Franziskaner - Winter 2023

Franziskaner Winter 2023/2024 Weitere Themen: Israel/Palästina Für Frieden braucht es ein Wunder +++ Asylpolitik: Brücken statt Mauern +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de 800 Jahre franziskanische Krippenfeier in Greccio Geboren am Weg

4 Nachrichten und Anregungen 6 Weihnachten – Geboren am Weg • Die Krippenfeier in Greccio • Franziskus – ein Meister der dramatischen Inszenierung • Weihnachten auf der Straße • Die Krippe gestalten • Menschwerdung, Menschenrechte, Menschenwürde • Betlehem und Greccio 22 Nachrichten 22 In memoriam 23 Geistlicher Wegbegleiter 27 Fratelli tutti 28 Franziskanische Geschichte Die Wirklichkeit aus der Perspektive der Ärmsten betrachten 31 Israel/Palästina Für Frieden braucht es ein Wunder 36 Christlich/Islamisch Almosen 39 » Brücken statt Mauern« Asyl- und Flüchtlingspolitik 42 Franziskaner sein Dr. Tiem Tran OFM 44 Kursprogramm 45 Bruder Rangel kocht 46 Kommentar 47 Impressum Germanicus auf Reisen Inhalt Der »Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBA DE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank FRESKO IM KLOSTER GRECCIO IM RIETITAL © REGION LAZIO – STEVE MCCURRY Die Redaktion wünscht allen Leserinnen und Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein frohes neues Jahr!

3 FRANZISKANER 4|2023 © MARKUS FUHRMANN OFM Wo Himmel und Erde sich berühren Meine Aufgabe als Provinzial bringt es mit sich, dass ich viel unterwegs bin. Fast immer fahre ich dann mit dem Zug. Das kann schon mal zu Überraschungen führen – nicht nur wegen Verspätungen bei der Bahn. Manchmal gibt’s auch etwas Spannendes zu entdecken. So zum Beispiel in Aschaffenburg, wo ich häufig einen längeren Aufenthalt beim Umsteigen habe, wenn ich auf dem Weg zu den Brüdern in Großkrotzenburg bin. In der Nähe des Hauptbahnhofs befindet sich die Kirche St. Agatha – ein Bau, an dem in den vergangenen 750 Jahren fast jedes Jahrhundert seine Spuren hinterlassen hat. Was mich anzieht, ist jedoch nicht das Kirchengebäude an sich, sondern das, was darin zu entdecken ist. Die »Krippenfreunde Aschaffenburg« gestalten in drei zu Vitrinen umgebauten Beichtstühlen und in einer großen Wandnische wechselnde Arrangements, in denen neben der Geburt Jesu weitere Szenen aus dem Alten und Neuen Testament zu bestaunen sind. Durch eines der Beichtstuhlfenster lässt sich Eva erkennen, wie sie dem neugierigen Adam keck einen Apfel vom Baum der Erkenntnis reicht. Durch ein anderes Fenster sehe ich Noah, der besorgt in den wolkenverhangenen Himmel schaut, während sich seine Arche mit Tieren aller Art füllt. Auch eine fröhliche Hochzeit zu Kana habe ich hier schon bewundert. Bei fast jedem Besuch in St. Agatha treffe ich auf neue Darstellungen biblischer Geschichten. Sie alle stehen letztlich in der Tradition der Weihnachtskrippen und der weihnachtlichen Krippenspiele. Eine historische Wurzel dieser Krippendarstellungen ist jenes Weihnachtsfest im Jahr 1223, das unser Ordensgründer Franziskus von Assisi in einer Grotte nahe der umbrischen Ortschaft Greccio gefeiert hat. Franziskus wollte das Wunder der Menschwerdung Gottes, die Geburt Jesu Christi in der Armut einer Krippe anschaulich und erlebbar machen. So ließ er für das weihnachtliche Hochamt in der Grotte eine Futterkrippe mit Heu und Stroh sowie Ochs und Esel herbeischaffen. Den mitfeiernden Menschen kam es in jener Heiligen Nacht so vor, als ob das Jesuskind in ihren Herzen lebendig geworden wäre, als ob Himmel und Erde sich berührten. In diesem Jahr feiert die franziskanische Ordensfamilie das 800-jährige Jubiläum der Krippenfeier von Greccio. Angesichts aller Krisenherde und Kriege in dieser Welt steht die Krippenfeier des Franziskus für die zeitlos Not-wendige Erinnerung und Ermutigung: Gott wird Mensch in all unserer Armut, in unserem Scheitern und unseren gewaltvollen Auseinandersetzungen. Er zeigt sich als der solidarische Gott-mit-uns. Diesem Gedanken gehen die Beiträge in der vorliegenden Ausgabe unserer Zeitschrift FRANZISKANER nach. Ich wünsche Ihnen eine Mut machende Lektüre und immer wieder Momente, in denen Sie spüren, dass Himmel und Erde sich berühren – nicht nur zur Weihnachtszeit! Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister)

4 FRANZISKANER 4|2023 Die Franziskuskapelle in Ellwangen Ein kleines Kirchlein in Ellwangen, das dem heiligen Franziskus gewidmet ist, birgt besondere Kunstschätze, die nicht nur für ausgesprochene Sieger-Köder-Fans einen Besuch lohnend machen. Neben dem auf dem Titel dieser Ausgabe abgebildeten Wandbild »Weihnachten in Greccio« schuf der 2015 verstorbene Priester Sieger Köder in der Kapelle zwei große Buntglasfenster (nebenstehend das Fenster zum Sonnengesang) und weitere Kunstwerke. Das Gesamtensemble lädt ein, den Ereignissen der letzten Lebensjahre des Heiligen aus Assisi nachzuspüren. Das Kinder- und Jugenddorf Marienpflege, zu dem die Franziskuskapelle gehört, hat eine lange, franziskanisch geprägte Geschichte. Es war ein säkularisiertes Kapuzinerkloster, das 1830 zur »Kinderrettungsanstalt« umgewidmet wurde. 1908 übernahmen Sießener Franziskanerinnen die Erziehung und Bildung der Waisenkinder und errichteten dort eine Niederlassung. Die Kinder zogen in das neue Hauptgebäude um. Interessantes Detail: Das Erdgeschoss des geräumigen Klosters wurde in jenen Jahren als jüdische Synagoge und als Kolpingversammlungsraum genutzt. In den 1960er-Jahren begann der Umbau des Kinderdorfes zum »Jugendhilfezentrum«. Im letzten Bauabschnitt Anfang der 90er-Jahre stand die Sanierung des alten Klostergebäudes an: Das Kirchenschiff wurde zum Festsaal des Kinderdorfs und der Chorraum zur Franziskuskapelle. Neben den drei franziskanischen Hauptwerken gestaltete der Künstler Sieger Köder auch den Altar, den Tabernakel und die Eingangstüre zur Kapelle. Später bemalte er noch die Orgel unter der Bedingung, dass zwei besondere Pfeifen eingebaut wurden: der Kuckuck und die Nachtigall. Die Franziskuskapelle ist tagsüber offen und kann gerne besucht werden. Gruppen sollten sich unbedingt anmelden. Tel.: 0 79 61 8 84-0 Stiftung Kinder- und Jugenddorf Marienpflege Dalkinger Straße 2 | 73479 Ellwangen ▶▶ www.marienpflege.de >Grundlagen >Franziskuskapelle © AUSSENAUFNAHME DER KAPELLE © VON DIDI43 - EIGENES WERK, CC BY-SA 4.0, HTTPS://COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/W/INDEX.PHP?CURID=69533849 | OBEN LINKS UND RECHTS © STEFAN FEDERBUSCH Viele Orte sind von franziskanischen Gemeinschaften oder einzelnen franziskanisch inspirierten Kunst- und Kulturschaffenden gestaltet worden. Wir stellen sie vor … Sieger Köder, Sonnengesang des Franziskus, Franziskuskapelle Ellwangen © Sieger Köder-Stiftung Kunst und Bibel, Ellwangen, www.verlagsgruppe-patmos.de/rights/abdrucke Franziskanische Orte entdecken

