschränkungen gegenüber China und politischen und militärischen Bündnissen in der Pazifikregion versuchen die USA, den Konkurrenten einzuhegen. Die politische Unterstützung und gemeinsame Militärübungen mit Russland seitens der VR China – trotz des Angriffskrieges gegen die Ukraine – haben die Spannungen zwischen den USA und China weiter verschärft, auch wenn dem Vernehmen nach Russlands Angriffskrieg bisher nicht mit chinesischen Waffenlieferungen unterstützt wurde. Auch das Verhältnis zwischen den EU-Staaten und China hat sich wahrnehmbar verschlechtert. Dazu trägt auch der deutlich ideologischere Kurs Pekings in der Wirtschaftspolitik bei. Das Ziel scheint eine sehr viel größere Autarkie gegenüber europäischen und US-amerikanischen Importen zu sein. Auffällig sind die zunehmenden bürokratischen Hürden für ausländische Investitionen. Hierzu passt, dass die chinesische Führung unter Xi Jinping die Kontrolle von Staat und Partei über die Privatwirtschaft Schritt für Schritt wieder verstärkt hat – auch um den Preis geringerer Wachstumsraten. Neben dem Motiv der Machterhaltung der KP ist auch die Reduzierung der extrem angewachsenen Kluft zwischen Arm und Reich einer der Gründe. Es ist der VR China zwar in fast beispielloser Weise gelungen, die absolute Armut, die noch vor wenigen Jahrzehnten die große Mehrheit der in China Lebenden erleiden musste, zu überwinden; allerdings leben insbesondere auf dem Land noch Hunderte von Millionen Menschen weiterhin in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Gleichzeitig ist die städtische Mittelschicht deutlich wohlhabender geworden, und es gibt über 600.000 chinesische Millionäre – die meisten nach den USA. Dies ist für den Rückhalt in der Bevölkerung in einem formal sozialistischen Staat durchaus problematisch. Legitimation des Regimes in Gefahr? Gegenwärtig befindet sich die VR China vor allem wirtschaftlich in einer schwierigen Situation: Die Wachstumsraten sind deutlich niedriger als erwartet. Das hat nicht nur mit der oben skizzierten veränderten Wirtschaftspolitik zu tun, sondern auch mit den während der Pandemie immer wieder verfügten und hart durchgesetzten vollständigen Lockdowns selbst bei kleinen Covid-19-Ausbrüchen. Das stark durch den Bausektor und Infrastrukturprojekte getriebene Wirtschaftswachstum – allein 25 % der chinesischen Wirtschaftsleistung wird im Immobiliensektor erwirtschaftet – hat zu einer riesigen Immobilienblase geführt. Millionen bereits von Privatpersonen gekaufte Wohnungen können wegen Zahlungsschwierigkeiten der riesigen Baukonzerne nicht fertiggestellt werden. Dadurch sehen vielen Menschen aus dem Mittelstand ihre Altersversorgung in Gefahr. Zudem stehen nach Schätzungen 50 Millionen Wohnungen leer, viel mehr als absehbar benötigt werden. Zwei riesige Baukonzerne können nur mit Milliarden an staatlichen Zuschüssen vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt Die VR China ist das drittgrößte Land der Erde und mit 1,4 Milliarden Menschen, nach Indien das bevölkerungsreichste. Ees hat eine ca. 5.000-jährigen Zivilisationsgeschichte. In China gibt es heute 24 Städte, in denen jeweils mehr als 5 Millionen Menschen leben, wobei Schanghai mit Bevölkerungszahlen von fast 25 Millionen und die Hauptstadt Peking von fast 22 Millionen die größten sind. Über 90 % der Bevölkerung sind Han-Chinesen, knapp 9 % (ca. 125 Millionen Menschen) gehören zu einer der 55 offiziellen ethnischen Minderheiten. Die VR China ist seit 1949 ein von der Kommunistischen Partei regierter Einparteienstaat und heute nach den USA die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Bezogen auf die Pro-Kopf-Kaufkraft des Bruttoinlandsprodukts liegt die VR China mit 19.200 $ im Jahr 2021 auf Platz 77 vor Thailand (Deutschland mit 58.700 $ auf Platz 19). Während China heute einerseits ein Hightech-Staat mit modernster Infrastruktur in den großen Städten ist, befindet sich insbesondere das ländliche China häufig noch auf der wirtschaftlichen Stufe eines ärmeren Entwicklungslandes. Staatschef und Generalsekretär der Kommunistischen Partei ist seit 2013 Xi Jinping, dessen heutige Machtfülle nur noch mit der Mao Tsetungs vergleichbar ist. Formal ist die VR China ein atheistischer sozialistischer Staat. Dennoch sind fünf »Religionen« offiziell als solche anerkannt: Buddhismus (ca. 18 %), Daoismus (ca. 1 %), Protestantismus (ca. 3 %), Islam (ca. 1,6 %) und Katholizismus (unter 1 %). Sie stehen alle unter starker staatlicher Kontrolle. Zudem praktizieren viele Hundert Millionen Chinesinnen und Chinesen volksreligiöse Praktiken wie Ahnenkult und Feng Shui. Volksrepublik China
