21 FRANZISKANER 3|2023 Hier in Odessa haben sich die Menschen vereinigt zum Gebet: Katholiken, Protestanten und Ukrainisch-Orthodoxe. Wir haben die ganze Nacht gebetet, und plötzlich kam ein Sturm auf, auf dem Schwarzen Meer. Die Schiffe zogen sich zurück, kamen aber bald erneut. So haben wir wieder gebetet, und ein Sturm zog auf und blieb drei Tage. Das ist für mich das Wunder von Odessa! Später gelang es der ukrainischen Armee, das russische Schlachtschiff »Moskwa« zu zerstören. Seither haben die Russen Angst, und die Flotte kommt nicht näher als 100 km an Odessa heran. Uns hat auch gerettet, dass die ukrainische Armee in Mykolajiw standhalten konnte. Das ist die nächste Großstadt, 130 km östlich von uns entfernt, zwischen Odessa und Cherson. Wäre Mykolajiw gefallen, wäre der Landweg frei gewesen, und wir wären die nächsten gewesen. Odessa ist eine internationale Stadt. Viele Polen, Bulgaren, Griechen und auch Russen leben hier, ca. 25 Prozent der Menschen sind russischstämmig. Viele junge Männer, auch die russischsprachigen Ukrainer, haben sich freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet. Ich habe mit einigen von ihnen gesprochen, und sie sagten: »Das ist nicht leicht, aber ich muss meine Heimat und meine Familie hier verteidigen – in der ukrainischen Armee.« Haben sich denn viele Menschen freiwillig zur Armee gemeldet? Ja, in den ersten Monaten waren es so viele, dass sie sich nur registrieren, aber nicht einrücken konnten. Selbstverständlich möchte niemand gerne in die Armee, niemand möchte eine Waffe nehmen, auf andere Menschen schießen und sein Leben riskieren. Aber es ist Krieg, und wir werden angegriffen. So ist die Bereitschaft für die Mobilisierung sehr hoch. Auch Mitarbeiter der Kirche haben sich gemeldet und wurden eingezogen. So haben wir jetzt Probleme wegen fehlender Arbeitskräfte. Generell sieht man heute viele Frauen in Männerberufen, beispielsweise als Lkw-Fahrerin. Was haben Sie Ihren Priestern in Ihrem Bistum empfohlen, als der Krieg losbrach? Ich hatte schon drei Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine einen Brief geschrieben. Denn ich habe die Zeichen gesehen und ahnte, dass Krieg auf uns zukommt. Ich habe klare Instruktionen gegeben, dass das Allerheiligste aus der Kirche entfernt werden und die Tabernakel offen bleiben müssen. Auch die Kirchentüren müssen offen bleiben. Die wichtigsten Dokumente sollten gesichert und versteckt werden, und jeder Priester musste in seiner Pfarrgemeinde den Menschen bei der Evakuierung helfen – hauptsächlich Frauen und Kindern. Die Reichen mit eigenem Auto waren sofort weg, aber für die Ärmsten mussten Busse organisiert werden. Doch jedem Priester stand es absolut frei zu entscheiden, was er selbst machen wollte, und alle, ohne Ausnahme, sind geblieben. Einige Orte wurden von den Russen besetzt. Ich habe zwei junge Priester in der Gegend von Cherson, die heute mit ihrer Gemeinde unter russischer Besatzung leben. Auch die Halbinsel Krim ist Teil meiner Diözese Odessa-Simferopol. Das Gebiet ist schon seit 2014 russisch besetzt. Seit acht Jahren, seit der russischen Annexion der Krim ist mein Weihbischof vor Ort. Er ist zusammen mit elf Priestern geblieben, als die Russen kamen. Wie ist das Leben unter der Besatzung? Sie werden oft kontrolliert. Überall gibt es Kameras. Sie werden abgehört und bespitzelt – privat und in der Kirche. Sie machen ihre Arbeit in den Gemeinden, denn das Leben geht ja weiter für die Menschen: Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, Hilfe für die Armen, Seelsorge, Kindergarten, Schule. Aber die Arbeit ist rein pastoral, niemals politisch. Denn das wäre sehr gefährlich, und die Pfarreien könnten schnell ohne Priester dastehen, was noch schlechter wäre. Zwei Kirchen wurden leider von den Russen geschlossen. Sie wurden in Militärlager umgewandelt. Vier Kirchengebäude im Gebiet von Mykolajiw haben wir verloren, davon eine sehr alte, historische Kirche. Sie wurden zusammen mit ihren Städten und Dörfern von den Russen zu Ruinen zerbombt. Da steht heute nichts mehr, und viele junge Leute, Männer und Frauen, wurden getötet. Was muss passieren, dass es wieder Frieden geben kann in der Ukraine? Wir brauchen das Gebet. Mit Gottes Hilfe kommt Frieden, deshalb müssen wir beten. Wir bestehen seit anderthalb Jahren gegen die russische Armee. Das ist wie der Kampf Davids gegen Goliath. Können Bischof Stanislav Schyrokoradjuk OFM (r.) mit Natanel Ganter OFM während des Besuchs in München
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