5 FRANZISKANER 4|2023 Kursübersicht auf Seite 44 Eines unserer Angebote Franziskus-Ausstellung in München Faszination – Verehrung – Inszenierung eines Superstars Im Diözesanmuseum in München-Freising kann noch bis zum 7. Januar 2024 eine einmalige Franziskus-Ausstellung mit hochkarätigen Exponaten besichtigt werden. Seit fast 800 Jahren ist Franziskus von Assisi einer der meistverehrten Heiligen der katholischen Kirche. Mit seiner konsequenten Christusnachfolge und seinem radikalen Armutsideal faszinierte er die Menschen schon zu Lebzeiten und löste eine große Bewegung aus, die das Gesicht der mittelalterlichen Kirche und Gesellschaft entscheidend veränderte. Im 20. Jahrhundert avancierte er dann zum Romanhelden, zum Aussteiger und ersten »Ökoapostel«. Und 2013 wählte sogar ein Papst seinen Namen. Dem Phänomen einer 800-jährigen Verehrung nachzuspüren, ist das Anliegen dieser Ausstellung. Sie vereint viele hochkarätige Leihgaben – vorrangig aus italienischen Museen. Das Museum ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Diözesanmuseum Freising, Domberg 21, 85354 Freising ▶▶ www.dimu-freising.de OBEN © FIZKES/STOCKADOBE.COM | UNTEN LINKS © STEFANIE VOM STEIN – MEDIENZENTRUM STADT WUPPERTAL 27. – 31. März 2024 Kar- und Ostertage FÜR ALLE: Über Leben An Ostern feiern wir das Leben – ein Fest für alle: für Singles, Familien, Paare. Die Kar- und Ostertage in Haus Ohrbeck sind offen für alle: Sie bieten Raum, sich mit den eigenen Lebensfragen zu beschäftigen und in Gemeinschaft Ostern zu feiern. Kindern ab 3 Jahren bieten wir während der Workshops ein eigenes Programm, sodass Eltern sich ganz auf ihre Themen konzentrieren können. Weitere Informationen ▶▶ www.haus-ohrbeck.de Begleitung: Andreas Brands OFM und Team Ort: Haus Ohrbeck, Am Boberg 10, 49124 Georgsmarienhütte Anmeldung: Telefon 05401 336-0, info@haus-ohrbeck.de Franziskaner Mission Die Ausgabe 4/2023 der »Franziskaner Mission« beschäftigt sich ebenfalls mit dem 800-jährigen Jubiläum der Weihnachtsfeier in Greccio. Das Magazin kann kostenfrei bestellt werden in Dortmund, E-Mail: info@franziskanermission.de, oder in München, E-Mail: muenchen@franziskanermission.de 2023 Gott wird Mensch 800 Jahre Franziskanerkrippe Synodalität Das aktuelle Tauwetter-Heft greift verschiedene Aspekte des Synodalen Wegs und der Weltsynode auf und beleuchtet, wo sich Reformschritte zeigen und wo Blockaden Veränderungen in der Orts- und in der Weltkirche verhindern. Der Bezug des Heftes ist kostenfrei ▶▶ tauwetter@franziskaner.de oder in digitaler Form auf ▶▶ franziskaner.de/tauwetter Tauwetter 3/2023 Radiosendungen anlässlich der Jubiläen Anlässlich der 800-Jahr-Jubiläen der Franziskanischen Familie werden unter anderem Vorträge und Gottesdienste bei Radio Horeb übertragen. Zum Beispiel • am 24. Dezember 2023 um 21.40 Uhr eine Komplet mit Damian Bieger OFM; • a m 25 Dezember 2023 um 17.30 Uhr eine Weihnachtsvesper mit den Klarissen-Kapuzinerinnen aus Koblenz; • a m 3. Januar 2024 um 14.00 Uhr ein Impuls von Dr. Paul Zahner OFM Weitere Termine im Rahmen des Jubiläumsjahres ▶▶ franziskanisch.net

6 FRANZISKANER 4|2023 Andreas Brands OFM Heilige Nacht. Was uns Lukas in seinem Evangelium überliefert, erscheint erst mal wenig heilig: Es ist Nacht. Es ist kalt. Maria und Josef sind unterwegs, unbehaust, heimatlos. Das Kind wird an einem Ort geboren, an dem es nach Tieren riecht. Es wird in einen Futtertrog gelegt, in dem Heu die einzige Bequemlichkeit bietet. Erschöpft sind sie und abgeschoben, am Rande des Weges, irgendwo. Keine Situation, in der man selbst sein möchte; keine Situation, die man anderen wünscht. Ein würdeloses Ereignis, nicht feierlich, auch dann nicht, wenn Chöre singen, Engel den Frieden verkünden und Hirten zu Besuch kommen. Die Heilige Nacht, wie sie uns Lukas mit wenigen Worten schildert, ist eine karge Geschichte – keine Heimeligkeit, kein Glanz. Keinem Menschen sei so ein unheiliger Empfang in der Welt bereitet.

7 FRANZISKANER 4|2023 Die Geschichte der Heiligen Nacht wirkt erstarrt. Wie durch eine Kameralinse wird eine Momentaufnahme dieses Ereignisses festgehalten. Die Krippe zeigt ein bewegungsloses Geschehen – und bewegt unzählige Menschen. An vielen Orten wird sie aufgebaut, in Kirchen und Wohnzimmern, weil sie zum Weihnachtsgeschehen dazugehört. Anschaulich gibt sie preis, was Worte nicht auszudrücken vermögen. Jedoch, die Szene wirkt wie eingefroren, ganz und gar nicht lebendig. Maria und Josef in samtenen Gewändern, Maria kniend an der Krippe, dabei müsste sie doch von der Geburt geschwächt sein und schlafen. Josef steht beobachtend im Hintergrund. Das Kind im Futtertrog streckt seine kleinen Ärmchen dem Betrachter entgegen. Die Tiere genießen das Heu und schauen stoisch in die Landschaft. Die Hirten kommen neugierig zum Stall, in ihren Augen ist etwas zu erkennen. Die jungen Hirten sind aufgeregt und eilen schnell herbei. Schafe grasen vor sich hin. Es fehlt: die Einfachheit, die Nüchternheit, das Elend. Aber wer könnte es aushalten, dass Gott im Elend geboren ist? Die Idylle täuscht. Zutiefst spüren wir, dass Gott nur so hat auf diese Erde kommen können: unbehaust und unterwegs – am Rande. Jedes Jahr wird die Krippe wieder aufgebaut. Aus Tradition? Ja! Aus Nostalgie? Ja! Aus Überzeugung? Ja! Weil hinter der Momentaufnahme deutlich wird, dass etwas Größeres geschieht: Gott wird Mensch. In diesem Jahr feiert die Krippe ihren 800. Geburtstag. So zumindest wird es in unserer franziskanischen Lesart überliefert. So stimmt es, und so stimmt es nicht – zumindest nicht zu 100 Prozent. In den Lebensbeschreibungen des Thomas von Celano, einem der wichtigen Biografen unseres Ordensgründers, lesen wir, wie Franziskus sich von dem Geheimnis der Menschwerdung so begeistern lässt, dass er 1223 in Greccio, einem winzigen Ort im Rietital, das Weihnachtsgeschehen neu lebendig werden lässt. Er lässt eine Krippe mit Heu aufstellen, gesellt Ochs und Esel dazu und lässt einen Chor die Botschaft der Nacht singen. So verwandelt sich durch die Inszenierung von Franziskus die Erzählung des Evangelisten Lukas zu einem lebendigen Ereignis, in dem das Geheimnis der Weihnacht aus der Ferne in die Nähe rückt. Unser Gott bekommt Hand und Fuß – und ein Gesicht. Seitdem – vielleicht auch schon etwas früher – gibt es Krippendarstellungen in allen Formen und Variationen: als Kinderkrippenspiel oder schlicht aus Holz. Und ich begreife, wie begeistert Franziskus vom Evangelium der Menschwerdung Gottes war! Er hat es auf die Bühne des Lebens gehoben und mehr als 1200 Jahre nach dem geschichtlichen Ereignis dieses neu inszeniert und die Aktualität der Botschaft lebendig gehalten. Gott wird Mensch. Diese Botschaft muss man kauen, verdauen. Das ist nichts Alltägliches, aber es soll unseren Alltag durchdringen und unserem Leben Hoffnung geben. KRIPPE © KEVIN CARDEN – STOCK.ADOBE.COM | KRIPPENFIGUREN © STOCK.ADOBE.COM Geboren am Weg 800 Jahre franziskanische Krippenfeier in Greccio

