Franziskaner - Frühling 2024

Frühling 2024 Weitere Themen: Synodaler Weg am Ende? Interview mit Martina Kreidler-Kos +++ Heute franziskanisch leben +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de Wie kommen wir diesem Ideal näher? Friede auf Erden

4 Nachrichten und Anregungen 6 Friede auf Erden • Wie kommen wir diesem Ideal näher? • Frieden mit und ohne Waffen • Die Chancen für eine neue globale Friedensordnung • Von der Torheit des Evangeliums • Zur Praxis katholischer Friedensarbeit 22 Projekt Hoffnungsschimmer 23 Geistlicher Wegbegleiter 27 Botschaft des Papstes 28 Franziskanische Geschichte Eine aktive sozialkritische Bewegung 31 Studie zu Missbrauch Aufruf an Betroffene 32 Heute franziskanisch leben Franziskuskreis in Attendorn 34 Franciscans International Franziskanische Stimme für die Rechte aller Menschen 37 Synodaler Weg: Das römische Veto Interview mit Martina Kreidler-Kos 40 Franziskaner sein Damian Bieger OFM 42 In memoriam 44 Kursprogramm 45 Bruder Rangel kocht 46 Kommentar 47 Impressum Germanicus auf Reisen Inhalt Der »Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBA DE 5W bei der Wiesbadener Volksbank Liebe Leserin, lieber Leser, wir möchten unsere Zeitschrift weiterentwickeln und würden gerne von Ihnen wissen: Was ist gut, was kann besser werden, wo müssen wir ganz anders ansetzen? Wir haben zur Beantwortung eine Online-Umfrage vorbereitet, die Sie anonym ausfüllen können. Sie wird etwa 5 Minuten dauern. Unter denen, die nach der Beantwortung der Fragen an einer Verlosung teilnehmen möchten, verlosen wir einige kleine Dankeschön-Preise. Gerne senden wir jenen, die unsere Fragen lieber auf Papier beantworten möchten, einen Ausdruck zu. Vielen Dank für Ihre Unterstützung! ▶ Ausdruck der Umfrage auf Papier anfordern: Meinhardt Verlag und Agentur, Tel.: 0 61 26 9 25 64 oder per E-Mail: umfrage@franziskaner.de ▶ Online-Umfrage: umfrage.franziskaner.de

3 FRANZISKANER 1|2024 © MARCEL SOPPA »Jetzt schlägt’s Frieden!« Der Kölner Stadtteil Chorweiler zeichnet sich durch seine große kulturelle Vielfalt aus. Menschen aus über 100 verschiedenen Nationen leben dort. Dank des beherzten Engagements der lokalen Kirchengemeinden sowie zahlreicher Vereine, Einrichtungen und Initiativen funktioniert das Miteinander in der urbanen Hochhaussiedlung erstaunlich gut. Im Jahr 2014 organisierte die Katholische Kirchengemeinde Johannes XXIII. anlässlich der Heiligsprechung ihres Pfarrpatrons zusammen mit anderen Religionsgemeinschaften und Vereinen ein interkulturelles und interreligiöses Friedensfest. Höhepunkt des Festes war das Gießen einer Friedensglocke mitten auf dem Pariser Platz, dem zentralen Ort des Stadtteils. Viele Menschen hatten Erde aus ihrer Heimat herbeigeschafft; in diese Erde hinein wurde die Glocke gegossen. Die Friedensglocke ist geschmückt mit fünf Handabdrücken von Chorweiler Kindern aus fünf Kontinenten. – Lässt sich die Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker und Kulturen schöner zum Ausdruck bringen? Seit Sommer 2014 kommt die mobile Friedensglocke nicht nur in Chorweiler bei regelmäßigen Friedensgebeten zum Einsatz, sie kann auch für Gottesdienste und Friedensveranstaltungen ausgeliehen werden. Die Chorweiler Friedensglocke ist so zu einer regional bekannten Botschafterin und Anwältin des Friedens geworden. Im Jahr 2018 durfte ich einmal in einem ökumenischen Gottesdienst in der Johanneskirche in Köln die Predigt halten – die Friedensglocke war mit dabei. Das Leitwort des Gottesdienstes lautete: »Jetzt schlägt’s Frieden!« Die Beiträge in der vorliegenden Ausgabe von FRANZISKANER spüren dem großen und ewig aktuellen Thema Frieden nach. In Zeiten zahlloser Kriege und kriegerischer Auseinandersetzungen wünsche ich uns allen, dass es an möglichst vielen Kriegsschauplätzen endlich heißt: »Jetzt schlägt’s Frieden!« Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister)

4 FRANZISKANER 1|2024 Franziskanerkonvent in Füssen Das Kloster in Füssen zählt wegen des herrlichen Alpenpanoramas und der umliegenden Berge und Seen, Kirchen und Schlösser zu den schönsten Klöstern der Deutschen Franziskanerprovinz. Die ersten Franziskaner kamen aus Reutte in Tirol und errichteten 1628 auf Wunsch der Füssener Bürgerschaft das Kloster. 1836 wurde der Konvent in die bayerische Franziskanerprovinz aufgenommen. Heute ist der Konvent wegen seiner baulichen Beschaffenheit ein bevorzugter Lebensort für ältere Mitbrüder, die dort als Senioren ihren Lebensabend verbringen. In Füssen wohnen derzeit fünf Franziskaner. Sie arbeiten in der Pfarreiengemeinschaft und im Dekanat mit. Außerdem hat die Kur- und Touristenseelsorge ihren Standort im Kloster. Franziskanerkloster | Franziskanerplatz 1 | 87629 Füssen E-Mail: fuessen@franziskaner.de | Tel.: 0 83 62 91 53-0 © NATANAEL GANTER Unterwegs wie Franziskus vom La Verna nach Assisi Pilgerwanderung vom 18. bis zum 27. Juli 2024 Mit dem Nachtzug geht es von München nach Italien. Vom La Verna wandern wir als Selbstversorger auf dem Franziskusweg bis nach Assisi. Unterwegs gibt es franziskanische Impulse, Bibel-Teilen und das Angebot zum täglichen Gottesdienst. Das Gepäck muss jeder selbst tragen. Die Übernachtungen werden in einfachen Sammelunterkünften sein. Preis: ca. 670 €, Leitung: Br. Johannes Küpper OFM, Br. Florian Reith OFM, Uta Büchner Johannes Küpper OFM | Wollankstr. 19 | 13187 Berlin | E-Mail: haltestille@franziskaner.de | Tel.: 0 30 48 83 96-0 Franziskanische Orte entdecken

