29 FRANZISKANER 4|2023 andortwechsel Johannes-Baptist Freyer OFM betrachten lungen zu suchen, die nicht dem Geist des Evangeliums entsprachen. Sie motivierten Schritt für Schritt dazu, einen ethischen Rahmen zu bestimmen, innerhalb dessen sich die alternativen Sichtweisen und Modelle des Handelns bewegten. Das ethische Framework (Deutungsrahmen), an dem sich die Minderbrüder über Generationen orientierten, basiert wie im Leben von Franziskus auf konkreten menschlich-religiösen Erfahrungen. Das meint, die zutiefst menschlichen Erfahrungen werden im Lichte des Evangeliums spirituell gedeutet. Daraus ergaben sich konkrete Schritte der Reflexion des Lebens. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit ermöglicht einen Perspektivenwechsel, eine neue differenzierte Sichtweise der Dinge, die einen emotionalen und intellektuellen Wechsel der Wahrnehmung bewirkt und einen vom Evangelium inspirierten Standortwechsel und eine Handlungsänderung auslöst. Damit sind die Stufen des ethischen Rahmens gekennzeichnet: Konfrontation mit der Realität, ein Perspektivenwechsel, der Umbruch in der emotionalen und intellektuellen Wahrnehmung sowie die Umkehr und Neuorientierung des Lebens. Konfrontation mit der Wirklichkeit Die biografische Interpretation des Lebens von Franziskus lieferte dazu den inspirativen Hintergrund. Der Umbruch im Franziskusleben begann mit Konfrontationen: »Siehst Du nicht, wie mein Haus zerfällt … (San Damiano)«, »… nicht mehr Vater Pietro di Bernardone (Enterbung)«, »... und wer bin ich? (La Verna)«, »… es kam mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen (Testament)«. Durch diese Spiritualität der Konfrontation mit der Wirklichkeit ließen sich die späteren Generationen der Brüder und Schwestern ermutigen, sich mit den jeweils zeitgenössischen Herausforderungen, wie Verarmung und Verschuldung breiter Bevölkerungsschichten durch die Finanzwirtschaft, zu konfrontieren. So wie Franziskus durch die Konfrontation mit der Realität seine Welt mit anderen Augen zu sehen begann, so begannen Franziskaner und Angehörige der franziskanischen Laienbewegung, die wirtschaftliche Situation und die Marktkräfte aus der Perspektive der Verlierer des Marktgeschehens wahrzunehmen. Wie im Leben des Franziskus die Begegnung mit den Aussätzigen eine intellektuelle und emotionale Veränderung auslöste, »... was mir bitter vorkam, wurde in Süßigkeit verwandelt (Testament)«, so löste die Verarmung und Verschuldungsspirale breiter Bevölkerungsschichten in den Angehörigen der franziskanischen Bewegung ›Compassio‹ (tätige Anteilnahme) aus. Dabei wurden sie sich bewusst, dass die von einer rigorosen Kredit- und Geldwirtschaft ausgelösten sozialen Probleme und Ungerechtigkeiten nicht durch Almosen behoben werden konnten.
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