Eine meiner liebsten Weihnachtsgeschichten ist »Hilfe, die Herdmanns kommen«. Darin beschließt eine Geschwistergruppe, die wir heute wahrscheinlich als randständig bezeichnen würden, am Krippenspiel der Gemeinde teilzunehmen. Ihr Motiv ist keineswegs fromm: Jemand hatte ihnen gesagt, dass man dort Süßigkeiten bekäme. In der Erzählung teilen sie die Hauptrollen unter sich auf. Und aufgrund ihrer relativ offenen Drohung, was passieren würde, wenn jemand anderes es wagen würde, sich auch für die Rollen zu melden, erhalten sie diese auch. Schnell wird klar, dass sie bisher keine auch noch so kleine Berührung mit der Weihnachtsgeschichte hatten. Sie wird ihnen erst einmal erzählt, und ihre Reaktionen schwanken zwischen Fassungslosigkeit, Wut und Mitleid. Warum ich diese Geschichte so mag? Durch den unverstellten Blick dieser Kinder wird klar, dass die Weihnachtsgeschichte so gar nichts Romantisches an sich hat. Das Gleiche kann für die Krippendarstellung gesagt werden, die vor 800 Jahren in Greccio stattfand. Auch sie entstand nicht aus dem Bedürfnis nach Romantik, sondern aus einer doppelten Not: jener der Bevölkerung Greccios und der des Franz von Assisi. Die erste Niederlassung der Franziskaner vor Ort war nicht an der Stelle, an dem heute die kleine Einsiedelei von Greccio liegt, sondern sehr viel höher, circa fünfhundert Höhenmeter über der Ortschaft. Dort befindet sich eine ausgedehnte, bewohnte Hochebene. Für die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Hochebene war es unmöglich, eine der Mitternachtsmessen unten im Tal zu besuchen – auch weil sie ihre Herden nicht verlassen konnten. Franziskus seinerseits scheint sich zu dieser Zeit in einer Art existenzieller Krise befunden zu haben. Er hatte sich nach der Bestätigung seiner 2. Ordensregel, der »bullierten Regel«, durch den Papst am 29. November 1223 nach Greccio zurückgezogen. Der Ort lag nur eine Tageswanderung von Fonte Colombo entfernt, wo er die Ordensregel verfasst hatte, war aber einsamer und schwerer erreichbar. Die Abfassung der endgültigen Form der Regel hatte zwar das Fortbestehen des Ordens gesichert, gleichzeitig aber die Spannungen innerhalb der Brüdergemeinschaft bezüglich der konkreten Umsetzung des Armutsideals des Poverello in all ihrer Härte an die Oberfläche gespült. Die beiden Strömungen, jene die das Ideal in seiner ursprünglichen Form bewahren wollten und jene, die es den veränderten Gegebenheiten anpassen wollten, standen sich relativ unversöhnlich gegenüber und versuchten beide Einfluss auf den Gründer des Ordens zu nehmen. Diese Auseinandersetzungen hatten Franziskus sehr zugesetzt. Die Biografen berichten, sein Gesichtsausdruck sei so düster gewesen, dass keiner der Brüder gewagt habe, sich ihm zu nähern. In dieser Situation beschließt Franziskus, den Weihnachtsgottesdienst an einem Ort zu feiern, der dem ähnlich sah, in dem nach den örtlichen Vorstellungen die Geburt Jesu stattgefunden hat. Etwa zwei Wochen vor Weihnachten bittet er einen Freund, eine Grotte1 nach den Vorgaben der Weihnachtserzählung vorzubereiten, und feiert dort mit der Bevölkerung am Heiligabend die Mitternachtsmesse. Die Begründung, die ihm Thomas von Celano, sein erster Biograf, dafür in den Mund legt, lautet: Ich möchte nämlich das Gedächtnis an jenes Kind begehen, das in Betlehem geboren wurde, und ich möchte die bittere Not, die es schon als kleines Kind zu leiden hatte, wie es in eine Krippe gelegt, an der Ochs und Esel standen, und wie es auf Heu gebettet wurde, so greifbar als möglich mit leiblichen Augen schauen. 1 Da zur Zeit Jesu Herdentiere zum Schutz in Grotten gebracht wurden – fest gebaute Ställe für Tiere waren unüblich –, ist eine Grotte für die Weihnachtsfeier gewählt worden. Elisabeth Bäbler ist Franziskanerin von Sießen. Sie lebt derzeit gemeinsam mit einer Mitschwester in Siegen (NRW) und arbeitet dort im Geistlichen Zentrum Eremitage Franziskus. Die Krippenfe

Die Menschwerdung Gottes, verbunden mit der Erfahrung, Gott gerade dort zu finden, wo er nicht vermutet wird, ist ein Thema, das die Spiritualität Franz von Assisis wesentlich geprägt hat. Da dieses Verständnis von Weihnachten vielen Menschen seiner Zeit kaum noch zugänglich war, versucht er, einen neuen Zugang zu finden, indem er alle seine Sinne zu Hilfe nimmt. Franziskus war kein Gelehrter. Wir haben nur wenige kleine Schriften, die von ihm überliefert sind. Das Weihnachtsereignis, das Staunen über die Menschwerdung Gottes, der für uns am Weg geboren ist, zieht sich aber wie ein roter Faden durch einen Großteil dieser wenigen Schriften. Es kann als eines der zentralen Themen seiner Spiritualität bezeichnet werden. In der ersten Lebensbeschreibung von Thomas von Celano schreibt dieser: Vor allem war es die Demut der Menschwerdung Jesu und die durch sein Leiden bewiesene Liebe, die seine Gedanken derart beschäftigten, dass er kaum an etwas anderes denken wollte. Liest man die Beschreibung dieser besonderen Feier in Greccio, fällt auf, dass weder Josef noch Maria genannt werden. Das Kind selbst wird nur als von einem Bruder in einer Vision gesehen erwähnt. Das scheint mir der Unterschied zu unseren heutigen Krippendarstellungen zu sein: Nicht die heilige Familie steht im Mittelpunkt dieser Weihnachtfeier, sondern die Demut Gottes, die für Franziskus nicht nur an Weihnachten sichtbar wird, sondern auch in jeder Eucharistiefeier während der Wandlung. In beiden Ereignissen macht Gott sich unscheinbar und anfassbar. Daher liegt es für Franziskus nahe, Eucharistie an einem Ort zu feiern, der diese Parallelität noch einmal mehr unterstreicht. Das hängt wohl auch mit einer der grundlegenden Gotteserfahrungen zusammen, die Franziskus in seiner Elisabeth Bäbler OSF eier in Greccio rechts: Sieger Köder, Weihnachten in Greccio. Kinderdorf Ellwangen, Franziskuskapelle © Sieger Köder-Stiftung Kunst und Bibel, Ellwangen, www.verlagsgruppe-patmos.de/rights/abdrucke

