Franziskaner - Herbst 2023

32 FRANZISKANER 3|2023 meistens der erfolgreichere ist und auch langfristig erfolgreicherer war als gewaltsamer Protest. Wie weit sind die »Letzte Generation« und Sie persönlich bereit zu gehen, um eine Änderung in der Klimapolitik zu erreichen? Jede Person entscheidet das selbst. Niemand geht in den Protest, ohne informiert zu sein. Alle bei uns wissen, was die potenziellen Folgen sein könnten, und erhalten rechtliche Unterstützung. Es gibt immer ein Protesttraining, bei dem alle potenziellen Konsequenzen besprochen werden. Wir lassen niemanden ins offene Messer laufen. Es gibt bei uns auch viele Menschen, die nicht in den Protest gehen, sondern organisatorische und koordinative Aufgaben übernehmen. Protest ist keine Grundvoraussetzung, um ein Mitglied der »Letzten Generation« zu sein. Für mich ist es ein bisschen wie Roulette, da Gerichte zu sehr unterschiedlichen Urteilen kommen – von Freispruch bis zu acht Monate Haft. Ich hoffe, dass ich nie acht Monate bekomme, aber ich weiß es im Endeffekt auch nicht. Ich war kürzlich wieder auf der Straße und habe die Nacht davor nicht geschlafen, weil ich so unglaublich Angst hatte. Wir versuchen offen zu kommunizieren, dass wir extrem negative persönliche Konsequenzen in Kauf nehmen: ob die Wut von Autofahrenden, Schmerzgriffe vonseiten der Polizei oder rechtliche Konsequenzen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich im Vergleich zur restlichen Welt in einer privilegierten Position bin. Ich kann demonstrieren und riskiere dabei nicht, ohne ein Gerichtsurteil weggesperrt zu werden. Deswegen denke ich: Wenn nicht ich, wer sonst kann so einen Protest machen? Für wen oder was kämpfen Sie? Wir kämpfen für eine Welt, die sich nicht selbst zerstört. Wir wollen in einer Gesellschaft leben, die ein gutes Leben in Solidarität ermöglicht. Das ist das Metaziel. Wenn man es konkret nimmt, dann wäre es ein erster Erfolg, aus dem Verbrennen der fossilen Energien auszusteigen. Anfangs hatten wir sehr tief gesteckte Ziele, das Tempolimit und das Neun-Euro-Ticket. Für beides gibt es eine deutliche Mehrheit in der Gesellschaft, und gleichzeitig schafft es die Regierung nicht, es umzusetzen. Gerade für das Tempolimit müsste man nur Schilder wegnehmen und ein allgemeingültiges Tempolimit einführen. Der Gesellschaftsrat (ein die deutsche Gesellschaft in Bezug auf Altersverteilung, Geschlecht, Bildung, Einkommen repräsentierender und ausgeloster Bürger:innenrat) ist ein Vorschlag von uns, weil wir damit einen möglichen Lösungsweg aufzeigen wollen, wie es gelingen könnte, die Blockadehaltung von Regierung und Parlament zu überwinden. Hier wird oft argumentiert, dass die Bürger:innen eine entschiedene Klimapolitik eigentlich gar nicht wollen. Wir halten dies für unzutreffend und meinen, es käme darauf an, besser mit den Bürger:innen zu kommunizieren und die unterschiedlichen Lebensrealitäten einzubeziehen. Die »Letzte Generation spricht oft über Kipppunkte. Was sind Kipppunkte, und warum sind sie wichtig? Die Kipppunkte bezeichnen Grenzen, die, wenn sie überschritten werden, Prozesse in unserem klimatischen System auslösen, die sich verselbstständigen und der Kontrolle des Menschen entziehen. Das Pariser Klimaabkommen hat die Erwärmung zwischen 1,5 Grad und weit unter zwei Grad gedeckelt, weil das die Grenze ist, an der es immer wahrscheinlicher wird, die Kipppunkte zu überschreiten. Kippunkte sind vor allem der Kontrapunkt zu einem noch weitverbreiteten Verständnis, dass wir alles unter Kontrolle haben und der Mensch die Natur immer wieder zurechtbiegen kann. Doch das ist schlichtweg falsch. Woher kommt Ihr Antrieb immer weiterzumachen? Was wäre die Alternative? Ich bin ein politisch denkender Mensch, der eine gewisse Selbstwirksamkeit fühlen muss. Für mich ist es keine Alternative, mich in mein Privatleben zurückzuziehen und den Rest zu ignorieren. Ich kann mich dem Ganzen auch gar nicht entziehen, es betrifft mich ja. Und gleichzeitig sehe ich eine Chance: Es würde für viele Menschen eine höhere Lebensqualität bedeuten, wenn wir umweltschädliche, aber auch sozial schädliche Praktiken reduzieren würden. Außerdem ist es enorm bestärkend, etwas mit einer Gruppe von Menschen zu machen, die viele gute Ideen haben und motiviert sind. Mitglieder der »Letzte Generation« versammeln sich im August 2023 nach dem Verbot eines Protestmarsches vor der Polizeisperre auf der alten Mainbrücke in Würzburg © PICTURE ALLIANCE/DPA

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