5 FRANZISKANER 1|2024 Kursübersicht auf Seite 44 Eines unserer Angebote Josef Schulte OFM Lasst uns gehen in Frieden Eine Auswahl der Predigten von Pater Josef Schulte. Der Franziskaner zeigte Wege auf, die Widersprüchlichkeiten und Schwierigkeiten unserer Zeit anzunehmen und ihnen mutig und aufrichtig zu begegnen. PalmArtPress, Dezember 2023, 20 €, ISBN 978-3-96258-159-6 Helmut Schlegel OFM Trösten Heilen Segnen Der erfahrene Seelsorger und geistliche Begleiter präsentiert sprachlich zeitgemäße, meditative Impulstexte für Gemeinde, Gebet und Gottesdienst: in der Praxis bewährt und durch ein Register erschlossen. Schwabenverlag, Februar 2024, 22 €, ISBN 978-3-7966-1856-7 Jan Frerichs Wilde Kirche Wie wir uns unsere spirituelle Heimat zurückholen Der Gründer und Leiter der Franziskanischen Lebensschule erinnert daran, dass eine innige Beziehung zur Natur mit allen ihren Geschöpfen Zugänge zum Glauben bietet. Patmos Verlag, März 2024, 20 €, ISBN 978-3-8436-1511-2 © STOCK.ADOBE.DE Pilgerreise nach Malta vom 7. bis 14. Juli 2024 Auf den Spuren des Apostels Paulus Aufgrund der politischen Lage in Israel finden derzeit keine Heilig Land-Reisen statt. Das Kommissariat des Heiligen Landes bietet stattdessen eine Reise auf den Spuren des Apostels Paulus auf Malta an, die von Wien aus organisiert wird und dort startet und endet. Preis: 1.900 €, Anmeldeschluss: 5. April 2024 Kommissariat des Heiligen Landes | Franziskanerplatz 4 | 41010 Wien Tel.: +43 1 51 2 19 17 | E-Mail: heiligland@pilgerreise.at ▶▶ www.pilgerreise.at Franziskanischen Familie auf dem Katholikentag in Erfurt Die Franziskanische Familie ist auf dem Katholikentag in Erfurt (29. Mai bis 2. Juni 2024) mit einem Stand auf der Kirchenmeile präsent. Zudem mit acht Workshops, die in unterschiedlicher Weise das Thema »Frieden« aufnehmen – von Handpuppen über Geocaching und Barfusspfad bis zu Meditativem Tanzen und Gewaltfreier Konfliktbewältigung. Beteiligt sind viele Schwestern, Brüder und Mitglieder der Laienbewegungen Vivere und OFS. Am Donnerstag, 30. Mai, feiert die Franziskanische Familie um 12.30 Uhr einen Gottesdienst in der Barfüßerkirche. Am Freitagabend, 1. Juni, gibt es am selben Ort ab 19.00 Uhr ein Konzert mit dem rappenden Franziskaner Bruder Sandesh Manuel. Schau(en Sie) vorbei! ▶▶ www.franziskanisch.net (▶ clara.francesco)

6 FRANZISKANER 1|2024 Friede auf Erden Wie kommen wir diesem Ideal näher? Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiere eine Zeitenwende, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag und begründete damit das 100 Milliarden Euro umfassende »Sondervermögen« zur Aufrüstung der Bundeswehr. Eine Zeitenwende erlebten Deutschland und Europa tatsächlich, die Welt und ihre Wahrnehmung haben sich fundamental verändert – der Angriffskrieg Russlands markiert dabei aber nur einen Wendepunkt, wenn auch einen entscheidenden, denn er weckte die Angst vor einem großen, vielleicht atomaren Krieg. Aber auch viele andere Ereignisse haben massive Erschütterungen verursacht: die Erfahrungen der Hilflosigkeit und Einsamkeit in der Corona-Pandemie, die für alle deutlich spürbare Klimaerhitzung, die Gefährdung der liberalen Demokratie durch das starke Anwachsen rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien überall auf der Welt – auch in der EU und besonders in den USA –, die Furcht vor sozialem Abstieg und einer weiteren Zunahme der Zahl von Geflüchteten, die die Kommunen oft an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen, sowie lange nicht mehr gekannte Inflationsraten. All dies erzeugt tiefgreifende Verunsicherung und bei vielen Menschen Zukunftsängste. Nicht wenige suchen nach einfachen Antworten und nach Schuldigen. Sie meinen, indem sie den Klimawandel und die Pandemie leugnen, sich nicht mehr um die Menschen in der Ukraine kümmern und Mauern gegen Geflüchtete bauen, würde alles wieder so werden, wie in der vermeintlich glücklichen Vergangenheit.

7 FRANZISKANER 1|2024 Thomas Meinhardt Die zuvor skizzierte Zeitenwende erleben wir vor allem in Europa. Die Menschen in Afrika, Lateinamerika und Südasien müssen schon sehr lange mit multiplen Krisen irgendwie leben, und zwar unter ungleich schwierigeren Bedingungen. Die Rückkehr des Hungers, die oft katastrophale Gesundheitsversorgung, die fehlende Rechtssicherheit im Alltag und vor allem eine fundamentale Aussichtslosigkeit prägen ihren Alltag. Die Klimaerhitzung und die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine verschärfen ihre Lage weiter. Der russische Angriffskrieg und die zunehmende Konfrontation zwischen China und den USA haben zudem noch weitere zentrale Auswirkungen auf die ganze Welt: Eine große weltweite Aufrüstungswelle entzieht nicht nur dringend benötigte Ressourcen, die zunehmende Konfrontation zwischen der Achse China/ Russland und dem »Westen« beeinträchtigt stark die Möglichkeiten internationaler Kooperation bei der Bewältigung der Menschheitskrisen – und das mit unabsehbaren Folgen! Denn: Ohne starke gemeinsame Anstrengungen sind die Großkrisen »Klimaerhitzung«, »Hunger«, »Artensterben« … nicht einzudämmen, geschweige denn zu bewältigen. Ein Schweigen der Waffen und ein gerechter Frieden für die Ukraine durch Diplomatie und Verhandlungen sind essenziell für die Menschen auf dem gesamten Globus. Doch für Frieden einzutreten, ist in Deutschland derzeit nicht ganz einfach. Wer das einseitige Setzen auf Aufrüstung, Abschreckung und Waffenlieferungen problematisiert, wird öffentlich schnell als