10 FRANZISKANER 4|2023 KRIPPENSPIEL © PICTURE ALLIANCE / EPD-BILD Inszenierungen, zeichenhafte Ausdrücke und Augenblicke in der Geschichte einer Glaubensgemeinschaft oder eines Volkes haben Wirkung über Jahrhunderte hinweg: die Fußwaschung Jesu, das Hissen einer fremden Fahne auf einem eroberten Gebäude, der Kniefall Willi Brandts in Warschau, das Aufreißen der Mauer in Berlin, die Zerstörung des World Trade Center in New York. Es gibt unendlich viele von guten und – leider auch – bösen Inszenierungen. Sie fesseln die Aufmerksamkeit. Sie regen die Vorstellungskraft an. Sie haben oft mehr Wirkung als viele Worte. Aus geschenktem Einfallsreichtum, aus gegebener schöpferischer Fantasie war der heilige Franziskus ein Meister von Inszenierungen. Er hat sie nicht wie ein Projekt geplant. Er hat sie aus Ergriffenheit von der Botschaft des Evangeliums vollzogen. Jetzt im Blick auf Weihnachten kommt eine der nachhaltigsten Inszenierungen in die Erinnerung: die Weihnachtsfeier in Greccio. Die ausschmückende Legende hat das entstehen lassen, was wir heute als Krippe kennen: Maria und Josef, und vor allem das Kind, dazu Ochs und Esel und die Hirten. Historisch stand nach Thomas von Celano für Franziskus am Anfang nur eine Krippe mit Stroh und dabei Ochs und Esel. Aber diese totale Reduktion genügte Franziskus, darin die Demut Gottes zu spüren, in der »Leere« die »Fülle« des Weihnachtsgeheimnisses zu erleben, in der Abwesenheit die Gegenwart des menschgewordenen Gottes im Kind zu sehen. Als Franziskus dann das Weihnachtsevangelium singend verkündet und auslegt, ist er mit allen Sinnen und seinem ganzen Körperempfinden im Wort des Evangeliums präsent. »Zu Ehren kommt da die Einfalt, die Armut wird erhöht, die Franz Richardt OFM Suchphase machte. Es handelt sich um die Begegnung mit dem sogenannten Kreuz von San Damiano, einer Ikone in Kreuzform, die in einer kleinen, halb verfallenen Kirche unterhalb Assisis hing. Vor diesem Kreuz ist sich Franziskus in meinen Augen einer wesentlichen Dimension der Menschwerdung bewusst geworden: Einem Gott, der Mensch wird und unser Leben in allen seinen Aspekten teilt, ist auch nichts unserer Existenz fremd. Er kennt Sorgen und Nöte, Freuden und Glück aus eigener Erfahrung. Einem solchen Gott kann ich viel eher vertrauen als einem, der abgeschieden in seinen himmlischen Gefilden lebt und sich hin und wieder zum Menschen herunterbeugt. In den Augen des Franziskus zeigt sich Gott damit als der Gute, der unverbrüchlich Zugewandte. Und er erlaubt so dem Menschen seinerseits, sich ihm vorbehaltlos anzuvertrauen. Diese beiden Ebenen der Messfeier und der Menschwerdung auch visuell erfahrbar zu machen und noch enger zu verknüpfen, scheint auch die Motivation hinter der Feier von Greccio gewesen zu sein. Das Erlösungsgeschehen findet für Franziskus nicht isoliert an Ostern statt, sondern beginnt mit der Menschwerdung und endet mit der Himmelfahrt. Weihnachten und Ostern gehören zusammen. So ist es kein Wunder, dass die franziskanischen Theologen diesen Grundgedanken aufgenommen haben und auf die Frage »Warum wurde Gott Mensch?«, die im 13. und 14. Jahrhundert kontrovers diskutiert wurde, mit dem schlichten Satz geantwortet haben: weil er den Menschen nahe sein wollte. Um nochmals auf die Herdmanns zurückzukommen…. Es wird erzählt, durch ihre im wahrsten Worte neue Sicht auf die Ereignisse der Heiligen Nacht hätten sie den Menschen der Gemeinde ermöglicht, das Wunder von Weihnachten wieder tiefer wahrzunehmen – genauso wie es Franziskus damals mit seiner Feier vor 800 Jahren getan hat.

11 FRANZISKANER 4|2023 Demut gepriesen, und aus Greccio wird gleichsam ein neues Betlehem« (1 C, 85). Das Leben des Franziskus ist durch viele solcher Inszenierungen geprägt: • Am Beginn seiner Nachfolge des armen Christus umarmt er einen Aussätzigen und legt seine Kleidung seinem Vater vor die Füße. • Er predigt den Vögeln, diesen kleinen Tieren. In großer Demut neigt er sich darin sinnbildlich den Armen zu, den nicht beachteten Menschen. • Betend befreit er die Stadt Arezzo von Dämonen. • Als die Brüder in einer Niederlassung einmal kein Brot hatten, schenkt er einem vorbeikommenden Bettler die einzige Bibel mit dem Hinweis an die Brüder: »Es ist besser, wir leben das Wort Gottes, als dass wir es nur lesen.« • Am Ende seines Lebens lässt er sich nackt auf die Erde legen, aus der tiefen Überzeugung, aus der Erde genommen zu sein und auf der Erde liegend seinem Schöpfer im Tod entgegenzugehen. Immer waren diese Inszenierungen provozierend, manchmal sanfter, manchmal heftiger: • Eingeladen zu einem Festessen bei Prälaten und Kardinälen in Rom geht er auf die Straße, leiht sich von einem Bettler einen Napf mit ein paar Speiseresten darin, geht zurück und setzt sich damit an den Tisch der feinen Herren. • Als die Brüder einmal gegen seinen Willen ein Haus errichtet hatten, ließ er es wieder abreißen, weil auch der Herr Jesus Christus kein Dach über dem Kopf hatte. Aus vielen weiteren Inszenierungen möchte ich exemplarisch eine herausgreifen: Franziskus, inzwischen berühmt, ist bei den Schwestern der heiligen Klara zu Besuch und soll eine Predigt halten. Anstelle einer Predigt holt er Asche, stellt sich in den Chorraum der Schwestern, zieht mit der Asche einen Kreis um sich und schüttet den Rest der Asche auf seinen Kopf. Er kommentiert diese Szene mit einem Wort aus Psalm 51: »Erbarme dich meiner, o Gott!« Mehr nicht, kein weiteres Wort, aber eine eindrucksvolle Predigt. G. K. Chesterton schrieb über ihn: »Die Dinge, die er sagte, waren denkwürdiger als diejenigen, die er schrieb. Die Dinge, die er tat, waren erfinderischer als die Dinge, die er sagte. (…) Von dem Moment, als er seine Kleider zerriss und sie seinem Vater vor die Füße warf, bis zu dem Moment, als er sich im Tod auf die nackte Erde in der Gestalt des Kreuzes legte, bestand sein Leben aus diesen unbewussten Haltungen und spontanen Gesten.« Franz Richardt OFM war 18 Jahre Geistlicher Direktor der Bildungsstätte Haus Ohrbeck. Heute lebt und arbeitet er weiter in Ohrbeck bei Osnabrück. Wirksam in Szene gesetzt: Franziskus sagt sich von seinem Vater los und gibt ihm die Kleider zurück. Fresco von Giotto di Bondone. ein Meister der dramatischen Inszenierung