9 FRANZISKANER 3|2023 Die in China während der Zeit der Christenverfolgung entstandene Madonna ist in der Art einer buddhistischen Guanyin geschnitzt, eines weiblichen Erleuchtungswesens des Mitgefühls. Die Statue gehört zum Inventar des Forums der Völker. Franziskaner trugen ab 1909 eine Sammlung aus den Missionsgebieten in aller Welt im Franziskanerkloster in Dorsten zusammen. Diese bildete den Grundstock für das Forum der Völker in Werl, das 1962 errichtet wurde. Die chinesische Sammlung ist die umfangreichste Einzelsammlung des Museums. werden, da sie zusammen etwa 470 Milliarden Euro Schulden aufgehäuft haben. Ein Zusammenbruch dieser Konzerne würde weltweite Auswirkungen auf die Finanzmärkte haben und auch internationale Banken in große Schwierigkeiten bringen. Auch viele der chinesischen Provinzen, die finanzpolitisch eine gewisse Autonomie haben, sind völlig überschuldet und müssen die öffentlichen Ausgaben drastisch zusammenstreichen. Zudem herrscht im ganzen Land eine Rekordjugendarbeitslosigkeit von offiziell 20 % – bei gleichzeitiger Überalterung der Gesellschaft als Folge der Ein-Kind-Politik. Die Zukunftsaussichten schwinden, und das Aufstiegsversprechen für Millionen gut ausgebildeter junger Menschen wird nicht mehr eingelöst. Diese Situation hat das Potenzial für größeren sozialen Sprengstoff. Bisher lautete das Versprechen: »Wir garantieren wachsenden Wohlstand für alle.« Im Gegenzug akzeptierte die Bevölkerung die unumschränkte Herrschaft der Partei ohne hörbaren Protest. Dass die Partei- und Staatsführung auf Proteste reagiert, wenn sie ihre Machstellung gefährdet sieht, zeigte die 180-Grad-Wende bei der Corona-Politik. Die strikte Null-Covid-Strategie Chinas führte für die Bevölkerung ganzer Megastädte immer wieder – selbst bei kleinsten Ausbrüchen – zu unhaltbaren Zuständen zum Beispiel bei der Nahrungsmittelversorgung. Als die Proteste nicht mehr einfach einzudämmen waren, wurden trotz deutlich steigender Infektionen plötzlich fast alle Schutzmaßnahmen einschließlich der Testpflicht aufgehoben. Veränderungen durch Proteste der Bevölkerung gab es in den letzten zwei Jahrzehnten auch bei Umweltthemen. Die Belastung durch massive Luftverschmutzung und Smog führte immer wieder zu lokalem Unmut und Streiks. Hier wurde mit Umweltschutzmaßnahmen reagiert und grundsätzlich ein massiver Ausbau erneuerbarer Energie vorangetrieben. So ist China derzeit für die Hälfte der jährlich weltweit neu installierten erneuerbaren Energie – Wasserkraftwerke, Solar- und Windenergie – verantwortlich und der weltgrößte Produzent dieser Anlagen. Auch außenpolitisch läuft für die chinesische Regierung längst nicht alles so wie gewünscht: Ihr »Seidenstraßenprojekt«, mit dem sie ihren weltweiten wirtschaftlichen und politischen Einfluss massiv erhöhen will, wird in einer Reihe von Staaten zunehmend kritisch gesehen, da hauptsächlich chinesische Firmen von den lukrativen Aufträgen profitierten. Wichtige Mitgliedsländer wie Italien und vorher schon die baltischen Staaten und Tschechien steigen wieder aus, auch weil sie politische Abhängigkeit von Peking befürchten. Und afrikanische und asiatische Staaten haben Schwierigkeiten mit der Rückzahlung von chinesischen Krediten für große Infrastrukturprojekte. Mehr Interesse füreinander aufbringen Die Versuchung, einfache Antworten in puncto China zu geben, ist groß. Allerdings zeigt bereits der oben skizzierte erste Überblick, dass eine weitaus differenziertere Beschäftigung nottut, um zu einem sachgerechten Umgang mit dieser Weltmacht zu kommen. Zudem ist es angeraten, zwischen der chinesischen Gesellschaft, die aus vielen Völkern besteht und keineswegs homogen ist, und dem staatlichen Machtapparat unter Führung der KP zu unterscheiden. Die Bundesregierung versucht mit ihrer neuen China-Strategie den Spagat zwischen Partnerschaft und systemischer Rivalität. Inwieweit hieraus eine konsistente Politik entsteht, wird vielleicht in ein paar Jahren beurteilt werden können. Die Aufgabe von Regierungshandeln wäre in jedem Fall Kooperation, beispielsweise bei einer zielstrebigen Klimapolitik und bei der Eindämmung von Kriegen mit konsequenter Einforderung der Einhaltung der UN-Menschenrechtskonvention zu verbinden. Gefordert wäre eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, ohne in vollständige Abhängigkeiten in wichtigen Bereichen zu geraten. Viele der eingangs gestellten Fragen bleiben offen, bei der einen oder anderen haben Sie vielleicht für sich eine Antwort gefunden. Anderes wird auf den folgenden Seiten unserer Titelstrecke thematisiert. Wünschenswert wären sicher direkte Kontakte zu den Menschen, doch eine Reise ins Reich der Mitte ist in der Regel nicht möglich. Muss sie vielleicht auch nicht sein, denn Kontakte können auch zu den vielen Chinesinnen und Chinesen aufgebaut werden, die in Deutschland studieren oder arbeiten. Wenn auch hierzulande das Interesse an der chinesischen Gesellschaft so groß wäre wie das vieler Chinesinnen und Chinesen an Deutschland, dann könnte dies das gegenseitige Verstehen sicher enorm beflügeln. FLAGGE: © STOCK.ADOBE.COM | MADONNA: © FORUM DER VÖLKER