8 FRANZISKANER 1|2024 Putin-Freund geschmäht, der die Ukrainerinnen und Ukrainer der brutalen Willkürherrschaft der russischen Militärmaschinerie opfern wolle. Andererseits werden diejenigen, die vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf militärische Abschreckung setzen und mehr Waffenlieferungen zur Verteidigung an die Ukraine fordern, von anderen als Kriegstreiber bezeichnet, die einen Atomkrieg in Europa herausfordern. Erst einmal einander zuzuhören, abzuwägen, die Argumente daraufhin abzuklopfen, was vielleicht weiterführt, auch wenn nicht alles geteilt wird, das ist in der sehr aufgeheizten aktuellen Situation offensichtlich nur schwer möglich. Das musste aktuell auch Papst Franziskus erfahren, als er – wie schon mehrmals zuvor – in einem Interview zu Verhandlungen aufrief, um das schreckliche Leiden der ukrainischen Bevölkerung in diesem grauenvollen Krieg zu beenden. Seine Wortwahl, in der er die ukrainische Regierung zum Hissen der »weißen Fahne« ermutigte, klang für viele nach einer Aufforderung zur Kapitulation. Diese Wortwahl war unglücklich, denn Papst Franziskus ging es, wie er weiter ausführte, nicht um Kapitulation, sondern um einen Waffenstillstand und um Verhandlungen unter der Leitung von Staaten, die sich als internationale Vermittler anbieten. Er wendete sich damit an die Seite, die er für überhaupt ansprechbar hielt und deren Bevölkerung unter diesem Krieg am meisten zu leiden hat. Seine Grundeinschätzung, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann, wird auch von der großen Mehrheit der militärisch verantwortlichen Generäle im Westen geteilt. Doch seine Bitte, in dieser Lage alles zu tun, um weiteres schreckliches und sinnloses Blutvergießen zu stoppen, brachte ihm viele diffamierende und wütende Kommentare aus Politik und Presse besonders in Deutschland ein, ohne dass sich viele überhaupt die Mühe machten, erst einmal nachzuvollziehen, was Papst Franziskus insgesamt gesagt hatte und was er beabsichtigte. Mit den Beiträgen dieser Titelstrecke möchten wir dazu ermutigen, einen Schritt zurückzutreten, zuzuhören, abzuwägen und keine vorschnellen Urteile zu fällen. Wir wollen Anstöße geben, nach Wegen zu suchen, einen gerechten Frieden zu fördern, denn »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts«. Dies gilt nicht nur für die Kriege in der Ukraine oder in Gaza, die im Fokus der europäischen Öffentlichkeit stehen. Es gilt genauso für die mehr als 50 derzeit weltweit stattfindenden zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Kriege, die in einigen Fällen entsetzlich große Opferzahlen – Tote, Verstümmelte, vergewaltigte Frauen – aufweisen. Doch diese Kriege im Osten der DR Kongo, in Äthiopien, dem Sudan, im Jemen, in Myanmar oder in Syrien – um nur einige zu nennen – spielen in der sogenannten westlichen Welt kaum eine Rolle. Ihre fürchterlichen Auswirkungen durch die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, den Zerfall staatlicher Strukturen, den Zusammenbruch jeglicher Sicherheit für die Zivilbevölkerung, das ständige Ausgeliefertsein an die Gewalt krimineller Banden und Warlords, für die Kriegsführung ein Geschäftsmodell ist, kümmert uns im Westen nicht wirklich. Solange dies so ist, können wir kaum die Solidarität des globalen Südens beispielsweise bei Sanktionen gegenüber dem russischen Aggressor erwarten. Die Staaten und auch die Menschen in Afrika, Lateinamerika und Südasien erwarten, dass die westlichen Industriestaaten ihnen endlich auf Augenhöhe begegnen, dass sie als gleichberechtigte Partner anerkannt und ihre Interessen berücksichtigt werden. Eine neue, gerechtere, stabilere und Sicherheit garantierende globale Friedensordnung wird nur dann eine Chance haben, wenn die Interessen der Menschheit insgesamt berücksichtigt werden. Oder, um es mit Papst Franziskus zu sagen, wenn wir uns weltweit als Brüder und Schwestern begreifen, die gemeinsam für das Leben auf dieser Erde verantwortlich sind. Das Schweigen der Waffen ist eine wichtige Voraussetzung, doch Frieden ist noch viel mehr. Frieden ist ein immerwährender Prozess, der die Zunahme sozialer Gerechtigkeit unbedingt einschließt sowie die Schaffung einer Kultur des Friedens zwischen Menschen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften. Frieden umfasst verschiedene Ebenen: eine internationale Friedensordnung mit klaren völkerrechtlich verpflichtenden Regeln, das Leben in Frieden und Sicherheit innerhalb eines Landes garantiert durch Rechtssicherheit und den Frieden in unserem Herzen und die Bereitschaft, in der Familie, mit unseren Nachbarn in Frieden zu leben. Auch der Frieden mit der ausgebeuteten, gering geachteten »Natur« gehört dazu. Alle diese Ebenen beeinflussen sich gegenseitig und eröffnen jeder und jedem, sich auf den für ihn und sie jeweils möglichen Wegen für Frieden einzusetzen – für Christinnen und Christen eine der vornehmsten Aufgaben in der Nachfolge Jesu Christi. Mit den nachfolgenden Beiträgen möchten wir hierzu einige Anstöße geben und Perspektiven eröffnen, die hoffentlich auch etwas Mut machen und Zuversicht vermitteln.

9 FRANZISKANER 1|2024 Frieden mit und ohne Waffen Christliche Haltungen zu Krieg und Frieden Stefan Federbusch OFM Wir wähnten uns in Deutschland eher im Frieden, obwohl es 2022 weltweit 26 Kriege gab. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich die Situation auch emotional verändert. Das Grundgefühl der Unsicherheit ist stärker geworden. Zudem ist der Ukraine-Krieg eine große Herausforderung an alle Friedensbewegten, denn er zeigt ein Dilemma auf. Die einen argumentieren für Waffenlieferungen, indem sie das Selbstverteidigungsrecht souveräner Staaten betonen und die ethische Verpflichtung, Menschenleben gegen Aggressoren zu verteidigen. Die anderen argumentieren gegen Waffenlieferungen, da diese den Krieg nur verlängern, das Leid der Bevölkerung vergrößern und noch mehr Menschenleben kosten. Sie sehen ebenfalls die ethische Verpflichtung, Menschenleben zu bewahren, nur halten sie dazu die Gewaltfreiheit und einen gewaltfreien Widerstand für das gebotene Mittel. Im Fall des Ukraine-Krieges kommt hinzu, dass das klassische Schema von Sieger und Besiegten nicht funktioniert. Russland als Atommacht kann letztlich nicht besiegt werden, wird vermutlich aber das für seine Selbstbestimmung und seine Freiheit kämpfende ukrainische Volk auch nicht besiegen können. Die Ukraine kann den Krieg also nicht gewinnen, aber auch nicht verlieren. Welche Optionen bleiben? Biblisch gesehen finden wir die Vision des Propheten Jesaja, »Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden« (vgl. Jesaja 2,2–4 bzw. Micha 4,3). Die Sowjetunion schenkte der UNO 1959 eine Bronzeskulptur eines Mannes, der ein Schwert zu einem Pflug umschmiedet. Sie trägt den Titel »WE SHALL BEAT OUR SWORDS INTO PLOWSHARES«. Es ist ein Selbstauftrag der in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Völker, ihre Waffen in zivile Produkte zu konvertieren. Heute ist die politische Praxis eher, Frieden durch militärische Abschreckung oder auch durch den Einsatz von Waffen zu schaffen. Auch die jesuanische Botschaft der Bergpredigt gilt vielen als naiv und lebensfremd. Nicht nur Bismarck war der Auffassung, dass sich mit der Bergpredigt keine Politik machen lässt. Jesuanische und konstantinische Friedensethik In den Kirchen spiegelt sich die Auseinandersetzung in der Frage um einen »gerechten Krieg« bzw. »gerechten Frieden« wider. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte sich 2007 für einen konsequenten »Weg der Gewaltfreiheit« ausgesprochen, also darauf, Jesus mit »aktivem Gewaltverzicht« zu folgen. Jesus selbst hat angesichts des römischen Gewaltfriedens (Pax Romana) zu einer Entfeindungsliebe aufgerufen, die Gewalt nicht mit Gewalt beantwortet (vgl. Matthäus 5,38f.), sondern mit überraschenden, unerwarteten, kreativen Reaktionen. Die Christen und Kirchenväter der ersten Jahrhunderte lehnten daher eine Beteiligung am Militärdienst ab. Der bekannteste Kriegsdienstverweigerer ist der heilige Martin von Tours (317–397), der erklärt: »Ich bin Soldat Christi; es ist mir nicht erlaubt zu kämpfen.« Die Gewaltfreiheit hatte für die ersten Christen eine theologische Begründung, denn für sie ist Kirche der Ort, wo sich in Christus, dem Messias die prophetische Friedenshoffnung erfüllt. Es ging also nicht um eine individualethische Gesinnung, sondern darum, als Gemeinschaft der Glaubenden im konkreten – oft gewalthaften – Hier und Jetzt Kirche des Friedens zu sein. Mit der Konstantinischen Wende, als das Christentum Staatsreligion wurde, entwickelte der Kirchenvater Augustinus die Lehre vom gerechten Krieg. Er band eine legitime Kriegsführung an Kriterien: Der Krieg muss in rechter Absicht geschehen; erlaubt ist er nur als letztes Mittel; die Mittel müssen verhältnismäßig sein, und es muss eine begründete Hoffnung auf Erfolg bestehen. Für die Diskussion heute lässt sich folgende Unterscheidung treffen: Die Konzeption des gerechten Krieges schaut vom Krieg auf den Frieden nach dem Motto: Si vis pacem, para bellum – wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Dagegen betrachtet die ethische Konzeption des gerechten Friedens vom Frieden her den Krieg nach dem Motto: Si vis pacem, para pacem – wenn du Frieden willst, GRAFIKEN © ADOBE FIREFLY – KI GENERATED