12 FRANZISKANER 4|2023 Weihnachten auf der Straße Bernd Backhaus und Rudolf Dingenotto OFM In Ostberlin, wo Franziskanerkonvent und Suppenküche beheimatet sind, sind nur noch einige wenige Menschen kirchlich verankert. Deshalb ist der Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz Kirmes pur. Auf anderen Weihnachtsmärkten drehen sich riesige Krippenfiguren: die drei Könige, Maria, Josef und das Kind – Weihnachten als Event. Was zieht die Massen auf die Märkte? Wehmut, Nostalgie, Sehnsucht nach vergangenen Kindertagen, in denen alles gut war? Die Projektion, geborgen in einer heilen Familie zu sein? Geschenke zu bekommen? Weihnachtslieder zu singen? Weihnachtsgrüße zu schreiben? Romantik pur an einem Tag im Jahr? All das gibt es auch in unserer Suppenküche in Berlin-Pankow. Für Menschen, die auf der Straße, am Rand der Gesellschaft leben, ist es nicht anders als für alle anderen Menschen. Auch sie sind geprägt von den großen Erwartungen, die auf dieses Fest gerichtet sind. Auch sie hoffen darauf, dass es einmal besser, endlich gut wird. Mit dem einsetzenden Winter wird das Leben auf der Straße härter. Der Sommer mag noch eine gewisse Idylle im Nomadenleben vorgaukeln. Der Winter wird alljährlich zur Belastungsprobe. Und mitten im Winter, in der dunkelsten Nacht, ist dann dieses Fest, auf das alles zuläuft. Spätestens mit Beginn des Advents, wenn die erste Kerze entzündet wird, sind die Gedanken auf Weihnachten ausgerichtet. Das sogenannte Fest der Liebe löst Projektionen in beide Richtungen aus: von den Menschen am Rand und hin auf die Menschen am Rand. Menschen am Rand wissen oft nicht, wie und wo sie die Weihnachtstage erleben oder überleben können. Menschen in gutbürgerlichen Verhältnissen wünschen umgekehrt, für die Brüder und Schwestern auf der Straße diese Zeit des Jahres etwas schöner zu gestalten. Oft erwarten sie dabei etwas naiv, Freude und Dankbarkeit für die erwiesenen Gaben zu erleben, die dann wieder das eigene Herz wärmen. Die Suppenküche der Franziskaner gäbe es nicht, wenn es nicht Franziskus gegeben hätte. Er hat vor 800 Jahren in Greccio zum ersten Mal in der Geschichte Weihnachten live feiern wollen: mit den einfachen Leuten der Landbevölkerung, draußen im Freien, mit einer Krippe voll Stroh, mit Ochs und Esel. Als Erwachsener nennt er sich Menschensohn und teilt ihr Los. Jesus – unterwegs geboren – sagt von sich, er habe keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann: Gott als Fremdling, nicht überall willkommen. Mit dieser Krippenfeier hat Franziskus einen Rahmen geschaffen für die Sehnsüchte, die in den Menschen schlummern: die Sehnsucht, eine gemeinsame Menschheitsfamilie, Brüder und Schwestern zu werden; einen Ort zu wissen, wo jede und jeder willkommen ist. Von dieser Vision leben die Franziskaner bis heute. So haben sie in Pankow im letzten Jahr an Heiligabend zuerst mit 200 Gästen vom Rand der Gesellschaft gefeiert und in der Nacht im kalten Zelt mit 80 Gottesdienstbesucher:innen an einer Holzkrippe aus einer Palette auf Sandboden. Viele Besucherinnen und Besucher sagten hinterher: Es war zwar kalt und schlicht, kein feierliches Hochamt in einer festlichen Barockkirche, aber hautnah spürbar, wie es wohl in Betlehem war, und was Franziskus mit seiner Krippenfeier nachempfunden hat. Weihnachten beginnt aber nicht erst am Heiligen Abend. Bereits in der Vorweihnachtszeit fiebern viele auf das Fest hin: Mehrere Grundschulen packen alljährlich Weihnachtspakete für unsere Gäste, damit sie nicht leer ausgehen und die Freude des Festes angemessen mit einem Geschenk erleben können. Familien, Nachbarschaften und Freundinnen treffen sich zum Plätzchenbacken, um damit ein kleines Quäntchen Freude genießbar werden zu lassen. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen der Suppenküche nehmen Anteil am Wohl und Wehe der täglichen Gäste. Immer wieder gibt es kleinere und größere PORTRÄT RUDOLF DINGENOTTO OFM © KIÊN HOÀNG LÊ Rudolf Dingenotto OFM ist Vertreter des Ordens für die Suppenküche in Berlin-Pankow Bernd Backhaus ist Leiter der Suppenküche in Berlin-Pankow

13 FRANZISKANER 4|2023 Obdachlose übernachten drei Tage vor Heiligabend in einem überdachten Durchgang nahe dem Petersplatz in Rom Spenden, die den Alltag bereichern und Kraft für das jetzt und hier anstehende kleine Wegstück auf Weihnachten hin geben. Auch in der Kleiderkammer ist die Nachfrage ungebrochen. Für die kalte Jahreszeit bitten wir speziell um warme Schlafsäcke. Sie werden nicht erst am Heiligen Abend benötigt, sondern bereits im Herbst, wenn die Nächte kälter werden. Sie gehören beim Überlebenskampf der Überlebenskünstler in der Suppenküche dazu. Wie erleben Menschen am Rande den Heiligen Abend? Sie haben meist keine Verbindung mehr zu Angehörigen. Sie bekommen keine Post. Sie erhalten keine Geschenke. Sie haben keine warme Wohnung. Der Tag ist wie jeder andere, sie bemerken nur eine andere Stimmung in der Stadt. Sie hören keine lieblichen Weihnachtslieder und wunderliche Geschichten. Wie gestalten wir in der Suppenküche Weihnachten für Menschen auf der Straße? Wir können nicht alles ersetzen, aber doch einiges anbieten, was für einige Stunden hilft, die angespannte, erwartungsvolle Zeit zu bestehen. Wir © PICTURE ALLIANCE / LENA KLIMKEIT / DPA

