34 FRANZISKANER 4|2023 © BRITTA PEDERSEN – PICTURE-ALLIANCE.COM zielführenden Verhandlungen über die Befreiung der Geiseln geben kann. Und die israelischen Streitkräfte glauben, die Möglichkeit zu haben, Geiseln zu befreien. Deshalb erklärt Israel: Die Hamas wird nach diesem Krieg nicht mehr im Gazastreifen herrschen. Das Problem bei der ganzen Sache ist: Israel wird erst den Gazastreifen besetzen müssen; ansonsten hat die Armee keine Möglichkeit, die Hamas von ihrer Machtposition zu entfernen. Gehen wir mal von der Theorie aus, Israel gewinnt und besetzt und kontrolliert den Gazastreifen, und die Hamas ist immer noch im Gazastreifen – als Terrororganisation, aber nicht mehr als Machthaber. Israel sagt deutlich: Wir wollen nicht dauerhaft Gaza besetzen. Aber: Wer wird sich dann um Gaza kümmern? Weder Ägypten noch Jordanien wollen und werden das tun, sie haben genug eigene Probleme. Die einzige Option, die jetzt noch übrig zu bleiben scheint, wäre, dass die Fatah das Gebiet übernimmt. Sie herrschen momentan in den autonomen Gebieten in der Westbank. Doch man darf nicht vergessen, dass die Hamas nach einem Bürgerkrieg 2007 die Macht im Gazastreifen an sich gerissen und der Fatah entrissen hat. Die Fatah und die Hamas sind – trotz mehrerer Versuche einer Einigung – doch weiterhin konkurrierende, ja verfeindete Gruppen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Wenn also Israel nach dem Krieg Gaza wieder verlässt, würde das vielleicht wieder zu einem Bürgerkrieg im Gazastreifen führen. Eine Möglichkeit, die auch noch debattiert wird, ist, dass ein anderer arabischer Staat die Verantwortung für den Gazastreifen übernimmt. Ich gebe zu, das klingt jetzt weit hergeholt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass gerade im Zuge der Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel das saudische Königshaus ein Interesse daran haben könnte, als starke Regionalmacht diese Verantwortung zu übernehmen: Also, Saudi-Arabien verwaltet den Gazastreifen, steckt Geld in die Infrastruktur und regiert im Gazastreifen sozusagen übergangsweise bzw. ermöglicht einen Neuanfang unter seiner Aufsicht. Wenn man bedenkt, dass Saudi-Arabien seine Machtposition im Nahen Osten ausbauen möchte, das saudische Königshaus eine sehr enge Verbindung mit den USA hat, weiterhin militärische Hilfe und einen Atomreaktor von den USA möchte, eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel anstrebt und immer wieder betont, dass man eine Lösung für die Palästinenser:innen braucht, dann kann ich mir vorstellen, dass Saudi-Arabien im Rahmen einer Normalisierung mit Israel sagt: Wir übernehmen für eine Übergangszeit die Regierungsverantwortung für den Gazastreifen. Eine solche Entwicklung würde bei den Palästinenser:innen sicherlich keine große Begeisterung hervorrufen, aber eine zufriedenstellende Lösung gibt es vermutlich derzeit nicht. JR: Ich würde gern noch einmal den Blick auf die Lage in Gaza richten. Wir sehen teilweise schon jetzt, zu Beginn der Bodenoffensive, die fürchterlichen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in Gaza. Wie wird sich das auf die Bevölkerung in Gaza auswirken? TS: Die großen Verlierer in diesem Krieg sind die Zivilist:innen im Gazastreifen. Für sie geht gerade die Welt unter. Sie sind in einem riesigen Gefängnis. Keiner hilft ihnen. Keiner wird sie da rausholen. Sie sind gefangen zwischen allen Fronten und haben keine Möglichkeit sich zu verteidigen. Das muss man auch ganz deutlich sagen: Sie sind die Opfer des Krieges im Gazastreifen. Für sie ist der Krieg eine humanitäre Katastrophe. Die Palästinenser:innen ringen um ihr Überleben gegen die Hamas und gegen die israelischen Streitkräfte ohne Unterstützung von irgendjemandem. Da kann Erdogan in der Türkei noch so großartige Reden halten oder as-Sisi in Ägypten. Keiner kümmert sich um die Palästinenser:innen. Sie sind traurigerweise Kanonenfutter und werden von der einen Seite als Schutzschild benutzt und von der anderen Seite als Kollateralschaden definiert. Hinweise Die Franziskaner im Heiligen Land sind in dieser schwierigen Zeit auf finanzielle Unterstützung angewiesen, damit sie ihre sozialen Projekte und ihre Sorge um die Christinnen und Christen im Heiligen Land weiterhin aufrechterhalten können. Für Ihre Unterstützung sind sie sehr dankbar. Sie können dies tun unter folgender Bankverbindung: Custody of the Holy Land, IBAN: DE80370601930058036013 BIC: GENODED1PAX, Bank: Pax-Bank eG Mehr Infos ▶▶ www.custodia.org/en Das vollständige Interview mit Till Magnus Steiner findet sich unter ▶▶ www.franziskaner.net Bestattung von Toten nach dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober 2023. Neben dem Verlust von Menschen und dem Bangen um die Geiseln wirkt die Einbuße des Gefühls von Schutz und Sicherheit im eigenen Land traumatisierend.
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