Franziskaner - Herbst 2024

12 FRANZISKANER 3|2024 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Begriff stigmatisieren in der übertragenen Verwendung besonders häufig Vom Wunden-Verbinden Was heißt Heilung? Maria Goetzens MMS Heute findet Ivan den Weg in die Elisabeth-Straßenambulanz (ESA) der Caritas in Frankfurt am Main. Für gewöhnlich trifft ihn das Pflegepersonal bei der aufsuchenden Arbeit mit dem Ambulanzbus in der Fußgängerzone. Ivan ist gezeichnet vom Leben ohne Obdach – wie die meisten, die in diesen Ambulanzräumen medizinische Hilfe suchen. Schweigend hält er der Krankenschwester seine geschwollene und eitrig verschmierte Hand hin. Die Botschaft ist unmissverständlich: »Schau mal! Hilf mir!« Die hingehaltene Hand bedarf keiner besonderen Sprachmitteilung. Die Wunde liegt buchstäblich »auf der Hand«. Schon nach kurzer Wartezeit kann Ivan einen der Behandlungsräume betreten und erfährt professionelle Hilfe, obwohl er keinen gültigen Krankenversicherungsschutz besitzt. Auch hat er seinen Ausweis verloren und besitzt aktuell nichts als die Kleider an seinem Leib. Hier kann er »ankommen«, mit dem, was ihn ausmacht. Den Weg in die Notfallambulanz eines Krankenhauses sucht er nicht. Er hat Angst, fortgeschickt oder nach Bezahlung gefragt zu werden. Jetzt wird bei ihm nicht nur die stark entzündete Hand versorgt. Ich werde als Ärztin hinzugerufen, und schon nach kurzem Wortwechsel kann sich Ivan auf eine weitere körperliche Untersuchung einlassen. Anschließend hilft ihm der Krankenpfleger beim Kleiderwechsel und unterstützt ihn bei den notwendigen Hygienemaßnahmen. Ivan ist – wie so oft – mäßig alkoholisiert. Bereitwillig lässt er alle erforderlichen Maßnahmen über sich ergehen und nimmt die gereichten Tabletten ein. Nach knapp 45 Minuten verlässt er die Ambulanzräume wieder und setzt sein Straßenleben fort. Ivan hat aufgrund seiner Herkunft keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Seine zunehmend schwere Suchterkrankung mit ihren Folgen verhindert, dass er einer Arbeit nachgehen und so für seine Sozialleistungen selbst aufkommen kann. Ohne ein festes Einkommen durch einen gesicherten Job wird er sich niemals eine Unterkunft finanzieren können. So bleibt ihm nur ein Leben in prekärer Lage. Zurück in sein Heimatland will und kann Ivan nicht mehr. Sein Elternhaus ist verkauft, und seine Verwandten leben außerhalb des Landes. Ivans Körper und Geist sind geschwächt, sodass er eine lange Reise kaum unbeschadet überstehen dürfte. Dennoch hört er manchmal, wenn er betrunken am Straßenrand liegt und Passanten sich dadurch »gestört« fühlen, den Zuruf: »Fahr doch nach Hause!« Die meisten gehen jedoch achtlos an ihm vorüber. Kaum einer weiß etwas von seiner Lebensgeschichte, der Trennung von seiner Frau vor vielen Jahren, dem anschließenden Jobverlust und dem langsamen »Weg nach unten«. Ivan ist einer von denen, die auf Frankfurts Straßen verelenden.

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