14 FRANZISKANER 4|2023 wollen einen Raum schaffen, in dem sich die Gäste wie zu Hause fühlen sollen – wenn auch nur kurz. 160 Plätze hat der Speisesaal. Viele stehen lange an, um unbedingt einen Platz zu bekommen. Wir begrüßen am Eingang jeden Gast persönlich. Im letzten Jahr stand der Berliner Erzbischof Heiner Koch mit am Eingang – eine Überraschung für manche, die wussten, was ein Bischof ist. Wir laden zuerst um 15 Uhr zu Kaffee und Kuchen ein. Dabei spielt meist ein Posaunenchor aus einigen evangelischen Gemeinden. Vor einem Jahr spielten eine Mutter mit ihrer Tochter auf der Flöte. Der Saal ist weihnachtlich geschmückt, mit Tannenbaum, Kerzen und Holzkrippenfiguren in den Fenstern. Anschließend hören die Gäste eine Weihnachtsgeschichte, oder der Bischof spricht zu ihnen. Wir versuchen Weihnachtslieder mit den Gästen zu singen – viele Gäste aus den osteuropäischen oder arabischen Staaten kennen sie nicht. Und doch geht die Musik einigen so zu Herzen, dass sie die Atmosphäre nicht mehr ertragen können und rausgehen. Danach veranstalten wir ein Bingospiel, bei dem die Gäste ihre Geschenke gewinnen können. Eine Garage voll Geschenke sammeln wir jedes Jahr in der Adventszeit. Das ist ein besonders intensiver Augenblick mit Überraschungen und manchen Kindheitserinnerungen. Unglaublich, wie viel die Gäste noch beim Abendessen mit Kartoffelsalat und Würstchen verdrücken können! Manche essen sehr schnell, um noch bei einer anderen Weihnachtsfeier früh genug dabei sein zu können. Auch wir und alle Mitarbeitenden sind froh, nach dem Aufräumen zur eigenen Weihnachtsfeier übergehen zu können. An beiden Weihnachtstagen öffnen wir die Suppenküche und bieten nicht wie sonst eine Suppe an, sondern ein schmackhaftes Menü. Erst nach den Feiertagen machen wir etwas Pause und bieten nur eine Notversorgung mit Butterbroten an. Aber auch die müssen geschmiert werden. Die Gäste werden in der Suppenküche hineingenommen in das wärmende, schöne Fest. Aber es ist auch richtig, dass nach dem Fest wieder jede und jeder in die eigene, zum Teil harte Wirklichkeit entlassen wird, so wie es jeden Tag nach dem »Suppefassen« geschieht: Ich bleibe für mich verantwortlich, muss mit meinem Leben eine Antwort darauf geben, dass ich in dieses Leben hineingeworfen bin. Heiligabend im Jahr 2016 in der Suppenküche der Franziskaner in Berlin-Pankow Krippen spiegel häufig die Kultur der Gläubigen. Im Museum der Völker in Werl sind u. a. Krippen aus Lateinamerika, Afrika und Asien ausgestellt. Franziskanermissionare brachten diese Krippen mit aus den Ländern, in denen sie wirkten.

15 FRANZISKANER 4|2023 Die Krippe gestalten Andreas Brands OFM Sie ist ein echtes Kunstwerk, die Krippe zu Hause bei Freunden – wirklich ein Kunstwerk, ein zeitintensives Geschehen, eine werdende Landschaft. Während sie aufgebaut wird, ist eine besondere Feierlichkeit im Raum zu spüren. Die Krippe nimmt das halbe Wohnzimmer ein. Liebevoll ist alles arrangiert: das Hirtenfeld von Betlehem, ein Feuer für die Hirtinnen und Hirten und die Schafe, eine Brücke über einen Bach, der Engel über dem Stall, die Tiere, deren Bestand sich Jahr für Jahr verändert oder sogar vergrößert. Und natürlich die Eltern und das Kind, wobei dem Kind eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. Ich finde es großartig, wie die »Kinder« bis ins Erwachsenenalter diese Familientradition mitgestalten. Meine Krippe dagegen ist bescheidener. Leicht aufzubauen, da sie nur aus drei vor 36 Jahren aus Ton geformten »Personen« besteht: Maria, Josef und das Kind. Dazu lege ich einen Tannenzweig und einen Stern aus Bronze, dazu ein Teelicht – schlicht und auf das für mich Wesentliche konzentriert. In der franziskanischen Tradition wird oft ein Franziskaner in die Krippen der Klosterkirchen »eingebaut«. Vielleicht in Erinnerung an Franziskus, der diese Tradition (wieder)belebt hat, oder als Wertschätzung eines Bruders vor Ort, der lange in diesem Kloster gewirkt hat. Ganz anders die Krippe bei Freundinnen und Freunden aus Italien, die sie in der neapolitanischen Tradition gestalten: Neben den uns bekannten Figuren, die zur Krippe dazugehören, gibt es eine zusätzliche Gestalt, den sogenannten »nullafàcente«, den Nichtstuer. Er steht einfach dabei, hat keine Aufgabe und ist einfach nur Beobachter. So als wolle er uns sagen, dass das Hauptaugenmerk darauf liegt, still zu werden und dem Wirken Gottes andächtig zuzusehen. Wie gestalten Sie Ihre Krippe? Wer gesellt sich auf dem Hirtenfeld dazu? Wer oder was darf auf keinen Fall fehlen? Wie verändern Sie Ihre Gewohnheiten? Kommt Ihrer Krippe eine Aktualität zu? Oder bleibt sie eher beständig so, wie sie immer war? Krippenausstellungen zeigen uns auf vielfältige Weise, wie die traditionelle Krippenlandschaft für das Heute adaptiert wird, wie regionale Eigenschaften in die Krippe einbezogen werden, welchen religiösen Überzeugungen, gesellschaftlichen Entwicklungen oder politischen Ereignissen Platz eingeräumt wird. Alles gehört zur Krippe. Unser Leben mit all seinen Umlaufbahnen, mit allen Aufgaben und Herausforderungen sucht die Nähe zur Krippe – zum Kind. Unzählige Arten und Weisen von Krippen zeugen von der kraftvollen Botschaft, die in dieser Szenerie entfaltet wird. Menschwerdung ist immer Menschwerdung. Daran denke ich, wenn ich meine kleinen Tonfiguren aus der Schublade heraushole und sie auf einem Holzregal arrangiere. Sie geschah damals, sie geschieht heute. Und immer wird dabei das Leben des Menschen in den Mittelpunkt gestellt, mit seinen Risiken, mit seinen Unwägbarkeiten, mit seinen Anfeindungen und mit seiner einmaligen Würde. All das geht mir durch den Kopf, während ich meine Krippe 2023 aufbaue. Gott, der Schöpfer des Lichtes, erblickt selbst das Licht der Welt. In einem Kind aus Betlehem strahlt sein Gesicht. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dass Sie gerne Ihre Krippe aufbauen, sich Zeit dafür nehmen und liebevoll den einzelnen Figuren ihren Platz geben. Um in der gesamten Inszenierung anschaulich werden zu lassen, welch großes Geheimnis sich in der Weihnacht entfaltet. Denn der liebende Blick auf seinen Sohn wird für Gott zum liebenden Blick auf die ganze Welt.

16 FRANZISKANER 4|2023 Menschwerdung Menschenrechte Menschenwürde Die Weihnachtskarte mit den Wandgemälden von Greccio hatte ich vor elf Jahren entworfen, als ich meine Arbeit als Geschäftsführer der franziskanischen Menschenrechtsorganisation Franciscans International begann. Das Fresko, das sich an einer Felswand in einer Grotte in den Bergen von Greccio befindet, projizierte ich auf die Mauer, die vom Staat Israel um Betlehem herum errichtet wurde. Vor der Mauer sind zwei israelische Soldaten zu sehen, deren Weg sich mit dem einer palästinensischen Frau kreuzt. Mit diesem Bild wollte ich auf die Situation von Frauen aufmerksam machen, die zur Entbindung ihrer Kinder eine schwierige und langwierige Prozedur auf sich nehmen mussten, um einen Checkpoint an der Mauer passieren zu können, um ein Krankenhaus zu erreichen. Diese Karte führt uns in drei Zeitepochen: die Zeit, in der Jesus in Betlehem geboren wurde (rechte Seite des Gemäldes), die Zeit des heiligen Franziskus, der die Geburt Jesu in einer Grotte bei Greccio feierte (linke Seite des Gemäldes), und schließlich in die Gegenwart in Betlehem. Wir glauben, dass Gott in der Geburt Jesu Mensch wurde. Gott wird Teil dieser Welt und tritt als Mensch in die Geschichte der Welt ein. Das sogenannte Martyrologium, das zu Beginn der Weihnachtsliturgie verlesen wird, macht deutlich, dass die Geburt Jesu in der ganz konkreten Geschichte stattfand: eingebunden in die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation »im 42. Jahr der Regierung des Kaisers Oktavianus Augustus«. Bei diesem Weihnachtsgeschehen handelt es sich aber nicht nur um ein Geschehen, das vergangen ist und spätestens mit dem Tod Jesu am Kreuz »Geschichte« ist: Wir glauben, dass Gott in jedem Menschen präsent ist, dass alle Menschen, als Schwestern und Brüder Jesu, Anteil haben an der Gotteskindschaft. Gott wird Mensch und heiligt damit jeden Menschen. Die unbedingte und unveräußerliche Würde, die einem jeden Menschen durch die Gottebenbildlichkeit zukommt, wird gewissermaßen bekräftigt, bestätigt und erneuert in dem Geheimnis der Menschwerdung Gottes. Franziskus war ganz und gar überzeugt und geprägt von diesem Glauben, und er wusste sich von Gott gerufen, diese Wirklichkeit durch sein Leben zu verkünden. Mit der Weihnachtsfeier in einer Felsgrotte bei Greccio wollte er seinen Brüdern und den Menschen in der Umgebung von Greccio dieses Geheimnis von der Menschwerdung Gottes und damit auch von der Würde des Menschen nahebringen. Nur wenige Jahre zuvor war er selbst während eines Kreuzzuges beim Sultan und konnte persönlich erfahren, dass auch die Menschen muslimischen Glaubens seine Schwestern und Brüdern sind; dass sie genauso Gottes Kinder sind mit der gleichen Würde wie alle Menschen. Umso mehr schmerzten ihn die kriegerischen Auseinandersetzungen der sogenannten Kreuzzüge. Die franziskanische Ordensregel, die ebenfalls genau vor 800 Jahren von der Kirche offiziell bestätigt wurde, wird von Franziskus in der Aufforderung zusammengefasst: »das Evangelium zu beobachten«. Die Brüder sollen durch ihr Leben das Evangelium, die frohe Botschaft verkünden. Am 10. Dezember dieses Jahres begehen wir ein weiteres Jubiläum: Es werden dann genau 75 Jahre sein, dass die Vereinten Nationen die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« verkündeten. Diese Rechte gründen sich auf der Überzeugung Markus Heinze OFM

