Franziskaner - Herbst 2024

10 FRANZISKANER 3|2024 Der Begriff wird zunächst selten gebraucht. Ab dem 19. Jahrhundert wird stigmatisieren auch übertragen verwendet, es entsteht Vogel – sind wichtige Botschafter, wenn es darauf ankommt, dieser himmlischen, aber auch unheimlichen Geschichte der sogenannten Stigmatisation einen geerdeten Halt zu geben. So nah wie möglich Franziskus kennt das Leben in Einsiedeleien, da ist er kein Anfänger. Er hat eigens eine Regel für solche Auszeiten geschrieben. Doch in diesem Spätsommer 1224 ist alles anders. Es geschieht etwas völlig Unerwartetes und Großes. So groß, dass der Heilige für den Rest seines Lebens nicht darüber sprechen möchte. Was da passiert, kostet ihn nicht nur Kraft und den Rest seiner ohnehin schon angeschlagenen Gesundheit, es trennt ihn auch von den anderen Menschen – selbst von seinen vertrauten Gefährten. In einer Phase intensivsten Gebets nämlich verändert sich sein Körper. Es tauchen Hautveränderungen auf, die wie Nägel aussehen: in den Handflächen, an den Füßen und an einer Seite. Franziskus, der Christus zeit seines Lebens so nah sein wollte, wie er nur konnte, wird ihm plötzlich auch äußerlich ähnlich. Die Wunden Jesu von der Kreuzigung an Karfreitag in Jerusalem um das Jahr dreiunddreißig tauchen fast zwölfhundert Jahre später am Leib dieses kauzigen kleinen Minderbruders in Mittelitalien wieder auf. Das klingt im wahrsten Sinne des Wortes mysteriös, fragwürdig, spektakulär, unglaublich – nennen wir es, wie wir wollen. Das muss auch so sein, denn es ist eine Geschichte, die noch nie zuvor da gewesen ist. Sie ist erst einmal nirgendwo einzuordnen, weder für Franziskus selbst noch für seine Freundinnen und Freunde. Von der Kirche, die noch Jahrzehnte darüber streiten wird, ganz zu schweigen. Es ist das erste Mal, dass die Menschheit mit diesem Phänomen, dieser Idee, diesem Motiv der Wundmale Jesu am Körper eines Menschen konfrontiert wird. Das ist so neu, so anders, so fremd, dass die Sprache ihre liebe Mühe hat, das Geschehen auszudrücken. Was man zunächst findet, sind Bilder von einem geflügelten, gekreuzigten Seraph, einer Art Engel, von dem in den Quellenschriften die Rede ist. Diese Erzählung bleibt alles andere als leicht zu deuten – unabhängig davon, ob man sie für bare Münze nimmt oder im übertragenen Sinn versteht. Deshalb könnten die auf den ersten Blick so unscheinbaren Begleiter, Bruder Leo und Bruder Falke, wie Franziskus den Greifvogel liebevoll nennt, eine Brücke bilden, sich der Geschichte wenigstens zu nähern. Schmerzen und Schrecken Franziskus hat diese Hautveränderungen nicht nur gespürt, sie müssen fürchterlich wehgetan haben. Später wird erzählt, wenn jemand Franziskus‘ Seite berührt habe, sei er vor Schmerz zusammengezuckt. Jenseits dieses Schmerzes aber haben sie ihn erschreckt. Niemand wird sagen können, ob das ein frohes oder ein angstvolles Erschrecken gewesen ist. Sicher aber hat er die veränderten Körperstellen versteckt. Was da passiert war, war intim. Das gehörte nicht in eine neugierige Öffentlichkeit, sondern in den Innenraum einer sehr besonderen Liebe. Deshalb machen ihn diese Wunden einsilbig. Sie schwächen und sie sondern ihn ab. Damit strapazieren sie auch seine engsten Freunde. Leo muss gespürt haben, dass da etwas geschieht, zudem er keinen Zugang hat; dass er, der so vieles mit Franziskus erlebt hat, dieses Geschehen nicht mit ihm teilen kann. Die Quellenschriften berichten, dass Leo in diesen Wochen traurig wird, manches erinnert an Depression. Kein Abwenden Und genau darauf reagiert Franziskus. Er hat sich verwunden lassen von seiner Liebe zu Gott, er leidet daran und versucht trotzdem – oder gerade deshalb – seinen Freund zu trösten. Uns ist ein kleiner Brief überliefert, ein Segen, den Franz für Leo aufgeschrieben hat. Solch ein Brief war damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit, es war aufwändig, an Pergament zu kommen und an Schreibgeräte. Ein Schreiben war immer bedeutend, groß und für alle Ewigkeit gedacht. Es war auf jeden Fall für Leo ein klares Zeichen: Du bist und bleibst mir wichtig! Leo hat das kleine Schreiben von Franziskus, das auf der einen Seite einen Lobpreis Gottes und auf der anderen Seite jenen Segen und eine persönliche Widmung enthält, auch genauso verstanden. Er hat das Brieflein von da an noch fast sechzig Jahre lang in seiner Kutte getragen. Es ist erhalten geblieben, und man kann es heute in der Basilika San Francesco in Assisi bestaunen. Obwohl etwas schier Unglaubliches mit Franziskus geschieht: Er vergisst über die Nähe zu Christus nicht die Nähe zu Menschen, die ihm etwas bedeuten. Segen für Bruder Leo

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