20 FRANZISKANER 3|2023 Bischof Stanislav, wie ist aktuell die Situation in ihrem Bistum? Wir sind im Krieg. Odessa wird bombardiert mit Raketen und Drohnen. Es ist leider Alltag geworden, dass die Sirenen heulen, um einen weiteren Luftalarm anzukündigen. Die Leute haben sich mittlerweile daran gewöhnt: Sie gehen in den Supermarkt oder sitzen im Restaurant und reagieren meist sehr gelassen. Bombardierungen fühlen sich leider schon normal an. Das sind sie aber nicht, und dürfen es nie werden! Daran erinnern mich die Beerdigungen von jungen Männern – die ich leider viel zu oft halten muss. Das ist sehr schwierig für mich, denn manche habe ich getauft oder getraut, und nun sind die jungen Männer gefallen – Opfer dieser russischen Aggression. Auch Kinder sind gestorben und verletzt worden. Regelmäßig besuche ich die Soldaten in den Krankenhäusern. Oft sind sie schwer verletzt, manche ohne Beine. Sie werden ihr Leben lang behindert sein. Täglich halten wir in der Kathedrale in Odessa ein Requiem für die Verstorbenen. Und viele Menschen kommen, um zu beten und zu trauern. Sonntags in der Kathedrale in Odessa haben wir derzeit sechs heilige Messen. Alle sind sehr gut besucht. Kommen heute mehr Menschen in die Kirche als vor dem Krieg? Ja, viel mehr. Eine Bekehrung ist spürbar. Zudem sind auch zahlreiche Flüchtlinge nach Odessa gekommen. 70.000 Menschen aus Cherson und dem Donbas haben hier Zuflucht gefunden. Und viele kommen in die katholische Kirche. Auch orthodoxe Christen kommen zu uns, denn sie sind bestürzt über die russisch-orthodoxe Kirche, die den Krieg gegen die Ukraine gesegnet und gutgeheißen hat! Odessa ist noch immer eine freie und funktionierende Metropole in der Ukraine. Das ist nicht selbstverständlich, denn vor anderthalb Jahren stand Odessa im Zentrum der Angriffe. Wie haben sie damals den Kriegsbeginn erlebt? Ja, Kiew, Charkiw und Odessa waren zu Beginn die ersten Ziele des russischen Angriffskrieges. Die russische Marine lag vor unserer Stadt. Der Franziskaner Stanislav Schyrokoradjuk ist Bischof von Odessa-Simferopol im Süden der Ukraine am Schwarzen Meer. Er war für einige Tage in Deutschland, um an einem Kongress des Hilfswerkes Renovabis teilzunehmen. Unser Redakteur Natanael Ganter OFM hatte Gelegenheit, ihn am 15. September in München zu interviewen. des russischen Angriffskrieges« »Odessa war eines der ersten Ziele Interview Natanael Ganter OFM © PICTURE ALLIANCE/ZUMAPRESS.COM
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