10 FRANZISKANER 3|2023 Die Wurzeln Dirk Kuhlmann Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, das Christentum als eine »chinesische Religion« zu bezeichnen. So weit hergeholt ist es dann aber nicht, kann es doch bereits auf eine – mit Unterbrechungen – fast 1400-jährige Geschichte der Inkulturation in China zurückblicken. Die Pioniere waren Gemeinden der »Leuchtenden Lehre« (Jingjiao 景教), der Assyrischen Kirche des Ostens, die während der Tang-Zeit (617/18–907) in China gegründet wurden. Früher wurde diese Konfession in der Fachliteratur als »Nestorianismus« (1) bezeichnet. In Wortwahl und Bildsprache griff die Jingjiao vielfältige religiöse Einflüsse im damaligen China, wie aus dem Manichäismus und dem Buddhismus, auf. So wurden Kreuz-Darstellungen mit Lotusblüten, dem buddhistischen Symbol der Reinheit, kombiniert, beispielsweise auf Grabsteinen oder auf der »Stele von Xi’an« aus dem Jahr 781. Dieses Denkmal dokumentiert die Geschichte der Anerkennung der Jingjiao durch den Tang-Kaiser Taizong 太宗 (r. 626–649) und ihrer Verbreitung in China. Assyrisch-christliche Gemeinden existierten bis in die Yuan-Zeit (1279–1368), als China unter mongolischer Herrschaft stand. Dies berichten die Franziskaner Giovanni da Montecorvino (1246–1328) und Odorico da Pordenone (1265/1286–1331), die versuchten, diese Gemeinden zum Katholizismus zu bekehren. Im religiösen Kontext der Yuan-Zeit blieben die theologischen Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen jedoch eher unbekannt: Für beide Konfessionen wurde in der Regel die mongolische Bezeichnung ärkägün beziehungsweise das chinesische yelikewen 也里可溫 verwendet, was so viel wie »Christen« bedeutete. Assyrisch-christliche und katholische Gemeinden verschwanden mit dem Ende der Yuan-Zeit, da beide kaum missionarisch aktiv waren und die Weitergabe des Glaubens vorwiegend innerhalb der Familien erfolgte. Sie boten allerdings einen Anknüpfungspunkt für die nächste Phase der Geschichte des Christentums in China, die im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert einsetzte und vor allem von den Jesuiten, Franziskanern und Dominikanern getragen wurde. Eine Von der langen Verankerung des Christentums zeugt die Stele von Xi'an aus dem Jahr 781 OBEN: © PICTURE ALLIANCE / AKG-IMAGES / AKG-IMAGES | UNTEN © CPA MEDIA – PICTURE-ALLIANCE.COM Giovanni da Montecorvino kam als italienischer Franziskanermissionar nach China und war ab 1307 Erzbischof von Peking. Etwa 40 Jahre zuvor waren der Vater und der Onkel des berühmten Marco Polo aus Peking zurückgekehrt und hatten eine Botschaft des Großkhans an den Papst im Gepäck, er möge geweihtes Öl aus dem Jesusgrab in Jerusalem und etwa einhundert christliche Gelehrte zum Verbreiten des Evangeliums schicken. prägende Gestalt war der Jesuit Matteo Ricci (1552–1610), dessen Name bis heute eng mit der Missionsmethode der Akkommodation verbunden ist: Demnach sollten sich Missionare so weit wie möglich einheimischen Traditionen anpassen, solange diese nicht zentralen Glaubenssätzen widersprachen. Im Sinne einer »Mission von oben« konzentrierte sich Ricci auf die Elite der Gelehrtenbeamten. Er konnte einige von diesen sogar bekehren, so den ranghohen Beamten Xu Guangqi 徐光啓 (1562–1633, Taufname Paulus). In seinen Schriften stellte Ricci das Christentum als kompatibel mit den Werten der Lehre der Gelehrtenbeamten, dem traditionellen Konfuzianismus, dar: In Tianzhu shiyi 天主實義 (Die wahre Bedeutung des Herrn des Himmels, 1603) präsentierte er das Christentum als Fortführung einer monotheistischen Tradition, die laut ihm auch den Werken des konfuzianischen Kanons zugrunde lag. Ein missionarischer »Glücksfall« war in dieser Hinsicht die Wiederentdeckung der Stele von Xi’an bei Grabungen im Jahr 1625. Michał Boym (1612– 1659), ein polnischer Jesuit, erstellte mithilfe des