10 FRANZISKANER 1|2024 bereite den Frieden vor. Geprägt vom Vorrang für Gewaltfreiheit sollen zivile Mittel der Konfliktbearbeitung und der Prävention gestärkt werden. Die sich heute ergebenden Positionierungen lassen sich als jesuanische Friedensethik und als konstantinische Friedensethik fassen. Auffällig dabei ist, dass die Kirchen in einer Minderheitenposition eher die Erstere, als Staatskirche eher Letztere vertraten – es also sehr an ihrer Position im Staat und ihrem Verhältnis zum Staat liegt, welcher Position sie den Vorrang geben. Einen konsequenten Pazifismus haben nur die Friedenskirchen der Quäker und der Mennoniten durchgehalten. Auch die Kirchen in der DDR haben im »Konziliaren Prozess« eine »vorrangige Option für Gewaltfreiheit« formuliert. Im Gegensatz zur EKD, die 1989 Wehrdienst und Zivildienst gleichermaßen als Friedensdienst einstufte, vertraten die Kirchen in der DDR seit 1965 die Auffassung, dass die Wehrdienstverweigerung ein »deutlicheres Zeichen des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn« sei. Die Kirchen und ein ethisches Dilemma Im Jahr 2006 wurde eine Studie vorgestellt, in der 323 große Konflikte in den Jahren zwischen 1900 und 2006 analysiert wurden. Das interessante Ergebnis besagt, dass gewaltfreier Widerstand doppelt so häufig zum Erfolg geführt hat wie gewaltsamer Widerstand. Die Praxis aktiver Gewaltfreiheit ist somit nicht nur ethisch, sondern auch empirisch gut zu begründen. Daher vertreten beispielsweise der Internationale Versöhnungsbund und das Ökumenische Institut für Friedenstheologie einen konsequenten Pazifismus. Dies gilt ebenso für Church and Peace als europäisches ökumenisches Netzwerk von Friedenskirchen, christlichen Gemeinschaften, Kirchengemeinden, Ausbildungsstätten, Friedensorganisationen und Friedensdiensten. Ein breiteres Spektrum von Meinungen finden wir derzeit bei pax christi, wo Mitglieder sowohl für wie gegen Waffenlieferungen eintreten. Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) unterstützt Waffenlieferungen an die Ukraine. Ihr Vorsitzender Georg Bätzing wies zum Auftakt der DBK-Frühjahrsversammlung im Februar 2023 in Dresden zugleich auf das ethische Dilemma hin, in dem sich die katholische Kirche befinde. Waffenlieferungen schafften keinen Frieden, der ließe sich nur durch Dialog erreichen. Das Dilemma, den Frieden zu suchen und zugleich Waffenlieferungen zu befürworten, lasse sich nicht auflösen. In der Erklärung der DBK heißt es: »In ihrer Lehre und in ihrem Handeln ist die Kirche der Gewaltlosigkeit Jesu verpflichtet. Auch in der Stunde der Bedrängnis muss sie deshalb der Versuchung einer schrankenlosen Gewaltanwendung entschlossen widersprechen. Gewalt und Gegengewalt, auch wenn sie legitim ist, treiben eine Spirale der Gewalt an, die diese regelmäßig außer Kontrolle geraten lässt. […] Es ist denjenigen, die die Entscheidung zu treffen haben, aber aufgetragen, präzise zu bedenken, was sie damit aus- und möglicherweise auch anrichten. Dies gilt gleichermaßen für die Befürworter wie für die Gegner von Waffenlieferungen.« Im neuen Friedenswort der deutschen Bischöfe »Friede diesem Haus« vom 21. Februar 2024 bestätigen sie ihre Position: »Als wir uns am 10. März 2022 mit unSchwarze Kreuze für verstorbene Kinder im Ukraine-Krieg werden während einer Demo am Heumarkt in Köln aufgestellt. Nach Angaben der ukrainischen Behörden sind seit Kriegsausbruch 358 ukrainische Kinder durch Bomben ums Leben gekommen. © CHRISTOPH HARDT – PICTURE.ALLIANCE.COM

11 FRANZISKANER 1|2024 serer Erklärung ›Der Aggression widerstehen, den Frieden gewinnen, die Opfer unterstützen‹ u.a. hinter die Entscheidung der Bundesregierung gestellt haben, Waffen an die Ukraine zu liefern, wurde uns vorgeworfen, das Evangelium Jesu Christi zu verraten oder es offenbar vergessen zu haben. In solchen Fragen gibt es nie und für niemanden eine letzte Gewissheit, und darum begrüßen wir Kritik, die Teil eines streitigen gesellschaftlichen Nachdenkens ist. Nach wie vor sind wir jedoch davon überzeugt, mit unserer Haltung sowohl dem Evangelium wie der Lehre der Kirche treu geblieben zu sein.« Auch die damals amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, betonte das Dilemma der kirchlichen Position. »Wie immer wir uns positionieren: Wir können in dieser Situation keine weiße Weste behalten.« Sie halte es für zynisch zu sagen, Gebete und Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine müssten ausreichen. »Ich kann nachvollziehen, dass die Ukraine in ihrer Selbstverteidigung unterstützt wird. Das ist ein echtes Dilemma.« Aber dem dürften die Kirchen nicht ausweichen, indem sie schwiegen und sich aus der Verantwortung zögen. Die evangelische Friedensethik müsse vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs »einer kritischen Prüfung« unterzogen und neu diskutiert werden. Aktive Gewaltfreiheit als christlicher Lebensstil Papst Franziskus spricht immer wieder von der Würde und Heiligkeit des Menschen, von universaler Geschwisterlichkeit, von Barmherzigkeit und Zärtlichkeit. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2017 forderte er dazu auf, »die aktive Gewaltfreiheit zu unserem Lebensstil« zu machen. Für ihn gehören »Versöhnung, Gewaltfreiheit und aktives Friedensstiften zur Mitte des Evangeliums«. Frieden bedeutet nicht nur ein Schweigen der Waffen, sondern eine ökonomische und soziale Gerechtigkeit, die niemanden ausschließt. Da immer mehr Exklusion, Ausschließung von Menschen festzustellen ist, nennt Papst Franziskus dies einen »schrittweisen dritten Weltkrieg«. Ende Januar 2024 betonte er: »Ich werde nie aufhören, meinen Appell zu wiederholen, der sich vor allem an die politisch Verantwortlichen richtet: die Bomben und Raketen sofort zu stoppen und aufzuhören mit den feindlichen Haltungen. Überall. Der Krieg ist immer und einzig eine Niederlage. Für alle. Die alleinigen Gewinner sind die Waffenhersteller und die Waffenhändler. Ein globaler Waffenstillstand ist dringend nötig.« Der Papst wird von verschiedenen Seiten kritisiert, sich zu neutral zu verhalten und sich nicht deutlich genug zu positionieren, da er sowohl im Ukraine-Krieg wie im Krieg in Gaza die Verursacher und Aggressoren nicht beim Namen nenne. Nur zu Frieden, Verständigung und Waffenstillstand aufzurufen, sei zu wenig. Als Franziskaner stehe ich mit unserem Ordensgründer Franz von Assisi für eine jesuanische Friedensethik. Es bleibt für alle konsequenten Pazifisten die Frage, wie sich der Vorrang der Gewaltfreiheit durchhalten und gestalten lässt – angesichts einer sich immer massiver verselbstständigenden militärischen Tötungsmaschinerie des Krieges. Wie lässt sich verhindern, dass immer mehr Menschen zu Gewaltopfern werden? Wie kann eine aktive Gewaltfreiheit dazu beitragen, den Frieden vorzubereiten? Es bleibt ein Ringen mit denen, die als Christinnen und Christen eher eine konstantinische Friedensethik vertreten, bei dem sich leichtfertige Antworten und gegenseitige Verurteilungen verbieten. Beide Positionen wollen Frieden, und beide gibt es nicht in Reinkultur. Machen wir »die aktive Gewaltfreiheit zu unserem Lebensstil«, so lautete die Botschaft von Papst Franziskus zum Weltfriedenstag 2017 – eine Überzeugung, der er bis heute treu geblieben ist LINKS © HENNING KAISER – PICTURE.ALLIANCE.COM; RECHTS © WOLFGANG SCHWAN – PICTURE.ALLIANCE.COM Ein von Deutschland gelieferter Leopard 2A6 Kampfpanzer nahe der ostukrainischen Kleinstadt Lyman, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt im nördlichen Donbass

