Franziskaner - Winter 2023

32 FRANZISKANER 4|2023 Johannes Roth (JR): Herr Steiner, was war Ihrer Meinung nach der Auslöser für diesen bisher unvorstellbar brutalen Angriff der Hamas auf Zivilist:innen in Israel? Till Steiner (TS): Das Massaker geschah kurz nach dem 50-jährigen Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges in einer Zeit, in der sich mehrere arabische Staaten offen für Friedensverträge mit Israel zeigen. Im Rahmen der Abraham Accords Declaration haben die Vereinigen Arabischen Emirate und Bahrain Israel anerkannt, und zwischen Saudi-Arabien und dem jüdischen Staat gab es bedeutende Fortschritte auf dem Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen. Dadurch drohten die Palästinafrage und auch die Hamas in der arabischen Welt an Relevanz zu verlieren. Was ich jedoch viel deutlicher als den Auslöser dieses Terrorangriffs sehe, ist sein Ziel: Den Israelis sollte vor Augen geführt werden: Ihr seid nicht sicher, ihr seid in eurem eigenen Land nirgendwo sicher vor uns. Das Ziel war eine blutige Machtdemonstration der Hamas. Das so etwas passieren könnte, haben in den letzten Jahren einige, so der ehemalige israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, vorausgesagt. Diese Warnungen wurden aber nicht ernst genommen. Die Regierung in Israel glaubte, dass der Hamas daran gelegen sei, sich als Regierung in Gaza zu festigen, und sie deshalb nach den Erfahrungen des letzten Gaza-Krieges kein Interesse an einer großen Auseinandersetzung mit Israel habe. Und genau das hat sich nicht bewahrheitet. Im Endeffekt hat die Hamas mit ihrem Anschlag deutlich gemacht, was ihr Ziel ist: Die Vernichtung des Staates Israel. Thomas Meinhardt (TM): Musste die Hamas nicht von Anfang an damit rechnen, dass ein solcher Terrorangriff einer Selbstmordaktion wegen der Reaktion Israels gleichkommt? TS: Es gibt die Theorie, dass die Hamas geglaubt habe, mit der Entführung vieler Geiseln ihre in israelischen Gefängnissen sitzenden Kämpfer freizupressen. Doch das halte ich für unwahrscheinlich. Ja, die Hamas musste damit rechnen, dass diese Terroraktion zu einem sehr verlustreichen Krieg gegen Israel führt. Sie sind mit äußerster Brutalität nach Israel eingedrungen. Sie haben zudem ihre Brutalität gefilmt, online gestellt, und wir alle in Israel haben an diesem Samstagmorgen, am 7. Oktober, direkt diese furchtbaren Videos vor Augen gehabt, die man sich nicht im schlimmsten Traum hätte ausdenken können und deren Schreckensbilder die ganze Nation traumatisiert haben. TM: Es ist ein ähnliches Vorgehen wie beim sogenannten Islamischen Staat vor einigen Jahren. TS: Genau. Und das war, denke ich, das Ziel der Hamas und – so muss man es leider auch sagen – ihr Erfolg. Den Krieg hat die Hamas am ersten Tag gewonnen – zumindest anfänglich –, weil in der israelischen Gesellschaft momentan jeder Glaube an die eigene Sicherheit komplett zerstört ist. Das ist der Sieg, den die Hamas schon erreicht hat; und es ist auch nicht auszuschließen, dass die Hamas Interesse hat an einem langen blutigen Konflikt und den damit einhergehenden Bildern, um ihre Position in der arabischen Welt und der palästinensischen Gesellschaft zu festigen. Der Kampf in Gaza wird wahrscheinlich Monate dauern. Es wird ein Straßenkampf. Und die Hamas ist mit ihren Tunnelsystemen darauf vorbereitet. Vielleicht glaubt die Hamas wirklich, dass sie diesen Krieg irgendwie gewinnen bzw. einen Waffenstillstand erreichen könnte. Das sei dahingestellt. Aber aus israelischer Perspektive steht fest: Nachdem die Hamas am 7. Oktober mordend einmarschiert und bis in die Schlaf- und Kinderzimmer schutzloser Familien eingedrungen ist, kann nichts mehr sein wie zuvor. Die Bilder des Massakers und die Angst, die mit ihnen einhergeht, werden aus den Köpfen der Israelis nie wieder verschwinden. Daher kann es aus der Sicht des Staates Israel nur ein Kriegsziel geben: die völlige Entmachtung der Hamas. TM: Wer wird in der israelischen Öffentlichkeit dafür verantwortlich gemacht, dass so etwas überhaupt geschehen konnte, was man sich bis dahin nicht vorstellen konnte? TS: Die Schuldfrage ist eindeutig: Der Staat hat komplett versagt. Die jüdischen Staatsbürger:innen haben verstanden: Der Staat, der mich beschützen soll, der Staat, der mir zugesichert hat »Nie wieder Holocaust, nie wieder Pogrom«, hat komplett versagt. Das heißt: Jerusalem Ägypten Jordanien Mittelmeer Syrien Libanon Gazastreifen Golanhöhen West Bank © meinhardt, 2023

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