11 FRANZISKANER 3|2024 die Lesart »jemanden oder eine Gruppe von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale ausgrenzen oder auch abwerten«. Dr. Martina Kreidler-Kos ist Leiterin des Seelsorgeamtes im Bistum Osnabrück, Lehrbeauftragte für Theologie der Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Münster und in der franziskanisch-klarianischen Forschung aktiv. Sie ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt mit ihrer Familie im Osnabrücker Land. Unter dem Stichwort »Kirchenkram« veröffentlicht Martina Kreidler-Kos zudem einmal im Monat neue Videos auf YouTube. Sorge für den Geschundenen Und dann ist da noch dieser Falke. Diese Geschichte erzählt nicht so sehr etwas über Franziskus, sondern über Gott. Über ihn denken wir in diesem Zusammenhang meist gar nicht so intensiv nach. Aber im Herbst 1224 ist nicht nur Franziskus ein anderer geworden, auch Gott im Himmel zeigt mindestens eine ganz neue Seite von sich. Auch er scheint ergriffen, berührt regelrecht von dieser Intensität, die ihm Franziskus da entgegenbringt. Seine Freude darüber zeigt er auf eine sehr diskrete, leise, fast zärtliche Art: Er hält seine Schöpfung an, für den geschundenen Franziskus zu sorgen. Dieser Falke nämlich, der Franz und seine Brüder auf La Verna in ihren Höhlen immer zuverlässig nachts zum Gebet geweckt hat, kommt auf einmal später. Der Biograf Thomas von Celano schreibt: »Als nun Franziskus unter seiner Krankheit schwerer als sonst zu leiden hatte, schonte ihn der Falke und kündigte ihm nicht die frühen Nachtwachen an. Wie wenn er von Gott selbst belehrt worden wäre, schlug er erst beim Morgengrauen und auch nur mit leichtem Schlag die Glocke seiner Stimme.« (2 C 168) Jetzt, wo Franziskus so verwundet ist, da hält es Gott für heilsam, wenn er etwas länger schlafen kann. Eine neue Intensität Was könnte das alles mit unserem Glaubensleben zu tun haben? Franziskus war ein ganz besonderer Christusfreund; er hatte eine regelrecht körperliche Sehnsucht nach dem Sohn Gottes. Er hat sein ganzes Leben auf die Nachfolge Christi fokussiert; man könnte fast sagen, er hat Gott herausgefordert zu dieser neuen Qualität von Nähe. Das tun wir alle sicher nicht. Wir sind Menschen des 21. Jahrhunderts, und unsere Fragen – auch unsere Glaubensfragen – sind völlig andere. Für die Wundmale als körperliche Verbindung zu Gott fehlen uns vielleicht die Sinne. Aber für Franziskus‘ Worte nicht. »Wer bist du, liebster Gott, und wer bin ich?« Dieses Gebet, eines der kürzesten und intensivsten, das uns von Franziskus überliefert ist, soll er auf La Verna immer wieder gesagt, gemurmelt, geflüstert haben. Diese gebetete Frage kommt geradewegs aus seinem eigenen Karfreitag – eben nicht im Frühling, sondern im Herbst 1224, rund um das Fest der Kreuzerhöhung am 14. September. »Wer bist du, liebster Gott, und wer bin ich?« In diesem kurzen Gebet steckt eine verrückte Ambivalenz. Franziskus fragt nach Gott, als würde er ihn gar nicht kennen: »Wer bist du?« Das fragen wir, wenn wir jemandem zum ersten Mal begegnen. Da sind wir neugierig, ganz offen, da kann noch alles Mögliche passieren. Wenn man fragt: »Wer bist du?«, dann ist man einander noch fremd. Aber dann dieser Zusatz, »liebster Gott«. So nah, so zärtlich, so vertraut. Franziskus ermutigt uns, so dürfen wir beten: mit Gott reden, als würden wir ihm zum ersten Mal begegnen, ihn überhaupt nicht kennen, und gleichzeitig, als wäre er die Liebe unseres Lebens. In dieser ganzen Spannbreite darf sich unser Fragen nach Gott abspielen. Und es darf noch eine Frage dazu gestellt werden. Die ist uns gegenwärtigen Menschen ungeheuer vertraut: »Wer bin ich?« Wer will ich sein? Das ist die ganze menschliche Existenz in einem Satz; nicht in selbst zentrierter Nabelschau, sondern – franziskanisch gesprochen – mit weitem, glaubendem Blick: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist meine Perspektive? Was ist unser aller offener Horizont? Franziskus‘ unglaubliche Nähe zu Gott wird sicher nicht unsere Nähe sein. Das muss sie auch nicht, für Gott ist die Intensität nicht entscheidend. Es ist nicht so, als stünde er uns gegenüber und einer wie Franziskus, der traute sich eben dichter heran als wir anderen alle. Nein, Gott ist längst bei uns, in uns, näher als nah, aber er überlässt uns die Frage, wie tief wir das spüren wollen. Er ist immer in Kontakt, aber wir entscheiden, wie intensiv wir uns da hineingeben. Franziskus war verrückt diesbezüglich, je intensiver, desto besser. Aber dass es so nahe geht, bis zu den Wundmalen Jesu am eigenen Leib, hat selbst ihn überrascht. »Wer bist du, liebster Gott, und wer bin ich?« Die Antwort, die Franziskus damals bekommen hat, bleibt ganz ihr Geheimnis. Sie ist Sache zwischen den beiden. Eine Antwort, die wir vielleicht hören könnten, wenn wir uns ganz in unsere eigene Geschichte hineingeben: »Ich bin der, der dich liebt und der sich wünscht, von dir geliebt zu werden.« PORTRÄT © ANDREAS KÜHLKEN
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