11 FRANZISKANER 3|2023 des Christentums in China Konvertiten Andreas Zheng eine Abschrift des Textes und übersetzte ihn ins Lateinische. Die Jesuiten nutzten diesen Fund, ohne jedoch auf theologische Unterschiede zwischen Jingjiao und Katholizismus einzugehen, bewusst als Beleg dafür, dass das Christentum keine »fremde Religion« sei, sondern bereits früh in China Wurzeln geschlagen hatte. Demgegenüber konzentrierten sich Dominikaner und Franziskaner auf die Bekehrung marginalisierter Bevölkerungsgruppen durch öffentliche Predigten. Die innerkatholische Auseinandersetzung über die korrekte Missionsmethode in China führte zum »Ritenstreit« des 17. Jahrhunderts, dessen Kern der Umgang mit dem Ahnenkult war: Die Jesuiten sahen ihn als rein sozialen Ritus und Ausdruck des Respekts gegenüber Älteren und Höhergestellten, der als Tugend der kindlichen Pietät (xiao 孝) die Grundlage der gesamten soziopolitischen Ordnung bildete, und erlaubten Konvertiten die Teilnahme. Dominikaner und Franziskaner sahen darin einen heidnischen Ritus, bei dem die Ahnen um Interventionen zugunsten der Familie gebeten wurden, und verboten die Teilnahme. Die römische Kurie folgte letztlich der Interpretation der Dominikaner mit einem offiziellen Verbot im Jahr 1707. Die Folge war: Das Christentum galt fortan in China als aufrührerische Irrlehre. Kaiser Yongzheng 雍正 (regierte 1723–1735) ließ daher 1724 die christliche Mission in ganz China verbieten und die Missionare des Landes verweisen. Katholische Gemeinden bestanden im Verborgenen weiter, auch durch das Wirken der beatae (tongzhen 童貞 / zhennü 貞女), freiwillig zölibatärer Laiinnen, als Katechetinnen, Predigerinnen und Täuferinnen. Mit den »Ungleichen Verträgen« des ersten und zweiten Opiumkrieges (1840–1842 bzw. 1856–1860) erzwangen westliche Großmächte die Öffnung Chinas und bahnten den Weg für neue katholische und protestantische Missionsaktivitäten in der Qing-Zeit (1644–1911). Zu den spezifischen Privilegien Dr. Dirk Kuhlmann, Sinologe und Historiker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Redaktion des Instituts Monumenta Serica in Sankt Augustin 1 Christologische Lehre, nach der die göttliche und die menschliche Natur in der Person Jesus Christus geteilt und unvermischt seien. Sie wurde auf den Konzilien von Ephesos (431) und dem 2. Konzil von Konstantinopel (553) als Häresie verurteilt. Der Jesuit Matteo Ricci (l.) traf 1582 in Macau ein. Er trug die Gewänder buddhistischer Mönche und wurden von den Chinesen auch als solcher angesehen. Den ranghohen Beamten Xu Guangqi (r.) hatte er getauft. Eine Spurensuche UNTEN: © PICTURE ALLIANCE / CPA MEDIA CO. LTD
12 FRANZISKANER 3|2023 gehörten die Aufhebung des Missionsverbots von 1724 sowie die Rückgabe katholischen Besitzes aus der Zeit vor dem Verbot. Letzteres traf auf heftige lokale Widerstände. Eine weitere Hypothek für das Christentum in China war der Aufstand der Taiping 1850–1864 (unter Führung Hong Xiuquans 洪秀全 1814–1864), einer Bewegung, die vor allem von marginalisierten ethnischen Minderheiten getragen wurde und die Teile der christlichen Lehre mit volksreligiösen Elementen vereinte. Dieser Aufstand gegen die Qing-Herrscher forderte insgesamt 20–30 Millionen Todesopfer und wurde mit dem Christentum in Verbindung gebracht. Vor allem protestantische Missionare waren darum bemüht, christliche Akzente in den Modernisierungsdebatten der intellektuellen Elite Chinas zu setzen, wie beispielsweise Young J. Allen (1836–1907), dessen Wanguo gongbao 萬國公報 – Chinese Globe Magazine – eine der ersten chinesischsprachigen Zeitungen mit einer internationalen Perspektive war. Im Rahmen der »4.-Mai-Bewegung« von 1919, die vor allem rationalistisches westliches Gedankengut rezipierte, wurde das Christentum als Religion jedoch zunehmend negativ bewertet. Generelle Kritik an den Aktivitäten christlicher Gemeinschaften in China und deren missionarischer Prägung äußerte eine Sammelbewegung u. a. von Anhängern der Kommunistischen Partei und der nationalistischen Guomindang – die »Anti-Christentums-Bewegung« von 1922–1927. Auch als Reaktion auf diesen generellen Trend begannen die katholische und die protestantische Kirche ab den 1920er Jahren die Ausbildung einheimischer Priester, Pfarrer und Katecheten zu fördern. In der katholischen Kirche war die Problematik bereits in dem Apostolischen Schreiben »Maximum Illud« (1919) Papst Benedikts XV. angesprochen worden. Auf protestantischer Seite erfolgte dies durch die Initiative chinesischer Pfarrer, die 1924 in Schanghai das National Christian Council als neues Leitungsgremium gründeten. Damit setzte im frühen 20. Jahrhundert ein Übergang von Missionskirchen zu eigenständigen Ortskirchen