12 FRANZISKANER 1|2024 Im Gespräch Die Chancen für eine neue Eine neue, wirklich globale Friedensordnung ist eine der zentralen Voraussetzungen, um die die ganze Menschheit betreffenden Krisen der Gegenwart – Klimaerhitzung, Hungerkatastrophen, Gefährdung der Artenvielfalt, Zunahme von Kriegen und Bürgerkriegen, weltweit stark anwachsende Anzahl von Vertriebenen und Flüchtlingen, zunehmender Zerfall staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen etc. – bewältigen zu können. Doch wie könnte eine solche globale Friedensordnung aussehen und vor allem wie könnte sie geschaffen werden? Wie kann eine Kooperation mit Kriegsgegnern und Vertreter:innen nicht-demokratischer und die Menschenrechte verletzender Staaten aussehen? Zu diesen Themen hat sich unser Redakteur Thomas Meinhardt zu einem Interview mit dem SPD-Außenpolitiker und Bundestagsabgeordneten Ralf Stegner und dem Autor und ehemaligen UN-Korrespondenten Andreas Zumach getroffen. Überall auf der Welt stehen die Zeichen auf Konfrontation. Es müssen aber dringend Verfahren gefunden werden, um wieder miteinander ins Gespräch zu kommen, um die globalen Krisen zu bewältigen. Herr Stegner, haben Sie Ideen, welche Schritte man gehen müsste, um zum Beispiel den Krieg in der Ukraine kurz und mittelfristig zu beenden, ohne dass es ein Diktatfrieden Putins ist? Stegner: Zunächst ist wichtig, dass wir in Europa nicht zulassen dürfen, dass mit Gewalt Grenzen verschoben werden. Lassen wir das zu, ist der Krieg nicht nur zurück in Europa, sondern dann wird Krieg überall in der Welt noch mehr als bisher wieder zum Mittel der Politik. Deswegen gibt es die politische, ökonomische, humanitäre und militärische Unterstützung der Ukraine, um genau diese Grenzverschiebung nicht zuzulassen. Dabei finde ich es wichtig, insbesondere die ukrainische Zivilbevölkerung zu schützen. Also beispielsweise Luftabwehrsysteme zu liefern, um Krankenhäuser, Schulen und die Energieversorgung zu sichern. Aber ich bin skeptisch gegenüber Strategien, die sagen, wir müssten nur genügend und immer offensivere Waffen liefern, damit Putin an den Verhandlungstisch gezwungen wird. Ich glaube, eine zweite Gefahr, neben der, dass sich der Krieg zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO ausweitet, ist, dass wir anfangen, uns an Krieg zu gewöhnen. Denn Krieg bedeutet jeden Tag Zerstörung, Tod, Vertreibung, Vergewaltigungen, Traumatisierungen von Menschen. Wir dürfen dies nicht vergessen und diesen Krieg wie ein Schachspiel betrachten und dabei vergessen, dass wir andere Wege finden müssen, diesen Krieg zu beenden, ohne das Putin seine Kriegsziele erreicht. Über Waffen kann jede und jeder öffentlich sprechen, aber über Diplomatie, die nur hinter verschlossenen Türen funktioniert, zu reden, ist sehr viel schwieriger. Es müssen aber dringend Ansätze gefunden werden, wie man vielleicht auch mit kleinen, begrenzten Schritten zunächst wieder eine Perspektive eröffnet, die etwas anderes ist als ein fürchterlicher Abnutzungskrieg. Denn durch immer aberwitzigere Aufrüstungsvorschläge wird kein einziges Problem gelöst – im Gegenteil: Viele werden verschärft. Ich vermute, dass es hinter verschlossenen Türen Versuche der NATO-Staaten gibt, Länder wie China, Indien und andere, die mehr Einfluss auf Russland haben, für Vermittlungsbemühungen zu gewinnen. Herr Stegner, sehen Sie da wirklich realistische Ansätze gerade in Bezug auf die Volksrepublik China? Stegner: Es ist kritisiert worden, dass der Bundeskanzler in Peking mit der chinesischen Regierung gesprochen hat. Aber eines der Resultate war, dass China die Russen öffentlich ermahnt hat, auf die Nukleardrohung zu verzichten. Wir müssen lernen, dass wir auch mit Ländern kooperieren müssen, die unsere Werte nicht teilen – vor allem wenn große Teile der Weltbevölkerung in solchen nichtdemokratisch organisierten Staaten leben. Es ist nicht »Wünsch dir was«, sondern einfach die harte Realität. Und das bedeutet, mit Regierungen zu reden, die nichts tun wollen, um dem Westen Ralf Stegner ist SPD-­ Bundestagsabgeordneter, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und Vorsitzender des Afghanistan-­ Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages Andreas Zumach ist ehemaliger UN-Korrespondent in Genf, Buchautor und Fachmann für Fragen der internationalen Friedenspolitik