17 FRANZISKANER 4|2023 Markus Heinze OFM ist bis Jahresende Geschäftsführer der franziskanischen Nichtregierungsorganisation bei den Vereinten Nationen »Franciscans International«. Zur Zeit arbeitet der deutsche Franziskaner seinen Nachfolger Blair Matheson ein, um einen guten Übergang zu gewährleisten. eben jener unveräußerlichen und unbedingten Würde, die jedem Menschen zukommt – allein aufgrund seines Menschseins. Als Franziskanerinnen und Franziskaner sind wir überzeugt, dass der Einsatz zur Verteidigung dieser Menschenrechte einhergeht mit unserer franziskanischen Berufung, das Evangelium zu beobachten, das Evangelium durch unser Leben und Handeln zu verkünden. Weihnachten 2023, das Fest der Geburt Jesu in Betlehem, findet erneut in einem verheerenden Kontext statt: vor allem mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse in dem vor 75 Jahren ausgerufenen Staat Israel und den von ihm besetzten Gebieten Palästinas; mit Blick auf die brutal durch Kämpfer der Hamas ermordeten Menschen in Israel und die mittlerweile wohl über 10.000 durch den israelischen Militäreinsatz in Gaza getöteten Menschen. Und vergessen wir nicht all die anderen unzähligen Kriege und gewaltsamen Konflikte: in der Ukraine, im Jemen, im Sudan, in Myanmar, auf den Philippinen, in Nicaragua, in Guatemala … Nicht nur die Geburt Jesu, die Menschwerdung Gottes, ereignet sich zu allen Zeiten und an allen Orten dieser Welt, auch die »Kreuzigungen« nehmen kein Ende. Die Botschaft Jesu von der Liebe Gottes, von seiner Präsenz in unserem Leben scheint fast unglaublich. Und doch glauben wir: Gott wird Mensch, Gott ist gegenwärtig auch und gerade in all den schrecklichen und unmenschlichen Gräueltaten. Der Glaube an die Menschwerdung Gottes in Jesus, der Aufruf des heiligen Franziskus, das Evangelium zu beobachten, der Aufruf der Vereinten Nationen, die Würde eines jeden Menschen zu achten fordert uns heraus, konsequent für die Rechte und die unveräußerliche Würde jedes Menschen einzutreten. Diese Collage zierte die Weihnachtskarte von Franciscans International im Jahr 2012

18 BLICK AUF BETLEHEM © PICTURE ALLIANCE / ABACA Betlehem und Greccio In der Spannung zwischen Krippe und Kreuz Betlehem Betlehem (hebräisch: »Haus des Brotes«, arabisch: »Haus des Fleisches«) ist eine Stadt im Westjordanland mit etwa 30.000 Einwohner:innen in der Kernstadt. Sie gehört zu den Palästinensischen Autonomiegebieten und grenzt im Norden an Jerusalem. Zudem gehören noch die beiden Vorstädte Beit Dschala (13.000 Einwohner:innen) und Beit Sahur (12.000 Einwohner:innen) zur Region Betlehem. Für das Christentum ist die Stadt von besonderer Bedeutung, weil Betlehem als Geburtsort Jesu gilt. Auch für das Judentum spielt die Stadt eine große Rolle, denn auch König David soll hier geboren sein, und Rahel, eine der beiden Frauen Jakobs, ist hier begraben. Dies ist biblisch bezeugt und überliefert. In Betlehem steht zudem die Geburtskirche, wo der Geburt Jesu gedacht wird, und in Bait Sahur befinden sich die Hirtenfelder. Dort wurde den Hirtinnen und Hirten, als sie auf den Feldern lagerten, durch einen Engel die Geburt Jesu verkündet. Greccio Greccio ist ein kleines Dorf mit ca. 1.500 Einwohner:innen. Die italienische Gemeinde liegt im Rietital in der Region Latium, 90 Kilometer nördlich von Rom und etwa zwei Autostunden von Assisi entfernt. Dort befindet sich heute noch ein Franziskanerkloster. Wenn man vom Rietital kommt, sieht man das Kloster wie ein Nest in der grün bewachsenen Felsformation hängen. Greccio war eine Einsiedelei, die Franziskus sehr mochte. Eng Betlehem und Greccio – zwei Orte, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben und ungefähr 4.000 Kilometer voneinander entfernt liegen. Betlehem liegt im Westjordanland und ist unter palästinensischer Verwaltung. Greccio liegt in Italien. Interessant ist, dass beide Orte seit 1992 durch eine Städtepartnerschaft verbunden sind. Schauen wir uns doch diese Orte erst einmal etwas näher an. Was ist ihre Bedeutung? Was macht sie aus? FRANZISKANER 4|2023

