Franziskaner - Winter 2023

24 FRANZISKANER 4|2023 JANUAR Fremde Mystik Mystik ist uns fremd, den meisten unter uns – mir auch. Sie hat einen frommen Anstrich und ist nicht zu fassen – so zumindest unsere Vorbehalte. Von der Wortbedeutung her ist Mystik ein Schauen, ein genaues Hinschauen auf das, was ist. In diesem Sinn ist Mystik das, was wir mit dem Wort Spiritualität umschreiben können: unsere ganze Wirklichkeit wahrzunehmen – im Angesicht Gottes. Zu den modernen Mystikerinnen gehört Edith Stein, die als Karmelitin den Ordensnamen Teresia Benedicta vom Kreuz getragen hat. In ihr begegnen wir einer kritisch suchenden, hochintelligenten Frau, deren Lebensweg durch ihre furchtlose Entschiedenheit überzeugt. Geboren in einer jüdischen Familie in Breslau, führte sie die Suche nach der Wahrheit in die katholische Kirche und elf Jahre später in die Ordensfamilie der Karmelitinnen von Köln. Von den Nationalsozialisten wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo sie wenige Tage darauf den Märtyrertod starb. In ihrem Gebet formuliert Edith Stein die Frage nach der Möglichkeit des neu geboren Werdens. Dieser Akt soll als ein immerwährender erfahrbar sein, denn die Beterin weiß sich von Gott gesehen, sie hat ihn selbst gefunden und kann ihn nicht mehr lassen. Die Erfahrung, dass die Schuld vergeben wird und Lasten abfallen dürfen, wird für Edith Stein zur Schlüsselerfahrung eines uns Menschen liebenden Gottes. Der Blick in die Krippe an Weihnachten ist für uns ein Moment des Schauens auf das Kind, in dem jeder Mensch neu geboren wird. In ihm schaut Gott uns an mit seinen Augen. Zum Nachdenken • Gab es diesen Moment in meinem Leben, in dem ich mich »wie neugeboren« fühlte? • Wenn Mystik »schauen« heißt: Mit welchen Augen blicke ich auf die Welt? Neu geboren Herr, ist es möglich, dass einer neugeboren wird, der schon des Lebens Mitte überschritt? Du hast’s gesagt, und mir ward es zur Wirklichkeit. Des langen Lebens Last an Schuld und Leid fiel von mir ab. Ach, keines Menschen Herz vermag es zu fassen, was Du denen bereitest, die dich lieben. Nun hab ich dich und lasse dich nicht mehr. Edith Stein (1891 – 1942) 2024

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