13 FRANZISKANER 1|2024 globale Friedensordnung einen Gefallen zu tun, aber die vielleicht trotzdem – schon aus Eigeninteresse – gewillt sein könnten, Einfluss auf Russland auszuüben. Und die damit vermutlich bessere Chancen hätten als wir. Herr Zumach, wie sehen Sie das? Zumach: Es ist das völkerrechtlich legitime Recht der Ukraine, sich gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu verteidigen. Auch die anfänglichen Waffenlieferungen haben sicher dazu beigetragen, dass nicht die ganze Ukraine überrannte wurde, was ja Putins erklärtes Ziel war. Aber ich bin zunehmend skeptisch geworden über die ständige Eskalation bei den Waffenlieferungen, ohne dass es ein klares, politisch definiertes Ziel gibt. Uns haben westliche Militärs schon seit November 2022 gesagt: Dieser Krieg kann nicht militärisch entschieden und auch von keiner der beiden Seiten gewonnen werden. Er kann nur am Verhandlungstisch beendet werden. Meine Wahrnehmung ist, dass auf der politischen Ebene in den westlichen Hauptstädten und in Kiew selbst immer noch an der Illusion festgehalten wird, die Ukraine könne diesen Krieg gewinnen. Das halte ich für eine gefährliche Illusion. Deswegen muss man sehr konkret darüber nachdenken, was denn verhandelt werden kann – territoriale Konzessionen dürfen m. E. nicht verhandelt werden! Aber auf den Tisch müssen alle Erfahrungen von Kriegsbeendigungsprozessen der letzten 80 Jahre. Und diese zeigen uns, dass zunächst höchst geheim sondiert worden ist, nicht unbedingt zwischen den unmittelbaren Kriegsparteien, sondern meist über Dritte. Und erst dann hat man offiziell verhandelt. Die äußeren Akteure, die Einfluss und Druckmöglichkeiten hätten, müssen diese endlich anwenden. Ich glaube, es gibt in Peking eine Debatte zwischen zwei Fraktionen. Die eine sagt, dass es im eigenen Interesse liegt, die internationalen Handelsketten wieder zu sichern, denn die Hauptabsatzmärkte für chinesische Produkte sind Europa und Nordamerika. Und es gibt eine Fraktion, die auf die verschärfte Konfrontation mit dem gesamten Westen setzt. Es wäre daher in unserem Interesse, die erste Fraktion zu stärken. Stegner: Ich glaube, wir haben hier zwei Schlachtfelder: Wir haben ein militärisches Schlachtfeld, und wir haben das Schlachtfeld um die öffentliche Meinung in den westlichen Demokratien. Und niemand sollte glauben, dass der Kampf um die öffentliche Meinung mit einem Machtwort zu gewinnen ist. Nach dem Motto: »Eine Blut-Schweiß- und Tränen-Rede« und dann verstehen die Menschen schon, dass der Verteidigungsetat viel größer werden und beim Sozialen gekürzt werden muss. Das funktioniert nicht in den USA, nicht in Frankreich und auch nicht in Deutschland. Deswegen muss man eine Mehrheit organisieren, indem man verhindert, dass das eine gegen das andere ausgespielt wird. Das Schlimmste, was der Ukraine passieren kann, ist, dass sie den Krieg militärisch verliert und die Unterstützung im Westen verloren geht, weil die öffentliche Meinung sich in diese Richtung bewegt. Es ist wichtig, dass wir begreifen, dass wir mit vielen zu reden haben, die unsere Werte nicht teilen. Politik ist immer auch eine Frage von Interessenvertretung – mit klarem Wertekompass! Ohne geht es nicht. Aber wenn man glaubt, das eine ersetzt das andere, dann wird es gefährlich in der Welt. Deswegen, glaube ich, muss man mit allen Akteuren zusammenarbeiten, jedenfalls an Punkten, an denen man was bewegen kann. Es war immer so, dass Vereinbarungen auch in den schwierigsten Zeiten stattgefunden haben, in Zeiten größter Konfrontation. In Friedenszeiten mit Freunden muss ich nicht über Abrüstung reden, sondern ich muss das tun in Zeiten von Gegnerschaft. Wenn man sich nicht einigt, ist die Alternative keine gute. Bearbeitung: Anna Meinhardt und Thomas Meinhardt © ADOBE FIREFLY – KI GENERATED

14 FRANZISKANER 1|2024 Es gibt also keine rationale Alternative, als diplomatische Möglichkeiten auszutarieren. Aber ein großes Problem bleibt die Frage des Vertrauens. Wie findet man ein Minimum an Vertrauen? Und wie will man das testen, ob man diesen Weg überhaupt gehen kann und die Zustimmung dafür bekommt? Zumach: Egon Bahr hat auf dem Höhepunkt des alten Kalten Krieges 1973 gesagt: Eine Sicherheits- oder Friedensordnung in Europa kann es nur mit der Sowjetunion geben, nicht ohne sie und schon gar nicht gegen sie. Das gibt uns schon die geografische Lage vor. Das bedeutet möglicherweise Interessensunterschiede oder gar Gegensätze zwischen Europa und den USA. Und diese Analyse gilt heute ganz genauso mit Blick auf Russland. Denn Russland wird von diesem Kontinent nicht verschwinden. Es ist auf der Welt immer geredet worden, manchmal mit nachhaltigem Erfolg und Ergebnis, manchmal mit vorläufigem Erfolg und Ergebnis. Dass Putin Abkommen gebrochen hat, ist völlig klar. Das haben allerdings andere in der Vergangenheit auch getan. Man hat trotzdem mit ihnen geredet. Stegner: Ich stimme gerade dem Letzten ausdrücklich zu. Und mache das mit einem weiteren Zitat von Egon Bahr. Er hat gesagt: Die Freundschaft mit Amerika ist unverzichtbar, und Russland ist in Europa unverrückbar. Und aus meiner Sicht gibt es genügend Anknüpfungspunkte für ein wenig Hoffnung: das Getreideabkommen zum Beispiel. Viele waren sehr skeptisch. Aber es wurde sich darauf eingelassen. Es ist ein Stück Normalität, dass man miteinander auch in schwierigen Zeiten redet und Abkommen schließt. Und das muss es erst recht geben, wenn wir in der Situation sind, dass im Zweifelsfall die ganze Welt angezündet werden kann. Wir dürfen nie vergessen, dass Krieg immer noch das Furchtbarste ist, was es gibt. Und eine Aussage von einem deutschen Bundeswehrgeneral finde ich diesbezüglich sehr passend: Eine Alternative zum Krieg gibt es immer, eine Alternative zum Frieden nicht. Die öffentliche Debatte und auch die Aussagen von Regierungsseite drehen sich fast ausschließlich um die Frage weiterer und weitreichenderer Waffenlieferungen. Warum wird die Notwendigkeit von Verhandlungen faktisch nicht thematisiert? Stegner: Ich spreche jeden Tag darüber und bemühe mich darum. Wobei ich wahrnehme, dass dies die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung ist. Aber es ist schwierig, denn man wird schnell in einen Topf geworfen mit denen, die bestreiten, dass es eine Aggression von Putin war, wenn man versucht, gegen reines Aufrüsten zu argumentieren. Mich beunruhigt, dass nur die Älteren noch Erinnerungen daran haben, was der Krieg angerichtet hat in ihren Familien. Manch andere haben eine Social-Media-Vorstellung von Krieg: Wenn es der guten Sache dient, für die Richtige und gegen den Richtigen, dann lassen sie schnell ihre Grundsätze fallen und glauben, was die Rüstungsindustrie erzählt. Kurzum: Wir haben mehr Begründungsbedarf für die Argumentation gegen reines Aufrüsten. Ich wünschte mir, dass auch die Kirchen ein lauteres Wort führten. Sie und andere Stimmen werden gebraucht, um zu sagen: Man muss nicht Pazifist:in sein. Aber man sollte Kriegsgegner:in sein. Herr Zumach, es ist für viele überraschend, dass zahlreiche Staaten des globalen Südens zwar den Angriffskrieg Russlands verurteilen oder zumindest nicht billigen, aber keineswegs bereit sind, sich an Sanktionen zu beteiligen. Wie beurteilen Sie dies? Zumach: Wenn ich mit Menschen aus dem sogenannten globalen Süden über die »Zeitenwende-Rede«, die Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 gehalten hat, spreche, dann sagen sehr viele: Wovon redet ihr Europäer? Solche Kriege haben seit Jahrzehnten immer stattgefunden – oftmals unter Beteiligung westlicher Staaten. Die westlichen Staaten haben in den letzten 33 Jahren in so vielen Fällen gegen die universellen Normen des Völkerrechtes verstoßen. Das bedeutet: Die westlichen Staaten haben im globalen Süden sehr an Glaubwürdigkeit verloren. Und das lange Zeit dröhnende Schweigen in vielen westlichen Hauptstädten zu den katastrophalen Auswirkungen der israelischen Kriegsführung gegen die Hamas auf die Zivilbevölkerung in Gaza verstärkt diesen Glaubwürdigkeitsverlust noch. Ich sage das mit zwei weinenden Augen, weil diese Völkerrechtsnormen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die wichtigsten Leitlinien sind, die wir überhaupt haben – für die internationale Politik, aber auch innergesellschaftlich. Und diese werden immer weiter unterminiert, wenn sie nach doppelten Standards und selektiv gehandhabt werden. Zudem gibt es natürlich ökonomische Abhängigkeiten einiger Länder des Südens, oft von Russland, vor allem durch billigeres Öl etc. Sind wir auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung? Zumach: Ich nenne mal drei potenzielle Entwicklungen für eine künftige Weltordnung. Die erste ist die konkrete Utopie einer »G193«, in der nicht nur die Interessen der Regierungen der 193 Mitgliedstaaten der UNO berücksichtigt würden, sondern vor allem die Bedürfnisse der Bevölkerung in diesen 193 Staaten. Das Worst-Case-Szenario wäre die harte bipolare Konfrontation zwischen den USA und China, wobei dann beide Seiten versuchen würden, andere Staaten in den Schulterschluss zu nehmen. Dies deutet sich schon an und hätte dann zur Folge, dass nicht nur der UNO-Sicherheitsrat ähnlich blockiert sein würde wie zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern auch weite Teile des gesamten UNO-Systems und anderer internationaler Institutionen, bei denen es darum geht, die gemeinsamen globalen Herausforderungen wie die Klimaerhitzung an erster Stelle und die wieder zunehmende Armut endlich in den Griff zu kriegen und zu bewältigen. Ich glaube, realpolitisch läuft es am ehesten auf die dritte Möglichkeit hinaus: eine multipolare Ordnung, mit fünf bis sieben Akteuren. Das wären vermutlich die USA, China, die EU, Indien und Russland und eventuell Brasilien und Südafrika. Wenn diese fünf bis sieben Akteure sich trotz der unterschiedli-