19 FRANZISKANER 4|2023 verbunden mit diesem Ort ist das Weihnachtsfest 1223, ohne das Greccio wahrscheinlich keinen Platz im Gedächtnis der Menschen gefunden hätte. Dort inszenierte Franziskus das erste »Krippenspiel« und schuf damit einen Ort der Erinnerung an die Menschwerdung Gottes und damit auch an die Menschwerdung des Menschen. Orte der Erinnerung Betlehem und Greccio sind also zwei Orte der Erinnerung an die Geburt Jesu und die Menschwerdung Gottes, was sie miteinander verbindet. In Betlehem und in Greccio können täglich heilige Messen mit den Messtexten von Weihnachten gefeiert werden. Das ganze Jahr hindurch wird also an diesen beiden Orten Weihnachten gefeiert, und Weihnachtslieder erklingen. Der erste Biograf des heiligen Franziskus, Thomas von Celano, berichtet: »Aus Greccio wird gleichsam ein neues Betlehem.« (1 Cel 85,5) Franziskus hat das Weihnachtsfest in einer Zeit, in der dieses Fest immer mehr an Bedeutung verlor, durch seine innere Haltung und seine Inszenierung des Festes neu belebt und entscheidend geprägt. Es war wie eine neue Geburt des Weihnachtsfestes. Betlehem steht für viele Menschen sinnbildlich für das Weihnachtsfest. Mit der Geburt Jesu kommt Gott den Menschen sehr nahe, damals wie heute. Gott wird durch das Kind von Betlehem als liebend, heilend und aufrichtend erfahrbar. Er macht sich für uns ganz klein, und so müssen auch wir uns klein machen, ja bücken, wenn wir die Geburtskirche in Betlehem betreten wollen. Betlehem steht für diese Verbindung Gottes zu den Menschen, aber es steht auch leider immer noch für Konflikte und anscheinend unüberwindbare Grenzen. Seit der Zweiten Intifada und dem Bau der Mauer, der dadurch ausgelöst wurde und vor Terroranschlägen schützen soll, ist Betlehem nicht mehr ganz einfach zu erreichen. Obwohl Betlehem nur ca. 12 Kilometer von Jerusalem entfernt ist, dauert die Fahrt – auch aufgrund der Checkpoints – vergleichsweise lange. Mir kommt da immer wieder die Berliner Mauer in den Sinn. Die Mauer zwischen Betlehem und Jerusalem sowie die anhaltenden Auseinandersetzungen sind ein Grund dafür, dass Weihnachten wohl überall »besser« gefeiert werden kann als dort, wo Jesus geboren wurde. Gerade in diesem Jahr wird es so sein. Im Heiligen Land herrscht Krieg, ausgelöst durch die Angriffe und das Massaker der Hamas am 7. Oktober. Auch wenn sich die kriegerischen Auseinandersetzungen vor allem auf den Gazastreifen konzentrieren, werden die Glocken in Betlehem in diesem Jahr Blick auf Betlehem wenige Tage nach dem Terrorangriff der Hamas. Die 30-jährige Doktorandin Tsahala Sermoneta ist Mitglied der Gemeinschaft Combat First Response. Sie beobachtet von einem Außenposten das hinter der Mauer gelegene Westjordanland. Geburtskirche in Betlehem. Kaiser Konstantin der Große und seine Mutter Helena ließen den frühchristlichen Bau über der vermuteten Geburtsstätte Jesu Christi errichten. GEBURSKIRCHE © JOHANNES ROTH OFM

20 FRANZISKANER 4|2023 wohl trauriger denn je erklingen. Es wird an Pilger:innen aus dem Ausland und auch an einheimischen Christ:innen fehlen; vor allem an denjenigen aus dem Gazastreifen, die nicht einreisen dürfen. War es schon in den letzten Jahren immer fraglich, ob sie ein Visum erhalten würden, in diesem Jahr ist es wohl ziemlich aussichtslos. Betlehem und die dort lebenden Christ:innen sind sehr abhängig vom Tourismus und den Pilger:innen. Bereits in den vergangenen Jahren sind die Übernachtungen und die mehrtägigen Besuche deutlich zurückgegangen. Immer wieder aufflammende politische Auseinandersetzungen und Corona haben zu Schließungen von Geschäften und Hotels geführt. Es herrscht also eher Trauer-, ja Kreuzesstimmung in Betlehem als Weihnachtsfreude. Zwischen Krippe und Kreuz Diese Spannung – oder vielleicht auch Verbindung – zwischen Krippe und Kreuz wird auch in Greccio im Jahr 1223 spürbar, besonders in der Erinnerung an das damalige Weihnachten, das Franziskus mit dem »Krippenspiel« hat lebendig werden lassen. Zur Feier der Menschwerdung Gottes gehört für Franziskus nicht nur die Geburt Jesu, sondern auch sein Tod am Kreuz. Dies kommt auch in Greccio zum Ausdruck. Über der (Futter-)Krippe, die zu Weihnachten 1223 durch den Priester als Altar genutzt wurde, wird Eucharistie gefeiert und damit die Erinnerung an das letzte Abendmahl mit den Jüngern und den Kreuzestod Jesu. Geburt und Tod werden zu einer Linie, einer Verbindungslinie zwischen Gott und den Menschen. Es wird aber auch noch eine andere Spannung deutlich: Einerseits lobt und preist Franziskus einen Gott, der in Armut und Demut geboren wird, und der dadurch den Menschen, die am Rand der Gesellschaft und sozusagen im Schatten des Todes leben, besonders nahe kommt. Es ist für Franziskus zu einem existenziellen Auftrag geworden, diese Nähe auch in seinem Leben zu verwirklichen. Andererseits berauscht sich Franziskus geradezu an diesem Fest und genießt die Weihnachtsfreude in vollen Zügen. Als ein Bruder zu ihm sagt, dass man, wenn Weihnachten auf einen Freitag fallen würde, selbst angesichts dieses Festes kein Fleisch essen dürfe, widerspricht er ihm sehr energisch mit den Worten: An solch einem Tag sollen selbst die Wände Fleisch essen. Die Friedensbotschaft gerade heute Betlehem und Greccio haben also mehr miteinander zu tun, als vielleicht auf den ersten Blick ersichtlich wird: Beide sind besondere Orte der Menschwerdung Gottes. Im Lukasevangelium heißt es, dass die Engel mit der Geburt Jesu den Frieden auf Erden verkündeten. Das hören wir auch in diesem Jahr zu Weihnachten. Und auch in diesem Jahr wird es hoffentlich wieder in unseren Kirchen das Friedenslicht aus Betlehem geben, das in der Geburtsgrotte entzündet und von dort in die ganze Welt verteilt wird. Die Friedensbotschaft der Engel an die Hirtinnen und Hirten auf den Feldern gilt auch heute noch, und sie ist wahrscheinlich aktueller und notwendiger denn je. Hoffen und beten wir für den Frieden im Heiligen Land und in den anderen Kriegs- und Krisengebieten der Welt! Das Kloster Greccio im Rietital liegt in den Bergen über dem Ort. Dort hat der heilige Franziskus die Weihnachtsfeier gestaltet, deren 800-Jahre-Jubiläum in diesem Jahr gefeiert wird. Johannes Roth OFM Greccio war kein »Krippenspiel« Überraschenderweise ist die In-Szene-Setzung des Weihnachtsgeschehen durch Franz von Assisi kein Krippenspiel im heutigen Sinne, es war keine (Theater-)Aufführung. Er lässt dem Bericht des Biografen Thomas von Celano nach lediglich eine Krippe mit Heu herrichten, dazu Ochs und Esel. Es fehlen jedoch das Kind und seine Eltern Maria und Josef. Ebenso gibt es keine Hirten und keine Engel. Das Jesuskind erscheint lediglich in einer Vision eines der Beteiligten. Seine Intention lässt sich nur vermuten. Franziskus möchte die prekären Umstände verdeutlichen, in denen Gott in Armut und bitterer Not für »uns am Weg geboren« wird. Da über der Krippe die Eucharistie gefeiert wird, veranschaulicht sich sein Wort, dass wir Jesus mit unseren Augen nicht anders schauen können denn in den eucharistischen Gaben von Brot und Wein. Die Performance von Greccio lässt sich also nicht eins zu eins mit den heutigen Krippenspielen vergleichen, auch wenn beide Formen das Ziel haben, die Menschwerdung Gottes in den Herzen der Menschen lebendig werden zu lassen. Weiterlesen zum Thema »800 Jahre Greccio« • Einen kulturgeschichtlichen Zugang bietet ein Beitrag von Dr. Sissi Mettier-Mangholz ▶▶ www.franziskaner.net • Eine umfangreiche Materialsammlung findet sich außerdem auf der INFAG-Website ▶▶ www.franziskanisch.net GRECCIO © CHICCODODIFC – STOCK.ADOBE.COM

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=