Franziskaner - Winter 2023

33 FRANZISKANER 4|2023 OBEN RECHTS © PICTURE ALLIANCE / EPA | PORTRÄT T.M. STEINER @ PRIVAT Till Magnus Steiner ist katholischer Theologe, Bibelwissenschaftler und freier Journalist. Er lebt mit seiner Familie in Jerusalem. Auch die Köpfe der Armee und der Sicherheitsdienste haben versagt und dies auch eingestanden. Auch Naftali Bennet, der ehemalige Ministerpräsident, hat erklärt, er habe Fehler begangen. Einzig Benjamin Netanjahu sieht bisher keinerlei Schuld bei sich selbst. Das wird in der israelischen Öffentlichkeit allerdings anders gesehen. JR: Vielen Beobachter:innen erscheint es unwahrscheinlich, dass die Hamas einen solchen großen Angriff alleine organisieren konnte. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach der Iran und auch die libanesische Hisbollah in diesem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr eines Flächenbrandes oder einer weiteren Eskalation im Norden Israels? TS: Momentan führt Israel nicht nur einen Krieg im Gazastreifen, sondern kämpft im Norden gegen die Hisbollah, fliegt Angriffe gegen Stellungen proiranischer Milizen in Syrien und wird aus dem Jemen beschossen. Diese vier Regionen vereint, dass dort Terrororganisationen aktiv sind und großen Einfluss haben. Nicht die Staaten führen die Kriege, sondern die Hamas und die Hisbollah und im Jemen die Huthi-Rebellen. Das sind alles Terrorgruppen, die finanziert und ideologisch unterstützt werden vom Iran. Sie werden ausgebildet und erhalten Waffen vom iranischen Regime. Das heißt, was im Gazastreifen passiert, kann man nicht trennen vom Iran. Doch niemand – auch in Israel nicht – weiß derzeit, ob der Iran diese Aktion der Hamas befohlen oder zumindest aktiv unterstützt hat oder ob die Hamas das »nur« mit der Rückendeckung durch den Iran gemacht hat. Für keine dieser Theorien gibt es bisher Belege. Man muss aber auch sagen, dass der Iran keine alleinige Entscheidungskraft besitzt. Die Hisbollah beispielsweise ist ein Staat im Staat im Libanon. Und die Hisbollah wird sich nicht opfern für den Iran. Das sieht man auch sehr gut im aktuellen Gaza-Krieg. Im Gazastreifen öffnet sich gerade die Hölle, und oben im Norden wird sehr zurückhaltend – nach mathematisch anmutenden Regeln – gekämpft. Sowohl auf der Seite der Hisbollah als auch auf der Seite Israels. Niemand will dort einen richtigen Krieg, die Hisbollah nicht und Israel nicht. Und man sieht sehr genau, es wird sozusagen Zahn um Zahn, Auge um Auge geschossen. Die Hisbollah möchte und muss auch zeigen, allein um ihren eigenen Machtanspruch aufrechtzuerhalten, dass sie an der Seite der Palästinenser:innen steht. Sie unterstützt ihre »Brüder« im Gazastreifen. Andererseits hat die Hisbollah kein Interesse an einem Krieg mit Israel nach der Erfahrung von 2006. Und die Hisbollah ist Teil eines sehr ausgeklügelten Machtgefüges im Staat Libanon, der ja ein zerbrechliches Konstrukt ist. Sollte die Hisbollah Israel massiv militärisch angreifen, verliert sie gleichzeitig ihre Position im Libanon, weil Israel dann in den Libanon einmarschieren und das Land zum Schlachtfeld würde. Das Gefährliche an der Nordgrenze ist im Endeffekt die Frage, ob die Mathematik im täglichen Ablauf funktioniert: »Wir schießen euch einen Panzer kaputt, ihr schießt uns eine Raketenabschusseinrichtung kaputt.« Was passiert, wenn bei diesen Gefechten im Norden ein Schuss fehlgeht? Dann brennt es dort. TM: Israel hat vor allem zwei Ziele seiner Bodenoffensive in Gaza formuliert: die vollständige Zerstörung der Organisationsstruktur der Hamas und die Befreiung aller Geiseln. Widersprechen sich nicht beide Ziele ein Stück weit, da die Hamas – wenn sie die Geiseln nicht mehr als Tauschobjekte einsetzen kann – sie als menschliche Schutzschilde einsetzen könnte? Und ist ein monatelanger Krieg in den Tunneln und Gassen eines dicht besiedelten Gebietes zu gewinnen ohne unvorstellbar viele zivile Opfer? TS: Die israelische Regierung sagt, dass ohne den Druck einer Bodenoffensive es keine Es herrscht Krieg. Auf beiden Seiten sind tiefe Wunden entstanden. Die Zerstörung im Gazastreifen hat gewaltige Ausmaße.

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