ein, eine Entwicklung, die nach 1949 in der VR China politisch als Nationalisierung forciert wurde. Ein spezifisch kommunistischer Ansatz zur Kontrolle der Religionsgemeinschaften wurde dabei in den frühen 1950er-Jahren umgesetzt: Die katholische wie auch die protestantische Kirche Chinas wurden jeweils zur Gründung einer nationalen politischen Massenorganisation gezwungen, den sogenannten Patriotischen Vereinigungen. Diese Maßnahme fügte sich in die politischen Kampagnen der frühen 1950er-Jahre ein: Der außenpolitische Druck infolge des Koreakriegs (1950–1953) führte zu einer Verdammung westlicher Einflüsse in China. Zugleich richteten sich »Säuberungs«-Kampagnen gegen ideologische Gegner wie Großgrundbesitzer, »Konterrevolutionäre«, Händler und Unternehmer. Die Patriotischen Vereinigungen unterliegen der staatlichen Kontrolle und fungieren somit als »Transmissionsriemen« zur Umsetzung der Regierungspolitik in den Kirchen. Ein besonderes Problem auf katholischer Seite ist die Anbindung an den Papst, der von staatlicher Seite als »ausländische Macht« abgelehnt wird. Als Zeichen der nationalen Unabhängigkeit vollzog die Chinesische Katholische Patriotische Vereinigung auf staatlichen Druck hin ein Jahr nach ihrer Gründung 1958 die ersten Bischofsweihen ohne päpstliche Genehmigung. Auch wenn sich die katholische Kirche in China als eine Kirche versteht, teilen sich die Gemeinden jedoch bis heute entlang der Frage, in welchem Maße sie bereit sind, mit staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten. Gemeinden, die der Patriotischen Vereinigung angehören und somit in staatliche Strukturen eingebettet sind, stehen solche gegenüber, die außerhalb dieser Strukturen bleiben. Letztere werden traditionell auch »Untergrundkirche« genannt. Die Beweggründe für die jeweilige Ausrichtung einer Gemeinde sind sehr komplex und müssen als Ergebnisse von Abwägungen über die Grundfrage gesehen werden, wie sich der eigene Glaube am besten in einem autoritär bis diktatorischen System leben und verbreiten lässt. © PICTURE ALLIANCE / ULLSTEIN BILD Rückkehr von China-Missionaren im Jahr 1954. Nach einem Gefängnisaufenthalt waren sie durch die kommunistischen Machthaber des Landes verwiesen worden. Zuvor hatte der Vatikan 1949 den Kommunismus verurteilt. Gemeint war zwar vor allem die Situation in Europa, aber die Verurteilung verschlechterte das Verhältnis zwischen dem Vatikan und der Kommunistischen Partei Chinas. In der Folge wurden ausländische katholische Missionare zwischen 1951 und 1954 fast vollständig vertrieben.
13 FRANZISKANER 3|2023 Zur Situation der katholischen Kirche Die Lage ist kompliziert Wie können Katholikinnen und Katholiken in einer atheistischen Diktatur ihren Glauben leben? Warum räumt der Vatikan der chinesischen Regierung offiziell ein entscheidendes Mitspracherecht bei Bischofsernennungen ein? Und: Wie existieren eine Untergrundkirche und eine staatlich anerkannte katholische Kirche nebeneinander? Katharina Wenzel-Teuber, Chefredakteurin von »China heute«, vermittelt im nachstehenden Interview tiefere Einblicke in eine für die meisten Christinnen und Christen in Deutschland noch immer sehr fremde Gesellschaft. Frau Wenzel-Teuber, wie viele Katholik:innen und Christ:innen leben derzeit in der VR China? Es gibt etwa zehn bis zwölf Millionen katholische und mindestens 38 Millionen protestantische Christ:innen in der VR China – ohne Hongkong und Macau –, zudem etwa 15.000 orthodoxe Christ:innen. Das sind allerdings nur Schätzungen, genau weiß es niemand. Auf jeden Fall sind die Katholikinnen und Katholiken eine sehr kleine Minderheit von unter einem Prozent der Bevölkerung. Sie sind außerdem die kleinste der fünf offiziell anerkannten Religionen – nach Buddhismus, Daoismus, Protestantismus und Islam. Nimmt man neuere Umfrageergebnisse zur Kenntnis, scheint die VR China ein ziemlich religiöses Land zu sein. Insbesondere wenn die sogennanten Volksreligionen berücksichtigt werden. Wie kann dies nach der jahrzehntelangen antireligiösen Propaganda der chinesischen Kommunistischen Partei (KP) noch immer möglich sein? Der Begriff »Religion« – im Sinn von Religionsgemeinschaften mit heiligen Schriften, Organisation, Mitgliedschaft und Klerus – kam erst im 19. Jahrhundert aus dem Westen über Japan nach China. Die traditionelle chinesische Volksreligiosität ist eher durch mit dem Lebensalltag verwobene Praktiken geprägt. In Umfragen sagen viele Chines:innen zunächst, dass sie nicht religiös seien, doch dann stellt sich heraus, dass sie Ahnenverehrung oder Feng Shui praktizieren. Hinzu