15 FRANZISKANER 1|2024 chen inneren Ausrichtung – Demokratie, weniger Demokratie, Diktatur – zumindest verständigen würden, bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen zu kooperieren, dann wäre das ein Fortschritt. Was muss passieren, damit die UN eine zentrale Rolle in einer solchen globalen multipolaren Ordnung spielen kann? Stegner: Ich könnte mir vorstellen, dass die UN eine Rolle als Kontrollorgan spielen könnte, um die Einhaltung von Vereinbarungen zu gewährleisten, sollte es eine Einigung im Ukraine-Krieg geben. Es könnte ein Mandat für die UN geben, diese sehr vulnerablen Zwischenziele durchzusetzen, die dort vereinbart werden würden. Und ansonsten scheint es mir so zu sein: Je mehr man die Länder des globalen Südens davon überzeugt, dass wir nicht nur mit dem Ellenbogen Politik machen und weltweiten Raubtierkapitalismus durchsetzen, umso besser würden wir auch als Deutschland und EU dastehen. Wenn ich im Ausland bin, höre ich sehr viel Positives über Deutschland. Es wird oft gesagt, dass die deutsche Außenpolitik nicht mit den Ellenbogen betrieben wird, sondern wir die meiste humanitäUm ein handlungsfähiges Organ der Weltgemeinschaft zu sein, muss die Zusammensetzung der ständigen Vertreter im UN-Sicherheitsrat um Staaten aus dem globalen Süden erweitert werden – wie Indien, Brasilien, Südafrika © MICHAEL KAPPELER – PICTURE.ALLIANCE.COM re Hilfe geben und bestimmte Dinge stärker unterstützen als andere. Da könnten wir noch ein bisschen mehr machen. Gibt es Ansatzpunkte, wo zivilgesellschaftliche Organisationen und Kirchen handeln oder zu mindesten ihren Beitrag leisten können, um nicht nur als frustrierte Zuschauende bei dem fürchterlichen Spiel dabei zu sein? Stegner: Ich finde, die Kirchen haben ein besonderes Interesse zu sagen: Wir sind nicht dafür da, bequem zu sein, sondern den Zeigefinger zu erheben und zu sagen, lasst uns mehr reden. Wir sind nicht diejenigen, die Waffen segnen, die wir überallhin exportieren, sondern wir sind diejenigen, die darauf aufmerksam machen, dass Frieden der Ernstfall ist und die Gerechtigkeitsfragen gestellt werden. Wir haben globale Gerechtigkeitsfragen, die wir anders beantworten müssen, als wir das bisher tun. Da könnten die Kirchen und andere sich lauter zu Wort melden. Zumach: Die Kirchen waren immer dann relevant, wurden gehört und haben etwas bewegt, wenn sie mit eigenen neuen Initiativen kamen. Oder wenn sie sich deutlich, präzise und kritisch zur aktuellen Politik geäußert haben. Eine vollständige Fassung dieses Interviews mit zahlreichen weiteren konkreten Differenzierungen zum Thema findet sich auf ▶▶ www.franziskaner.de

