Franziskaner - Frühling 2024

14 FRANZISKANER 1|2024 Es gibt also keine rationale Alternative, als diplomatische Möglichkeiten auszutarieren. Aber ein großes Problem bleibt die Frage des Vertrauens. Wie findet man ein Minimum an Vertrauen? Und wie will man das testen, ob man diesen Weg überhaupt gehen kann und die Zustimmung dafür bekommt? Zumach: Egon Bahr hat auf dem Höhepunkt des alten Kalten Krieges 1973 gesagt: Eine Sicherheits- oder Friedensordnung in Europa kann es nur mit der Sowjetunion geben, nicht ohne sie und schon gar nicht gegen sie. Das gibt uns schon die geografische Lage vor. Das bedeutet möglicherweise Interessensunterschiede oder gar Gegensätze zwischen Europa und den USA. Und diese Analyse gilt heute ganz genauso mit Blick auf Russland. Denn Russland wird von diesem Kontinent nicht verschwinden. Es ist auf der Welt immer geredet worden, manchmal mit nachhaltigem Erfolg und Ergebnis, manchmal mit vorläufigem Erfolg und Ergebnis. Dass Putin Abkommen gebrochen hat, ist völlig klar. Das haben allerdings andere in der Vergangenheit auch getan. Man hat trotzdem mit ihnen geredet. Stegner: Ich stimme gerade dem Letzten ausdrücklich zu. Und mache das mit einem weiteren Zitat von Egon Bahr. Er hat gesagt: Die Freundschaft mit Amerika ist unverzichtbar, und Russland ist in Europa unverrückbar. Und aus meiner Sicht gibt es genügend Anknüpfungspunkte für ein wenig Hoffnung: das Getreideabkommen zum Beispiel. Viele waren sehr skeptisch. Aber es wurde sich darauf eingelassen. Es ist ein Stück Normalität, dass man miteinander auch in schwierigen Zeiten redet und Abkommen schließt. Und das muss es erst recht geben, wenn wir in der Situation sind, dass im Zweifelsfall die ganze Welt angezündet werden kann. Wir dürfen nie vergessen, dass Krieg immer noch das Furchtbarste ist, was es gibt. Und eine Aussage von einem deutschen Bundeswehrgeneral finde ich diesbezüglich sehr passend: Eine Alternative zum Krieg gibt es immer, eine Alternative zum Frieden nicht. Die öffentliche Debatte und auch die Aussagen von Regierungsseite drehen sich fast ausschließlich um die Frage weiterer und weitreichenderer Waffenlieferungen. Warum wird die Notwendigkeit von Verhandlungen faktisch nicht thematisiert? Stegner: Ich spreche jeden Tag darüber und bemühe mich darum. Wobei ich wahrnehme, dass dies die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung ist. Aber es ist schwierig, denn man wird schnell in einen Topf geworfen mit denen, die bestreiten, dass es eine Aggression von Putin war, wenn man versucht, gegen reines Aufrüsten zu argumentieren. Mich beunruhigt, dass nur die Älteren noch Erinnerungen daran haben, was der Krieg angerichtet hat in ihren Familien. Manch andere haben eine Social-Media-Vorstellung von Krieg: Wenn es der guten Sache dient, für die Richtige und gegen den Richtigen, dann lassen sie schnell ihre Grundsätze fallen und glauben, was die Rüstungsindustrie erzählt. Kurzum: Wir haben mehr Begründungsbedarf für die Argumentation gegen reines Aufrüsten. Ich wünschte mir, dass auch die Kirchen ein lauteres Wort führten. Sie und andere Stimmen werden gebraucht, um zu sagen: Man muss nicht Pazifist:in sein. Aber man sollte Kriegsgegner:in sein. Herr Zumach, es ist für viele überraschend, dass zahlreiche Staaten des globalen Südens zwar den Angriffskrieg Russlands verurteilen oder zumindest nicht billigen, aber keineswegs bereit sind, sich an Sanktionen zu beteiligen. Wie beurteilen Sie dies? Zumach: Wenn ich mit Menschen aus dem sogenannten globalen Süden über die »Zeitenwende-Rede«, die Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 gehalten hat, spreche, dann sagen sehr viele: Wovon redet ihr Europäer? Solche Kriege haben seit Jahrzehnten immer stattgefunden – oftmals unter Beteiligung westlicher Staaten. Die westlichen Staaten haben in den letzten 33 Jahren in so vielen Fällen gegen die universellen Normen des Völkerrechtes verstoßen. Das bedeutet: Die westlichen Staaten haben im globalen Süden sehr an Glaubwürdigkeit verloren. Und das lange Zeit dröhnende Schweigen in vielen westlichen Hauptstädten zu den katastrophalen Auswirkungen der israelischen Kriegsführung gegen die Hamas auf die Zivilbevölkerung in Gaza verstärkt diesen Glaubwürdigkeitsverlust noch. Ich sage das mit zwei weinenden Augen, weil diese Völkerrechtsnormen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die wichtigsten Leitlinien sind, die wir überhaupt haben – für die internationale Politik, aber auch innergesellschaftlich. Und diese werden immer weiter unterminiert, wenn sie nach doppelten Standards und selektiv gehandhabt werden. Zudem gibt es natürlich ökonomische Abhängigkeiten einiger Länder des Südens, oft von Russland, vor allem durch billigeres Öl etc. Sind wir auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung? Zumach: Ich nenne mal drei potenzielle Entwicklungen für eine künftige Weltordnung. Die erste ist die konkrete Utopie einer »G193«, in der nicht nur die Interessen der Regierungen der 193 Mitgliedstaaten der UNO berücksichtigt würden, sondern vor allem die Bedürfnisse der Bevölkerung in diesen 193 Staaten. Das Worst-Case-Szenario wäre die harte bipolare Konfrontation zwischen den USA und China, wobei dann beide Seiten versuchen würden, andere Staaten in den Schulterschluss zu nehmen. Dies deutet sich schon an und hätte dann zur Folge, dass nicht nur der UNO-Sicherheitsrat ähnlich blockiert sein würde wie zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern auch weite Teile des gesamten UNO-Systems und anderer internationaler Institutionen, bei denen es darum geht, die gemeinsamen globalen Herausforderungen wie die Klimaerhitzung an erster Stelle und die wieder zunehmende Armut endlich in den Griff zu kriegen und zu bewältigen. Ich glaube, realpolitisch läuft es am ehesten auf die dritte Möglichkeit hinaus: eine multipolare Ordnung, mit fünf bis sieben Akteuren. Das wären vermutlich die USA, China, die EU, Indien und Russland und eventuell Brasilien und Südafrika. Wenn diese fünf bis sieben Akteure sich trotz der unterschiedli-

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