Franziskaner - Herbst 2023

18 FRANZISKANER 3|2023 Haltung nähren kann, ist eine Berührung mit der anderen Innenperspektive, aus der heraus manches verständlich wird, was als Beobachter unverständlich bliebe. In meinem kleinen Bewegungsradius versuche ich, der chinesischen Seite eine Erfahrung mit dem Westen zu ermöglichen, die es ihr erlaubt, den Westen eher wohlwollend zu verstehen als zu verurteilen. Zu entdecken, dass es »den Westen« so nicht gibt, gehört bereits dazu. Zum anderen sehe ich darin eine Aufgabe der Kirche. Repräsentant bin ich zunächst für den Westen, nicht für die Kirche. Aber nur oberflächlich betrachtet ist das ein Widerspruch. Geschichtlich fallen für China die Begegnung mit der westlichen Kultur und die mit dem Christentum zusammen. Katholische Missionare waren es im ausgehenden 16. Jahrhundert, die als erste Repräsentanten der westlichen Kultur aufgetreten sind. Bis heute sind beide Begegnungen in vielerlei Hinsicht miteinander verwoben. Daraus erwächst für die Kirche eine besondere Verantwortung für Chinas Beziehung zum Westen. Wenn ich in China als Jesuit den Westen repräsentiere, sehe ich mich auch als Repräsentant von Kirche, ganz unabhängig davon, ob darin der Glaube zum Inhalt wird. Ich habe schlicht das Gefühl, an einer Aufgabe dran zu sein, die der Kirche zugefallen ist. Zeuge werden Ich berühre in China auch eine fremde Innenperspektive. China ist global von enormer und wachsender Bedeutung und läutet damit eine Zeitenwende in den weltweiten Kräfteverhältnissen ein. Zugleich erlebt China auch innerlich eine Zeitenwende. Es ist nicht zu fassen, welch rasante Entwicklung die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten erlebt haben muss. Ich erahne es, wenn ich Studienfreunde in ihren Heimatdörfern besuche. Ich bin auch hier, um Zeuge dieser Zeitenwende zu sein. Während der Corona-Pandemie gab es nur noch wenige von ihnen. Im Herbst 2022 hat die deutsche Botschaft in Peking vermutet, dass es zur damaligen Zeit 40.000 chinesische Studierende an deutschen Universitäten gab – und fünf deutsche an chinesischen. In dem Bewusstsein, Zeuge zu sein, leitet mich ein klassisches Motiv der jesuitischen Tradition: dorthin gehen, wo keiner hingeht. In diesem Sinn versuche ich, durch eine bestimmte Tür hindurchzugehen, die Tür des chinesischen Kommunismus, also die der weltanschaulichen Grundlagen für die offizielle, staatstragende Ideologie. Dort lässt sich viel lernen und weitervermitteln über die Innenperspektive Chinas – zu entdecken, dass es »das China« genauso wenig wie »den Westen« gibt, gehört auch dazu. Sprechen lernen In der Fremde ist eine neue Sprache zu lernen. Damit ist viel mehr gemeint als eine Fremdsprache mit ihren Vokabellisten und Grammatiktabellen. Es sind die Vokabeln und Grammatik einer neuen Weltsicht zu lernen. Während des Besuchs zum chinesischen Neujahr bei einem Freund verstarb plötzlich dessen Tante. Die nahe Verwandtschaft – 70 bis 80 Leute! – ließ alles stehen und liegen, um eine Woche lang in der von Teeplantagen umgebenen Berghütte der Verstorbenen das Totengedenken zusammen zu begehen. Wie gehen wir mit Trauer um, wie blicken wir auf den Tod, was zählt am Ende wirklich? Ein Freund erschließt mir jedes Wochenende ein Gedicht des großen chinesischen Dichters Su Dongpo. Gemeinsam ringen wir in den großen Fragen um kleine Antworten. Wohin mit den Sehnsüchten, wenn sie unerfüllt bleiben, und mit der Einsamkeit, wenn sie an deren Stelle tritt? Beim Sport mit einem Mitstudenten wälzen wir Zukunft, Pläne, Träume in Kopf und Herz hin und her. Bin ich dieser oder jener? Werde ich geliebt? In den Fragen sind sich die Menschen so ähnlich. Eine Zeit des Hörens ist es für mich, in der ich andere tiefergehende Antwortversuche auf die gleichen Fragen kennenlerne, und eine Zeit des Sprechenlernens ist es, in der ich unsere Antwortversuche mit den Vokabeln und der Grammatik dieser anderen Weltsicht ertaste. Inspirieren lassen Manche der Abzweigungen, die China auf dem Weg in die Moderne genommen hat, standen gezielt unter dem Motto »Vom Westen lernen«. Nun sind diese Zeiten vorbei. Im Gegenteil, China ist sich eines eigenen Weges der »Moderne chinesischen Stils« bewusst. Ohne dieses übernehmen zu müssen, kann am chinesischen Modell der Moderne doch einiges für den Westen und besonders für die katholische Kirche im Westen gelernt werden. Eine Inkulturation beziehungsweise Re-Inkulturation des Christentums steht schließlich auch für den Westen in seiner weltanschaulich pluralen, säkularen Moderne an. Abstand kann helfen, manches klarer sehen zu können. Das Modell der katholischen Kirche in China kann helfen, eine Rolle der Kirche in der deutschen Gesellschaft zu erahnen. Die katholische Kirche in China erlebt, was in weiten Teilen des Westens im Keim schon Realität ist und sich stetig weiter entfaltet: Die Kirche gestaltet Gesellschaft nicht mehr als Leitkultur, sondern muss in einer vorherrschenden Kultur einen Platz finden, möglicherweise einen der hintersten. Es ist eine Kirche, die nicht einordnet, sondern eingeordnet wird. »Kirche in Mauerritzen« nennt es der Bischof von Hongkong, Stephen Chow. Es geht gar nicht darum, den Weg Chinas als die Antwort auf unsere Herausforderungen im Westen zu kopieren. Aber er hilft, präzisere Fragestellungen aufzuwerfen. Die Frage, wie hilfreich Vorbilder sind, ist offensichtlich nicht nur eine biografische, sondern auch eine historische Thematik in der China-West-Beziehung. Vielleicht ist die jeweilige Andersartigkeit stehen zu lassen, ohne deswegen vor dem so andersartigen anderen Angst zu haben. Andersartigkeit ermöglicht ja gerade erst Kommunikation, meinte Ignatius von Loyola: Kommunikation, wenn sie gelingt, ist ein Austausch von beiden Seiten, in welche jede Seite der je anderen gibt, was sie hat und der anderen fehlt. Matteo Ricci versuchte, diese Haltung in der Begegnung zwischen westlicher und chinesischer Kultur vorzuleben, und bleibt darin ein Modell – ein gemeinsames übrigens, denn er und sein enger Vertrauter Xu Guangqi sind in China die hochverehrten Vorbilder einer Beziehung zum Westen, die sich »Freundschaft« nennt.

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