Franziskaner - Winter 2023

35 FRANZISKANER 4|2023 TM: Der US-amerikanische Präsident Biden fordert von der israelischen Regierung immer eindringlicher eine Antwort auf die Frage nach den langfristigen Zielen des Gaza-Krieges und spricht sich wie auch die EU und andere für ernsthafte Verhandlungen mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung aus. Aber ist das aus israelischer Sicht überhaupt noch eine Option und wenn nicht was dann? TS: Die Zweistaatenlösung, die von den USA und der EU angemahnt wird, ist aus meiner Sicht leider schon länger politisch tot. Denn für eine Zweistaatenlösung bräuchte es einen zweiten Staat. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist ein fragiles Gebilde, dem die Palästinenser:innen selbst nicht mehr vertrauen. Aus meiner Sicht wäre derzeit ein palästinensischer Staat ohne die Hilfe eines anderen Staates nicht lebensfähig. Sie bräuchten aus meiner Sicht dann Israel oder einen Staat X, der hilft, staatliche Strukturen aufzubauen. Das heißt aber am Anfang auch, dass die Palästinenser:innen ihre Autonomie für eine Zeit lang aufgeben müssten. Aus eigener Kraft können die Palästineser:innen den Neuanfang nicht schaffen, da die Strukturen durch die Besatzung und durch die palästinensischen Führungseliten selbst runtergewirtschaftet sind. Daher denke ich, dass das Reden von einer Zweistaatenlösung eine schöne diplomatische Floskel ist, um darauf hinzuweisen, dass Gerechtigkeit geschaffen werden muss. Den Weg dahin, den kennt keiner, und den will auch keiner kennen, weil alle Lösungen unglaubliche Probleme mit sich bringen. Die traurige Realität ist, dass eine Zweistaatenlösung weit entfernt ist und es keine andere irgendwie hoffnungsvolle Perspektive für das palästinensische Volk zu geben scheint. Es braucht ein Wunder im Nahen Osten. JR: Ich würde gerne noch einen anderen Aspekt ansprechen: Die Christ:innen sind zwar in Palästina und Israel eine Minderheit, sind aber in gewissen Bereichen des Landes, gerade im sozialen Sektor, ein nicht unbedeutender Faktor. Welche Rolle können sie in dieser Situation spielen? TS: Die Christinnen und Christen in Israel und in den palästinensischen Gebieten sind eine sehr kleine Minderheit, die in diesem Nahostkonflikt zwischen beiden Stühlen sitzt. So gesehen müssen sie sehr gut aufpassen, dass sie nicht zerrieben werden in diesem Konflikt. Die christlichen Gemeinden werden keine Vermittlungsposition zwischen den Kriegsparteien einnehmen können. Aber die Christ:innen haben die Chance zu sagen, dass sie als Teil beider Gesellschaften trotz allem aufgrund ihrer religiösen Überzeugung daran glauben, dass Frieden möglich ist. Ich glaube, was Christinnen und Christen am besten machen können in diesem Kontext, ist unablässig öffentlich für Frieden zu beten, ohne auf das Tagesgeschäft des Krieges einzugehen. JR: Und welche Möglichkeiten gibt es für Christ:innen und Kirchen in Deutschland in dieser Lage hilfreich zu sein? TS: Ich glaube, für viele Pilgergruppen und Gemeinden, die das Heilige Land sehr gut kennen, sind das sehr schwierige Tage. Ich weiß von vielen Leuten, dass sie täglich am Liveticker sitzen, alles lesen und verzweifelt sind. Sie erleben diesen Krieg aus der Ferne mit. Und man ist natürlich angesichts dieser Bilder nicht nur vom 7. Oktober, sondern auch von den aktuellen Bildern aus Gaza einfach hilflos und möchte etwas machen. Und ich glaube, was man zuallererst machen kann – und das ist nicht wenig –, ist einfach im Gebet öffentlich für Frieden einzutreten und dabei aufzupassen, dass es nicht politisch wird. Dass man Sicherheit für die Menschen erbittet. Das ist ein wichtiges Zeichen, glaube ich, denn in dem ganzen Hass, der jetzt auch auf deutschen Straßen zutage tritt, braucht es Menschen, die ihre Stimme für den Frieden einsetzen. Viele Menschen im Gazastreifen beten auch um Frieden. Viele Israelis beten für einen sicheren Frieden. Und sich diesem Gebet anzuschließen, ist ein bedeutsames Symbol. Die christlich geprägten Hilfsorganisationen sind derzeit zudem auf jeden Cent angewiesen, um weiterhin sagen zu können: Wir stellen uns gegen diesen Konflikt, wir helfen den leidenden Menschen und hoffen auf eine friedliche Zukunft. Daher kann man auch durch Spenden helfen; zum Beispiel an die Franziskaner im Heiligen Land, die mit ihrer Arbeit in Kinderheimen und anderen Sozialeinrichtungen in der Westbank, in Gaza und auch in Israel Menschen helfen, die vom Krieg betroffen sind. Neben der Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln ist auch medizinische Hilfe im Gazastreifen nicht mehr gewährleistet Interview: Thomas Meinhardt, Johannes Roth OFM Bearbeitung: Thomas und Anna Lea Meinhardt © PICTURE ALLIANCE / ANADOLU

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