16 FRANZISKANER 1|2024 Von der Torheit des Evangeliums Franziskus – eine gefährliche Erinnerung Wie verrückt muss man eigentlich sein, um zum Friedensstifter Gottes zu werden? Wie viel Torheit braucht es, um die Weisungen der Bergpredigt umzusetzen? Eine Erinnerung an einen, der keine theoretische Friedenstheologie entwickelte, sondern als Narr Gottes durch die Welt zog und wie kaum ein anderer in seiner Person den Frieden leibhaftig verkörperte. »Buon giorno, buona gente!« »Guten Tag, ihr guten Leute!«, so grüßte Franz von Assisi die Menschen und rief damit das Gute in ihnen wach. Auf das Positive zu schauen, ist bereits ein wichtiger Schritt zum Frieden. Den Menschen salus et pax = Heil und Frieden zu bringen, jede Predigt mit dem Friedenswunsch zu beginnen und die Worte Jesu umzusetzen: »Und wenn sie ein Haus betreten, sollen sie zuerst sagen: ‚Friede diesem Haus!‘« Laut seinem Testament war es der Herr selbst, der ihm diesen Gruß offenbarte: »Der Herr gebe dir Frieden!« Frieden als Geschenk Franziskus hat verstanden: Wer den Frieden verkündet, muss ihn zunächst selbst im Herzen tragen. Deshalb mahnt er: »Wenn ihr mit dem Mund den Frieden verkündet, so versichert euch, ob ihr ihn auch, ja noch mehr, in eurem Herzen habt.« Entfeindungsliebe beginnt im eigenen Herzen mir selbst gegenüber. Erst versöhnt mit mir selbst kann ich vertrauensvoll bei anderen Frieden stiften und zur Versöhnung beitragen. Frieden als »com-passion« Frieden hat für Franziskus grundsätzlich eine soziale Komponente. Es war die Begegnung mit einem Aussätzigen, die ihn zu einem sozialen Standortwechsel veranlasste: weg aus dem aufkommenden neureichen Bürgertum im Ortszentrum Assisis, hin zu den Ausgegrenzten vor den Toren der Stadt. Seinen Brüdern schrieb er ins Stammbuch, sprich: in die Ordensregel: »Ich rate aber meinen Brüdern, warne und ermahne sie im Herrn Jesus Christus, dass sie, wenn sie durch die Welt ziehen, nicht streiten, noch sich in Wortgezänk einlassen, noch andere richten. Vielmehr sollen sie milde, friedfertig und bescheiden, sanftmütig und demütig sein und Stefan Federbusch OFM mit allen anständig reden, wie es sich gehört.« In seinen Ermahnungen greift er die Seligpreisungen auf und macht die Gewaltfreiheit zum Kennzeichen der Bruderschaft. Gemäß dem biblischen Dreiklang von Frieden, Demut und Geduld sieht Franziskus in der Konflikt- und Leidensfähigkeit die Wahrheitsprobe für den Frieden. Das geduldige Ertragen und demütige Erleiden sind aber nicht passiv zu verstehen, sondern sind aktives Tun, das ein kreatives Potenzial entfaltet. Exemplarisch deutlich wird dies in der Begegnung mit dem Wolf von Gubbio. Hier stoßen die wölfische Art des Menschen (»homo homini lupus« = »der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«) und die göttliche Lebensform des Lammes aufeinander. Eine Haltung der Gewaltfreiheit eröffnet neue Perspektiven der Gerechtigkeit und des Friedens. Die passio, die Geduld, wird zur com-passion, zum Mitleiden, zur aktiven Solidarität mit den von der Gesellschaft Ausgeschlossenen und an den Rand Gedrängten. Gewaltfreiheit als Besitzlosigkeit Ist die Haltung des Franziskus in der Nachfolge Jesu völlig naiv und realitätsfremd? Biografisch betrachtet gewiss nicht. Franziskus hatte erlebt, was Krieg heißt, und ein Jahr in Kriegsgefangenschaft verbracht. Er hatte die physischen und psychischen Folgen am eigenen Leib zu spüren bekommen, wusste also um die Zerstörungskraft gewalttätiger Auseinandersetzungen. Heute würden wir von einer Posttraumatischen Belastungsstörung sprechen. Ebenso erlebte er in der eigenen Familie, bei seinem Vater als neureichem Tuchhändler, welche negativen Dynamiken das Streben nach Reichtum mit sich bringt. Dies kommt zum Ausdruck in © ADOBE FIREFLY – KI GENERATED

17 FRANZISKANER 1|2024 seiner Rechtfertigung der Armut, wenn er dem Bischof von Assisi gegenüber feststellt: »Herr, wenn wir irgendwelche Besitztümer hätten, bräuchten wir Waffen zu unserem Schutz. Daraus entstehen Rechtsfragen und Streitereien, und in der Folge wird die Gottes- und Nächstenliebe gewöhnlich vielfach verhindert. Deshalb wollen wir in dieser Welt lieber nichts besitzen.« Angesichts der heutigen kriegerischen Auseinandersetzungen als Kampf um Ressourcen und Rohstoffe, also letztlich als Kampf aus wirtschaftlichen Interessen ist diese Argumentation mehr als plausibel. Franziskus sieht die Grundsünde des Menschen in der Aneignung von Besitz (appropriatio) und die Erlösung in der Selbstenteignung (expropriatio) und in der Solidarität mit den Armen. Angesichts heutiger Konsummuster und Wachstumsideologien und der damit verbundenen ökologischen Fragen eine hochpolitische Einstellung! Gewaltfreiheit in der Kommunikation Eine Aktualisierung können wir auch für den Bereich der Sprache vornehmen. Bei all den Fake News, Hassmails und sprachlichen Verwerfungen in den »sozialen Netzwerken« ist die Weisung von Franziskus – »Und wenn wir sehen oder hören, wie man Böses sagt oder tut oder Gott lästert, dann wollen wir Gutes sagen und Gutes tun und Gott loben, ‚der gepriesen ist in Ewigkeit‘« – ein pazifistisches Gegenmodell gegen jede Form von Gewalt in der Kommunikation. Gewaltfreiheit in der Kirche Modellhaft nicht zuletzt für die Kirche könnten die Strukturen sein, in denen die Gemeinschaft verfasst ist. Die franziskanische Gemeinschaft ist nicht hierarchisch gegliedert, sondern »demokratisch«. Alle Mitglieder sind als »Minderbrüder« gleichrangig, alle Ämter sind »Dienstämter« und werden nur auf Zeit vergeben. Kennzeichen der Bruderschaft sind die Brüderlichkeit, die Besitzlosigkeit und die Gewaltlosigkeit. Für Franziskus ist eine christliche Gemeinschaft nur als macht- und herrschaftsfreie von gleichberechtigten Schwestern und Brüdern vorstellbar. Gewaltfreiheit im Umgang mit Andersgläubigen Franziskus war der Erste, der ein Missionsstatut in seine Ordensregel aufnahm. Es ist geprägt von der Begegnung mit Sultan Malik al-Kamil. Im Jahr 1219 begab sich Franziskus mit einem Mitbruder nach Damiette in Ägypten und wagte es, in einer Kampfpause zwischen den christlichen Kreuzfahrern und dem muslimischen Heer, bis zum Sultan vorzudringen und das Gespräch mit ihm zu suchen. Die positiven Kontrasterfahrungen, die Franziskus mit den Muslimen gemacht hat, möchte er auch bei seinen Brüdern umgesetzt sehen, indem sie zunächst einmal unter den Andersgläubigen in friedvoller Weise leben: »weder zanken noch streiten, sondern um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur untertan sind und bekennen, dass sie Christen sind«. Erst dann, wenn sie sehen, »dass es dem Herrn gefällt, das Wort Gottes verkünden«. Im Lateinischen wird das »unter ihnen« noch deutlicher: inter esse = dazwischen sein. Unter Andersgläubigen zu leben, bedeutet, Interesse zu zeigen, sich füreinander zu interessieren, um miteinander auf die Gottsuche zu gehen und besser zu verstehen, was den anderen umtreibt. Frieden als Utopie? Noch einmal gefragt: Ist die Haltung des Franziskus in der Nachfolge Jesu nicht völlig naiv und realitätsfremd? Wer so denkt, steht in der Gefahr, die Heiligen deshalb auf den Sockel der Unerreichbarkeit zu stellen, um selbst in Passivität verharren zu können. In seiner Radikalität ist das Lebensmodell von Franziskus zutiefst jesuanisch, zutiefst evangeliumsgemäß. Es ist und bleibt Stachel im Fleisch – eine gefährliche Erinnerung an einen, der vorgelebt hat, dass das jesuanische Projekt tatsächlich geht, wenn ich denn gehe und mich traue, es in der von Jesus geforderten Radikalität zu leben. Damit sichtbar wird, was am Eingang der Carceri, der franziskanischen Einsiedelei oberhalb von Assisi, zur Begrüßung steht: »Ubi Deus, ibi pax« = »Wo Gott ist, da ist Frieden«! Franziskus und der gezähmte Wolf. Die moderne Plastik in Gubbio erinnert an eine Erzählung, in der Franziskus der Gewalt in Form eines wilden Tieres begegnet. Der Wolf von Gubbio verkörpert als Sinnbild den »Wolf im Menschen«, die ungesteuerte Aggression, das Gewaltpotenzial, das bereit ist zu töten. Franziskus vermittelt zwischen den Konfliktparteien und tritt der Bestie in einer Haltung der aktiven Gewaltfreiheit entgegen. © PETER SCHICKERT – PICTURE.ALLIANCE.COM

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