Franziskaner - Sommer 2024

30 FRANZISKANER 2|2024 Wahl von Abiy Ahmed Ali. Für den von ihm betriebenen raschen Friedensschluss mit dem »Erzfeind« Eritrea und sein innergesellschaftliches Versöhnungsprogramm erhielt Abiy kurze Zeit später – im Oktober 2019 – den Friedensnobelpreis. Nur ein Jahr später eskalierten die Konflikte mit der Regierung des Bundesstaates Tigray, und Abiy wurde zum Mitverantwortlichen des wahrscheinlich blutigsten Bürgerkriegs der Gegenwart mit geschätzt mindestens 600.000 Toten, die meist davon Zivilistinnen und Zivilisten. Sexualisierte Gewalt wurde gezielt und systematisch als ein Mittel der Kriegsführung eingesetzt, 120.000 Frauen sollen vergewaltigt worden sein. Gerrit Kurtz von der Stiftung Wissenschaft und Politik schätzte im vergangenen Jahr die Situation wie folgt ein: »Äthiopiens Bürgerkrieg ist Ausdruck eines Machtkampfs innerhalb der regierenden Elite des Landes. (…) Als Abiy 2019 aus der alten Koalition die neue Prosperity Party (PP) formte, blieb die TPLF, die seit 27 Jahren die Koalitionsregierung beherrscht hatte, außen vor. Die TPLF zog sich nach Tigray zurück, während Abiy ihren Einfluss innerhalb des Regierungs- und Sicherheitsapparates zurückdrängte und eine politische und wirtschaftliche Reformagenda vorantrieb.« Im Herbst 2022 hatte die Regierungsarmee mit massiver Unterstützung der Armee des eritreischen Diktators Isaias Afwerki, der Regionalarmee und Milizen aus Amhara, dem Nachbarbundesstaat Tigrays, dem Einsatz iranischer und türkischer Drohnen und einer furchtbaren Strategie des Aushungerns die TPLF soweit geschwächt, dass im November 2022 ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen wurde, was bisher weitgehend eingehalten wird. International unbestritten ist, das alle bewaffneten Organe in diesem Bürgerkrieg Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen haben. Insbesondere den eritreischen Soldaten und den amharischen Milizen werden von den UN fürchterliche Massaker vorgeworfen. Die Strategie des Aushungerns und die Blockade jeder gesundheitlichen Versorgung in Tigray durch die äthiopische Regierung wird von vielen in der Bevölkerung Tigrays als versuchter Völkermord wahrgenommen. Obwohl sie noch kurz davor als Verbündete gekämpft hatten, kam es schon ab Ende 2022 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Milizen aus den beiden bevölkerungsreichsten Regionalstaaten Amhara und Oromia mit den äthiopischen Streitkräften, die bis heute andauern. Auch hier und in anderen Regionen des Landes liegen die Ursachen vor allem in Gebietsstreitigkeiten und dem Kampf um die Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen für die eigene ethnische Gruppe. Der Versuch der Regierung Abiy, panäthiopische gegenüber föderalen Strukturen zu stärken, führt in mehreren Regionen des Landes zu teilweise bewaffnetem Widerstand – auch weil sich die einzelnen ethnische Gruppen nicht in Entscheidungen eingebunden fühlen. Nachhaltiger Frieden und Stabilität Die Situation in Äthiopien, aber auch in vielen anderen Kriegs- und Krisenregionen belegt, dass militärische Gewaltanwendung keine Lösung ist – ganz im Gegenteil. Die Ereignisse in diesem Vielvölkerstaat zeigen eindeutig, dass jeder gewaltsam aufgetragene Konflikt über kurz oder lang den nächsten nach sich zieht. Für die Zivilbevölkerung bedeutet dies ein Leben in ständiger Unsicherheit, ohne Zukunftsperspektive und über Generationen sich fortsetzende traumatische Erfahrungen. Um nachhaltigen Frieden und Stabilität in diesem Land möglich zu machen, können einige sicher unvollständige Lehren aus den Entwicklungen der letzten Jahre gezogen werden. Nötig sind: • ein inklusiver, das heißt alle Bevölkerungsgruppen einbeziehender, nationaler Dialog im ganzen Land, der nicht nur von der Agenda der Regierung geprägt ist und der die bewaffneten Akteure einbezieht, ohne sie zu priviligieren; • eine wirtschaftliche Entwicklung, von der nicht nur einigen Gruppen, sondern möglichst die gesamte Bevölkerung profitiert; • die Unterstützung von kleinbäuerlichen Betrieben, um die Ernährungssicherheit zu verbessern und sogleich der Arbeitslosigkeit von jungen Menschen entgegenzuwirken; • eine Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen und demokratischer Partizipationsmöglichkeiten, die langsam auch die ethnische Polarisierung überwinden hilft; • Rechtsstaatlichkeit, gesetzliche Garantien zu Geschlechtergerechtigkeit, zum Minderheitenschutz, der Presse- und Informationsfreiheit, … • die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen mithilfe unabhängiger Institutionen und die Installation von Angeboten zur Traumabearbeitung und zur zivilen Konfliktbearbeitung insbesondere im lokalen und regionalen Bereich, … All dies muss in Verantwortung der Menschen in Äthiopien selbst geschehen. Doch können und sollten die EU, die Bundesregierung, NGOs, Kirchen und ihre Hilfswerke Unterstützung auf Augenhöhe anbieten. Dies gilt sicher in jeweils angepasster Form auch für zahlreiche der besonders im Globalen Süden gerade stattfindenden gewaltsamen Konflikte und innerstaatlichen Kriege und wäre ein ganz wesentlicher Beitrag zu einer neuen inklusiven und globalen Friedensarchitektur. Und wir alle können mithelfen, dass die Menschen in diesen oft vergessenen Kriegen öffentlich wahrgenommen werden – eine wichtige Grundbedingung, damit Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch öffentliche Thematisierung eingedämmt werden können.

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