kommt, dass die Behörden in den letzten Jahrzehnten den traditionellen Volksglauben wieder mehr zulassen oder fördern, weil er »chinesisch« ist, als Gegengewicht vor allem zum Christentum. Ich denke, religiöser Glaube ist ein menschliches Grundbedürfnis, das die Politik nie völlig ausrotten kann. Manchmal passiert sogar das Gegenteil, und Unterdrückung führt zu einer Zunahme von Gläubigen. Warum wird heute jemand Christ:in/Katholik:in in der VR China? Welche Motive prägen eine solche Entscheidung? Persönliche Vorbilder spielen im chinesischen Kontext eine ganz zentrale Rolle bei der Vermittlung von Glauben. Christliche Lai:innen sprechen in ihrem Umfeld, in der Katharina Wenzel- Teuber ist Sinologin und Mitarbeiterin des China-Zentrums e. V. in Sankt Augustin. Sie ist Chefredakteurin der Quartalsschrift »China heute. Informationen über Religion und Christentum im chinesischen Raum«. Das China-Zentrum wird von katholischen Hilfswerken, Orden und Diözesen getragen. ▶▶www.china- zentrum.de Interview und Bearbeitung: Thomas Meinhardt
14 FRANZISKANER 3|2023 Familie, am Arbeitsplatz, durch ihr Lebenszeugnis Menschen an oder laden sie in die Gemeinde ein. In dieser Hinsicht sind Christ:innen in China oft viel »missionarischer« eingestellt als Christ:innen in Deutschland. Ein anderer Punkt sind die vielen Umbrüche und Veränderungen in der Gesellschaft, beispielsweise durch die schnelle Urbanisierung. Christliche Gemeinden können Halt geben, weil sie Gemeinschaft bieten. Es gibt außerdem eine Suche nach Sinn, gerade auch unter jungen Menschen. Die Würde der Person, die sich aus dem Glauben ergibt, dass alle Menschen aus Liebe geschaffene, einzigartige Individuen sind, ist sicher eine der Vorstellungen, die das Christentum für sie attraktiv macht. Wie ist das Verhältnis zwischen der offiziellen, staatlich anerkannten katholischen Kirche und der sogenannten Untergrundkirche heute – zahlenmäßig und inhaltlich? Grob geschätzt dürften die katholischen Gläubigen etwa zur Hälfte dem offiziellen Teil der Kirche, zur Hälfte dem inoffiziellen Teil im »Untergrund« angehören. Wobei die Trennung nicht immer scharf zu ziehen ist. Es gibt fließende Übergänge und Grauzonen, manchmal auch Zusammenarbeit. Der wesentliche formale Unterschied ist die Registrierung der religiösen Stätten und des religiösen Personals beim Staat. Sie ist für alle Religionen gesetzlich vorgeschrieben, um Religion aus staatlicher Sicht legal auszuüben. Um sich als Kleriker registrieren zu können, muss man sich vorher von den staatlich kontrollierten katholischen Leitungsgremien – Patriotische Vereinigung und Kommission für kirchliche Angelegenheiten auf lokaler beziehungsweise der Bischofskonferenz auf nationaler Ebene – offiziell anerkennen lassen. Diese Gremien aber haben das Prinzip der Unabhängigkeit der Kirche – von »ausländischen Kräften« – in ihren Statuten, und sie dienen den Behörden als Werkzeuge für die Kontrolle der Kirche. Das ist der Grund, weshalb sie von Katholik:innen im Untergrund immer abgelehnt wurden und auch bei vielen im offiziellen Teil der Kirche nicht so gut angesehen sind. Ansonsten ist auch die offizielle Kirche in Diözesen und Pfarreien gegliedert. Sie unterscheidet sich in Theologie und Liturgie nicht grundsätzlich von der Kirche im Untergrund. Kurz, es gibt nicht zwei katholische Kirchen in China, sondern es ist eine einzige Kirche, wenn auch eine in sich gespaltene. Zurzeit sind alle Bischöfe in China vom Papst anerkannt. Die offizielle Kirche kann offen theologische Seminare und Wohlfahrtseinrichtungen führen, wenn auch mit immer weniger Handlungsspielräumen. Im Gegenzug muss sie gegenüber Partei und Staat regelmäßig politische Loyalität bezeugen, beispielsweise die Nationalflagge hissen. Sie soll das »Xi-Jinping-Denken zum Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter« nicht nur studieren, sondern auch unter den Gläubigen verbreiten. Die Untergrundgemeinden konnten sich diesem direkten Einwirken der Behörden weitgehend entziehen. Sie wurden lange an vielen Orten toleriert, an anderen unterdrückt. Seit 2018 aber versucht der Staat, alles religiöse Leben außerhalb des registrierten und kontrollierten Rahmens auszuschalten. Untergrundpriester und -bischöfe wurden unter Druck gesetzt, manche zeitweise verschleppt, um sie zu zwingen, Erklärungen zum Prinzip der Unabhängigkeit zu unterschreiben und zur offiziellen Kirche zu wechseln. Soweit wir wissen, ist in einigen ehemals starken Untergrund-Diözesen inzwischen die Mehrheit der Priester, oft unter Zwang, in den offiziellen Teil der