42 FRANZISKANER 4|2023 Wie passt es zusammen, als Naturwissenschaftler und Physiker nicht nur an Gott zu glauben, sondern auch noch Franziskaner und Priester zu werden, ohne sich dabei um 180 Grad zu drehen? Natanael Ganter OFM Tiem wollte schon immer hinter das Offensichtliche blicken: Er erinnert sich noch, wie er im Alter von sechs Jahren am Rand der Reisfelder in Laos stand, in den Nachthimmel schaute und den Mond bestaunte – und sich fragte, was wohl dahinter liegt. Es war das Jahr 1973, seine Eltern lebten als vietnamesische Kriegsflüchtlinge in Laos. Hier war Tiem 1967 zur Welt gekommen. Ihre Migration führte die Familie Tran letztendlich weiter nach Frankreich. Tiem wuchs in Metz auf, im Dreiländereck Deutschland-Luxemburg-Frankreich. Er hat sich dort schnell zurechtgefunden, die französische Sprache erlernt und die Schule besucht. Sein Lieblingsfach war Mathematik. Formeln und Gleichungen fielen ihm leicht, denn sie stellten logische Zusammenhänge dar. Im Alter von 15 Jahren begann Tiem sich verstärkt für Naturwissenschaft zu interessieren. Er wollte alles wissen, vom Größten bis zum Kleinsten. Wie alt ist das Universum und was passiert im Inneren eines Atomkerns? Nach dem Abitur schrieb er sich an der Universität seiner Heimatstadt Metz zum Physikstudium ein. Dort lernte er die Kräfte zu berechnen, die den Kosmos beherrschen: Die Kernkraft auf unendlich kleiner Ebene und die Gravitationskraft auf unendlich großer. Die Gleichungen der Mathematik waren dabei ein machtvolles Werkzeug, um das Universum zu erklären. Tiem verstand, wie man einer Gleichung neue, imaginäre, Dimensionen hinzufügt, um Probleme zu lösen, die man in unseren herkömmlichen vier Dimensionen von Raum und Zeit nicht lösen kann. Einfach mal in neuen Dimensionen denken Zahlen und Größenverhältnisse faszinieren ihn bis heute. »Wir leben in einer erfahrbaren Welt mit drei Stellen vor oder hinter dem Komma«, erklärt Tiem. »Damit können wir 100,0 Kilometer oder 0,001 Zentimeter darstellen. Das sind Größenordnungen, die wir Menschen begreifen können. Aber in der Wissenschaft arbeiten wir mit 20 (!) Stellen vor oder nach dem Komma. Die Dimensionen werden unvorstellbar. Es ist der Maßstab der Unendlichkeit des Kosmos.« Für Religion hat sich Tiem als junger Mensch nie so recht interessiert. Seine Mutter war zwar praktizierende Christin, und sonntags zur Kirche zu gehen gehört für die Familie dazu, doch der Glaube seiner Mutter färbte nicht auf ihn ab. Tiem war im sechsten Semester seines Physikstudiums, als er in der Kathedrale in Metz saß und über die Unendlichkeit nachdachte, die ihn nicht nur wissenschaftlich, sondern irgendwie auch persönlich berührte. Und plötzlich begann er zu ahnen, dass er die Fragen, die er an das Universum hatte, in sich selbst entdecken konnte. Etwas hatte sich für ihn geöffnet. Er begann in einer neuen Dimension zu denken und entdeckte die Unendlichkeit in sich selbst. Er spürte eine unermessliche Tiefe! Tiem befasste sich mit diesem neuen Gefühl, indem er Bücher über Mystik las, von Theresa von Avila oder von Johannes vom Kreuz. Dabei entdeckte er auch den Sonnengesang des heiligen Franziskus. In diesem Text aus dem 12. Jahrhundert erkennt der Gründer des Franziskanerordens Gottes Schöpfung in allem: Von Franziskanische Lebensgeschichten Wie sie wurden, was sie sind … Die Reihe zu franziskanischen Berufungs- und Lebensgeschichten ist als Audio-Podcasts verfügbar. Auf vielen bekannten Podcast-Plattformen wie Spotify oder iTunes und auf ▶▶ www.franziskaner.de sind die fünf bis neun Minuten dauernden Audio-Tracks erhältlich. Wir freuen uns über Likes und Kommentare! Fasziniert von der Unendlichkeit Die Geschichte von Dr. Tiem Tran OFM
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