34 FRANZISKANER 2|2024 wie andere Arme, durch Betteln zum Tisch des Herrn Zuflucht nehmen. Dies bedeutete, auf die Großzügigkeit und Solidarität der Menschen angewiesen zu sein. Die Brüder sollten ihre Berufe weiter ausüben Im Regeltext von 1221 wird auch der Begriff »artem« verwendet. Dieses Wort gehört zu einer mittelalterlichen Terminologie, die das Gewerbe des Kunsthandwerkers ausdrückt. Gerade in der Zeit von Franziskus wurde das Handwerk in den Städten zu einer starken Bewegung, die sich in den verschiedenen Ständen und sozialen Zünften zusammenschloss. Jeder Handwerksberuf bildete seine eigene Gruppe in den Städten. Für die Ausübung dieser Berufe war ein gewisses Maß an Ausbildung und Professionalität erforderlich. Die Handwerker waren freie Männer und keiner Grundherrschaft unterworfen. Sie boten ihr Handwerk durch einen Kaufvertrag an. Oft wurde auch der Beruf des Arztes, des Notars und des Stadtschreibers als eine solche »Kunst« angesehen. Viele der ersten Brüdergeneration kamen aus diesen sozialen Schichten und wurden, bevor sie der Gemeinschaft der Minderbrüder beitraten, in einem dieser Berufe ausgebildet. Die Regula non bollata hindert sie nicht daran, sondern ermutigt sie sogar, ihren Beruf weiter auszuüben. Wenn der Bruder diese Berufe ehrlich ausübt, kann er zum täglichen Unterhalt der Bruderschaft beitragen und ihren Einsatz für die mittellosen Menschen, mit denen sie zusammenleben, unterstützen. Ein Problem entstand durch die Einführung des Geldes als Mittel zur Entlohnung von Arbeit. Dies privilegierte einige wenige soziale Schichten und brachte der Mehrheit der Bürger, insbesondere den Angehörigen der unteren Klassen, großes Elend. Deshalb war für Franziskus die Entlohnung mit Geld nicht mit der Nachfolge Christi vereinbar. Sein Verbot, Geld als Lohn anzunehmen, ermöglichte es den Brüdern, die Lohnarbeit verrichteten, die Nachfolge des armen und demütigen Christus dennoch zu verwirklichen. Die Entscheidung, kein Geld als Lohn für die Arbeit anzunehmen, sollte auch sicherstellen, dass die Brüder das Leben mit den Randgruppen der Gesellschaft teilten, auch wenn sie in der Lage waren, eine gehobenere Arbeit zu verrichten. Naturalien durften als Gabe angenommen werden. Wenn die Brüder nun nicht das Nötigste als Gabe für das tägliche Leben erhielten, sollten sie eben auch zum Betteln Zuflucht nehmen. Almosen nehmen und geben als Gnadentausch In der theologischen und spirituellen Sichtweise des Mittelalters wurde das Bitten um Almosen als ein gegenseitiger Dienst zwischen dem Geber und dem Empfänger angesehen. Das Erbitten von Almosen wurde als ein Akt der Demütigung angesehen. Jedoch hatte der arme Bettler etwas als Gegenleistung für die erhaltenen Almosen anzubieten. In der Tat bot der Arme dem Reichen die Möglichkeit, ein Werk der Nächstenliebe zu tun, das gerade für ihn notwendig war, um den Weg von den Sünden, zu denen der Reichtum verleitete, zum Himmel zu finden. Für die Spiritualität des Mittelalters war das Almosengeben also nicht nur eine einfache Geste der Großzügigkeit; vielmehr ein echter Tausch von geistigen Gütern, d.h. die Möglichkeit, sich durch die Ausübung der Tugend der Demut auf der Seite des Armen und eines Werkes der Barmherzigkeit auf der Seite des Reichen, den Weg zum Himmel zu verdienen. Man sprach auch von einem Gnadentausch zwischen den Armen und den Reichen. Auch die auf die Regel von 1221 folgende sogenannte bullierte Regel von 1223 spricht im 5. Kapitel von der Arbeit der Brüder. »Jene Brüder, denen der Herr die Gnade gegeben hat, arbeiten zu können, sollen in Treue und Hingabe arbeiten, und zwar so, dass sie den Müßiggang, den Feind der Seele, ausschließen, aber den Geist des heiligen Gebetes und der Hingabe nicht auslöschen, dem die übrigen zeitlichen Dinge dienen müssen.« (BR 5,1–2) Der kurze Text lässt sofort deutlich werden, dass das Leben der Bruderschaft sich in relativ kurzer Zeit verändert hat. Unterdessen steht nicht mehr nur die Handarbeit im Blickpunkt. Auch die Predigertätigkeit der Brüder ist zu einem neuen Schwerpunkt des Lebens der Minderbrüder geworden. Die Fähigkeit zur Handarbeit wird als Gnade und wichtig angesehen, aber nicht mehr von allen Brüdern verrichtet. Die spirituelle Dimension und das Gebetsleben als Voraussetzung des Predigens treten nun mehr in den Mittelpunkt. Dennoch bleibt die Einordnung der Bruderschaft in die niederen Stände der Zeit ein entscheidendes Element der Nachfolge des armen Christus: »Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch sonst eine Sache. Und gleichwie Pilger und Fremdlinge in dieser Welt, die dem Herrn in Armut und Demut dienen, mögen sie voll Vertrauen um Almosen bitten gehen und sollen sich dabei nicht schämen, weil der Herr sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat.« (BR 6,1–3) Für die Predigertätigkeit wird keine Entlohnung verlangt und werden keine Gebühren eingezogen. Da bleibt für die predigenden Brüder nur die Bitte um Almosen, um das zum Leben Notwendige zu erhalten. Damit verzichten die predigenden Brüder auf das damalige Recht, für ihre pastorale Tätigkeit ein Entgelt zu erhalten, und erbitten stattdessen eine Unterhaltsgabe. Durch diesen Verzicht auf eine ihnen zustehende Vergütung bleibt die solidarische Lebensnähe zu der Bevölkerungsschicht, die auch keine Ansprüche stellen konnte und durfte, bestehen. Die Arbeit wie auch die pastorale Predigertätigkeit sollten, als Konsequenz der Nachfolge des armen Jesus und dessen Solidarität mit den Armen und Sündern, der Nähe der Minderbrüder zu den wirtschaftlich und religiös benachteiligten Schichten der damaligen Bevölkerung dienen. Johannes-Baptist Freyer OFM
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