Diözese gewechselt. Einige haben aus Enttäuschung und Ratlosigkeit den Priesterdienst verlassen. Die Situation ist für den »Untergrund« existenziell bedrohlich. Was hat den Vatikan bewogen, 2018 ein vorläufiges Abkommen – mittlerweile zweimal jeweils um zwei Jahre verlängert – mit der chinesischen Regierung zu schließen, was Letzterer große Mitbestimmungsmöglichkeiten – beispielsweise bei Bischofsernennungen – offiziell ermöglicht? Wie Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin und andere Vatikanvertreter immer wieder gesagt haben, ging es dem Heiligen Stuhl um die Einheit innerhalb der chinesischen Kirche und mit der Weltkirche, konkret um die Gemeinschaft der chinesischen Bischöfe mit dem Papst und untereinander. Chinesische Gläubige sollen »vollständig katholisch und gleichzeitig authentisch chinesisch« sein können, also nicht durch ihr Katholischsein per se im Dauerkonflikt mit dem Staat stehen. Ein anderer Grund war sicher die Sorge, dass der chinesische Staat andernfalls illegitime Bischofsweihen erzwingen könnte, wie es früher schon der Fall war – möglicherweise in großer Zahl. Denn etwa ein Drittel aller Bischofssitze in China sind neu zu besetzen. Man wollte wohl auch einen stabilen Kommunikationskanal zur chinesischen Führung aufbauen, © NORBERT NEETZ – PICTURE-ALLIANCE.COM Gottesdienst in der »Joy Lutheran Church« in Hongkong. Hauskirchen wie diese sind meist protestantisch und haben in China über 25 Millionen Mitglieder. In allen christlichen Gemeinden – nicht nur bei den evangelischen – tragen Frauen ganz wesentlich zum Weiterbestehen bei.
15 FRANZISKANER 3|2023 um künftig noch andere Probleme besprechen und lösen zu können. Papst Franziskus ist jemand, der ganz auf Dialog setzt. Das hat er mit Bezug auf China in Interviews immer wieder betont. Wie beurteilen Sie die bisherigen Erfahrungen mit diesem Abkommen? Hat es dazu geführt, das Alltagsleben der Katholik:innen in China zu verbessern? Oder hat es eher zur Verunsicherung insbesondere bei den Katholik:innen der Untergrundkirche und zur Erleichterung der allumfassenden Kontrolle durch die staatlichen Organe beigetragen? Wir wissen nicht genau, was in dem Abkommen steht – der Inhalt wird geheim gehalten. Es funktioniert aber offensichtlich nicht so, wie es vom Heiligen Stuhl erhofft wurde. Das hat zuletzt die Installation von Bischof Shen Bin gezeigt. Bischof Shen war bis dahin päpstlich und staatlich anerkannter Bischof der relativ kleinen Diözese Haimen. Als Vorsitzender der offiziellen, von Rom nicht anerkannten Chinesischen Bischofskonferenz hat er eine zentrale Funktion in den behördlich kontrollierten Leitungsgremien der katholischen Kirche. Am 4. April 2023 wurde er ohne Ernennung des Papstes als Bischof von Schanghai eingesetzt, einer der wichtigsten Diözesen der chinesischen Kirche. Erst am 15. Juli ernannte ihn Papst Franziskus, im Hinblick auf das »größere Wohl der Diözese«, nachträglich zum Bischof von Schanghai. Auch wenn es sich hier um eine Versetzung und nicht um eine Bischofsweihe handelte, zeigt der Vorgang, dass Rom kaum Mittel in der Hand hat, Bischofsernennungen zu verhindern, die es nicht für gut befindet. Der chinesische Staat sitzt hier am »längeren Hebel«, denn er kann unmittelbaren Druck auf die lokale Kirche ausüben. Was Katholik:innen, aber auch Priester und Ordensfrauen an der Basis betrifft, so hat das Abkommen bei vielen dazu geführt, dass nicht mehr so klar ist, welche Prinzipien für die Kirche gelten und wo die roten Linien liegen. Die Verunsicherung ist im Untergrund besonders stark, denn dort fühlt man sich von Rom nicht mehr wie früher für die Treue zum Papst geschätzt. Behörden haben das Abkommen zudem als Druckmittel gegen Untergrundgeistliche benutzt, um sie zur Registrierung zu zwingen. Unter Xi Jinping hat sich die staatliche Religionspolitik sehr verschärft. Deshalb hätten die Behörden auch ohne das Abkommen sicher versucht, die nicht registrierten Teile der Kirche auszuschalten – sie versuchen das auch bei Protestant:innen, Muslim:innen und Buddhist:innen. Aber die Repressionen hätten vermutlich keine so demoralisierende Wirkung entfalten können. Andererseits gibt es chinesische Katholik:innen, die meinen, dass die direkten Kontakte China–Vatikan die chinesische Kirche insgesamt vor noch schwereren Repressionen schützen. KATHATINA EBEL/KNA Katholische Wanderarbeiterin mit ihrem Kind in Peking/Beijing. Im Jahr 2022 gab es in China fast 300 Millionen Wanderarbeiter:innen. Sie gehören zu den Menschen, die unter den schwierigsten sozialen Bedingungen in China leben.
