10 FRANZISKANER 3|2023 Die Wurzeln Dirk Kuhlmann Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, das Christentum als eine »chinesische Religion« zu bezeichnen. So weit hergeholt ist es dann aber nicht, kann es doch bereits auf eine – mit Unterbrechungen – fast 1400-jährige Geschichte der Inkulturation in China zurückblicken. Die Pioniere waren Gemeinden der »Leuchtenden Lehre« (Jingjiao 景教), der Assyrischen Kirche des Ostens, die während der Tang-Zeit (617/18–907) in China gegründet wurden. Früher wurde diese Konfession in der Fachliteratur als »Nestorianismus« (1) bezeichnet. In Wortwahl und Bildsprache griff die Jingjiao vielfältige religiöse Einflüsse im damaligen China, wie aus dem Manichäismus und dem Buddhismus, auf. So wurden Kreuz-Darstellungen mit Lotusblüten, dem buddhistischen Symbol der Reinheit, kombiniert, beispielsweise auf Grabsteinen oder auf der »Stele von Xi’an« aus dem Jahr 781. Dieses Denkmal dokumentiert die Geschichte der Anerkennung der Jingjiao durch den Tang-Kaiser Taizong 太宗 (r. 626–649) und ihrer Verbreitung in China. Assyrisch-christliche Gemeinden existierten bis in die Yuan-Zeit (1279–1368), als China unter mongolischer Herrschaft stand. Dies berichten die Franziskaner Giovanni da Montecorvino (1246–1328) und Odorico da Pordenone (1265/1286–1331), die versuchten, diese Gemeinden zum Katholizismus zu bekehren. Im religiösen Kontext der Yuan-Zeit blieben die theologischen Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen jedoch eher unbekannt: Für beide Konfessionen wurde in der Regel die mongolische Bezeichnung ärkägün beziehungsweise das chinesische yelikewen 也里可溫 verwendet, was so viel wie »Christen« bedeutete. Assyrisch-christliche und katholische Gemeinden verschwanden mit dem Ende der Yuan-Zeit, da beide kaum missionarisch aktiv waren und die Weitergabe des Glaubens vorwiegend innerhalb der Familien erfolgte. Sie boten allerdings einen Anknüpfungspunkt für die nächste Phase der Geschichte des Christentums in China, die im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert einsetzte und vor allem von den Jesuiten, Franziskanern und Dominikanern getragen wurde. Eine Von der langen Verankerung des Christentums zeugt die Stele von Xi'an aus dem Jahr 781 OBEN: © PICTURE ALLIANCE / AKG-IMAGES / AKG-IMAGES | UNTEN © CPA MEDIA – PICTURE-ALLIANCE.COM Giovanni da Montecorvino kam als italienischer Franziskanermissionar nach China und war ab 1307 Erzbischof von Peking. Etwa 40 Jahre zuvor waren der Vater und der Onkel des berühmten Marco Polo aus Peking zurückgekehrt und hatten eine Botschaft des Großkhans an den Papst im Gepäck, er möge geweihtes Öl aus dem Jesusgrab in Jerusalem und etwa einhundert christliche Gelehrte zum Verbreiten des Evangeliums schicken. prägende Gestalt war der Jesuit Matteo Ricci (1552–1610), dessen Name bis heute eng mit der Missionsmethode der Akkommodation verbunden ist: Demnach sollten sich Missionare so weit wie möglich einheimischen Traditionen anpassen, solange diese nicht zentralen Glaubenssätzen widersprachen. Im Sinne einer »Mission von oben« konzentrierte sich Ricci auf die Elite der Gelehrtenbeamten. Er konnte einige von diesen sogar bekehren, so den ranghohen Beamten Xu Guangqi 徐光啓 (1562–1633, Taufname Paulus). In seinen Schriften stellte Ricci das Christentum als kompatibel mit den Werten der Lehre der Gelehrtenbeamten, dem traditionellen Konfuzianismus, dar: In Tianzhu shiyi 天主實義 (Die wahre Bedeutung des Herrn des Himmels, 1603) präsentierte er das Christentum als Fortführung einer monotheistischen Tradition, die laut ihm auch den Werken des konfuzianischen Kanons zugrunde lag. Ein missionarischer »Glücksfall« war in dieser Hinsicht die Wiederentdeckung der Stele von Xi’an bei Grabungen im Jahr 1625. Michał Boym (1612– 1659), ein polnischer Jesuit, erstellte mithilfe des
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