16 FRANZISKANER 3|2023 Sehr bedauerlich ist übrigens auch, dass trotz des sino–vatikanischen Dialogs direkter Kontakt der chinesischen Bischöfe nach Rom weiterhin kaum möglich ist. Kardinal Parolin hat am 15. Juli in einem Interview deshalb die Einrichtung einer regelmäßigen Kommunikation der chinesischen Bischöfe mit dem Papst gefordert. Als positiv ist anzusehen, dass nun doch zwei Bischöfe und ein Priester aus Festlandchina an der Weltsynode im Oktober in Rom teilnehmen können. Ist es richtig, dass die katholische Kirche in China in den letzten Jahren schrumpft und überaltert – weniger Priesterweihen, weniger Noviziatseintritte bei Schwesterngemeinschaften, weniger Taufen? Worauf ist dies zurückzuführen? Ist hierfür auch die zunehmende Repression nach innen auch gegenüber Religionsgemeinschaften eine Ursache? Und was heißt dies für die katholische Kirche in China? Es ist richtig, dass die Zahl der Berufungen in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist, bei den Schwestern sogar noch mehr als bei den Priesteramtskandidaten. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Urbanisierung hat die Auflösung der katholischen Großfamilien auf dem Land mit sich gebracht. Aus diesen Familien kam früher ein Großteil der jungen Schwestern und Priester. Die – inzwischen aufgehobene – »Ein-Kind-Politik« hat außerdem dazu geführt, dass viele junge Männer und Frauen Einzelkinder sind. Der Entschluss für ein geistliches Leben bedeutet in diesen Fällen ein Ende der Familienlinie. Seit einigen Jahren ist es fast überall im Land verboten, dass Minderjährige Kirchen betreten, an Gottesdiensten oder an den katechetischen Sommerlagern teilnehmen. Auch wenn diskret noch manches möglich ist, sind die Kontaktmöglichkeiten der Kirche zu Jugendlichen stark eingeschränkt. Das wirkt sich sicher ebenfalls auf die Berufungen aus. Außerdem stehen Priester und Schwestern oft unter großem Druck – Arbeitsdruck, hohe Erwartungen von Gemeinde und Diözese, Druck seitens der Behörden. Wichtig ist, dass in der Ausbildung noch mehr spirituelle und psychologisch-menschliche Formation stattfindet, die hilft, dem Druck zu begegnen. Es ist schade, dass die internationalen Orden, die hier vielleicht einen Beitrag leisten könnten, offiziell in China nicht erlaubt sind. Was die Taufen betrifft: Ich weiß nicht, ob es wirklich weniger geworden sind. Obwohl während der Covid-Pandemie die Kirchen unverhältnismäßig lange geschlossen waren, werden seit der Aufhebung der Beschränkungen immer wieder Taufen aus den Pfarreien gemeldet. Da werden in einem Gottesdienst hier drei Menschen getauft, anderswo zehn, in der Schanghaier Kathedralgemeinde am 2. Juli sogar 34. Das waren alles Erwachsene, also Neuchristinnen und Neuchristen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann in meiner Pfarrei in Bonn das letzte Mal ein Erwachsener getauft worden ist. Welche Perspektiven sehen Sie für die Zukunft des Christentums in der VR China? Unter der gegenwärtigen Religionspolitik schrumpfen die Handlungsspielräume der chinesischen Religionsgemeinschaften. Sie können immer weniger in die Gesellschaft hineinwirken. Dafür sorgen zum Beispiel die Verbote für Minderjährige, aber auch immer stärkere Einschränkungen für religiöse Inhalte im Internet und religiöse Publikationen oder für die Arbeit religiöser Wohlfahrtseinrichtungen. Diese Tendenz wird sich in naher Zukunft wohl nicht ändern. Die christlichen Kirchen müssen Wege finden, mit der staatlichen Forderung nach »Sinisierung« der Religionen umzugehen. Gemeint ist damit einerseits Anpassung an die traditionelle chinesische Kultur – so wie sie von der Partei definiert wird –, vor allem aber an die sozialistische Gesellschaft Chinas und das Xi-Jinping-Denken. Im Sinne der Sinisierung soll beispielsweise die Bibel neu übersetzt oder kommentiert werden. Hier müssen die chinesischen Christ:innen ihren eigenen Weg zwischen der staatlichen Sinisierungsforderung und dem christlichen Anliegen der Inkulturation finden. Die christlichen Gemeinden in China, im offiziellen Teil der Kirche wie im Untergrund, sind lebendig, glaubensstark und kreativ. Die Solidarität und Geschwisterlichkeit der Christinnen und Christen weltweit wird in den kommenden Zeiten für sie wichtig sein – ebenso wie sie ein wichtiger Teil der Weltkirche bleiben werden. © THOMAS HAUPT/PICTURE ALLIANCE / WESTEND61
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