14 FRANZISKANER 3|2024 Das vom Verb abgeleitete Substantiv Stigmatisierung ist jüngeren Datums, es begegnet den Forschenden erst seit der Wende Verletzlich bin ich Pierre Stutz Im Anfang ist der Ursegen, nicht die Ursünde »Merci la vie« heißen jene drei Worte, die ich mir jeden Morgen neu zuspreche. Jeden Morgen danke ich der göttlichen Schöpferkraft für das Geschenk meines Lebens. Ich bin tief verwurzelt in der jüdisch-christlichen Bibel. Auf der ersten Seite der Bibel, im Buch Genesis, werde ich all-täglich erinnert an das große JA, das sich jeden Tag in uns erneuert, vor all dem Tun. Die Ewige schuf uns Menschen als ihr Abbild, als weiblich und männlich. Diese Verheißung schenkt mir einen weiten Raum, um auch wohlwollend mit meinen Grenzen und meinen Verletzungen umzugehen. Die biblische Hoffnungsbotschaft ist nicht fixiert auf das Defizitäre, auf die Blockierungen, auf die Härte des Lebens, sondern sie bestärkt uns im Vertrauen, dass wir auch an unseren durch-kreuzten Hoffnungen wachsen und reifen können. Interreligiös können wir diese Zusage entdecken, immer schon umhüllt zu sein vom Segen Gottes. Zu einer Spiritualität der Verwundbarkeit gehört das Eintauchen in den zärtlichen Segen Gottes, der größer ist als unser Herz. Diesen Bewusstseinswandel habe ich in einem zweijährigen Burn-out in der mystischen Tradition erfahren. Unsere Welt braucht beherzte Frauen und Männer, die kraftvoll-verwundet sein dürfen. Deshalb liebe ich die Umschreibung von Mystik von Friedrich Nietzsche (1844–1900): »Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich vereinen, entsteht Mystik.« Ich sehne mich nach einer Welt, die anders, zärtlicher und gerechter werden kann. Die immer stärker wird, ohne sich zu trennen von Momenten der Verzweiflung und Verlorenheit. Diese Überwindung eines dualistischen Denkens und Fühlens ist mir in meiner Lebenskrise mit 38 Jahren zugefallen. In den verzweifelten Stunden meines Lebens habe ich seitenweise in mein Tagebuch geschrieben: »Ich gehe zugrunde, ich halte es nicht mehr aus mit mir.« Dann fielen mir die Predigten des Dominikanermönchs Johannes Tauler (1300–1361) zu, eines Weggefährten von Meister Eckhart. Darin entdeckte ich die drei Worte in einer lebensbejahenden Deutung. Es kam mir vor, als ob Johannes Tauler mir persönlich sagte: »Ja, mach es doch endlich. Geh deiner panischen Angst vor Liebesentzug auf den Grund, geh deinem Helfersyndrom auf den Grund, geh deiner Überaktivität auf den Grund!« Tauler entfaltet eine Spiritualität des Karsamstags, eine Ermutigung hinabzusteigen in das Unbekannte. Das beharrliche Aushalten einer Krise ist besonders schwierig, wenn das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht in Sichtweite ist. Wahrnehmen, was ist ... mehr zu sein Ein spiritueller Mensch nimmt wahr, was ist, ohne es zu bewerten, um im Auf und Ab des Lebens eine göttliche Spur freizulegen. Im Gleichnis vom Unkraut und Weizen (Matthäusevangelium 13,24–30) zeigt uns Jesus auf, was uns wirklich wachsen und reifen lässt im Leben. »Lasst beides wachsen«, heißen jene befreienden Worte, die uns ermutigen, mit Wohlwollen das Schöne und das Dunkle unseres Lebens anzuschauen, weil es kein klinisch reines Wachstum gibt. Diese Grundhaltung dürfen wir dann ergänzen mit der zentralen Erinnerung, immer viel mehr zu sein, als was wir im Moment wahrnehmen. In einer verzweifelten Stunde meines Lebens haben sich folgende Worte in mein Tagebuch geschrieben: Was immer an Verwundungen sich in meinem Leben angehäuft hat Mag noch so Schreckliches passiert sein Ich will mein Leben nicht auf diese Verletzung reduzieren Ich bin mehr als all das und zu einem befreiten Leben gerufen – dank DIR * Jeden Tag habe ich die Möglichkeit, meine Opferrolle zu verlassen, indem ich nicht fixiert bleibe auf all das, was ich mir anders gewünscht hätte im Leben, sondern entdecke, was trotz vieler Begrenzungen an Wachstumsmöglichkeiten da ist. Nicht in Grenzen denken und fühlen, sondern in Möglichkeiten, das ist meine spirituelle Grundhaltung, in der ich täglich Ausschau halte nach guten Nachrichten und sie weitererzähle. Ich halte regelmäßig den Tag hindurch inne mit beiden Füßen auf dem Boden. Ich atme tief ein und aus, und ich verbinde mich mit Jung und Alt, die jetzt in diesem Moment auf der ganzen Welt sich für Frieden in Gerechtigkeit einsetzen. * Tagebucheintrag vom 20. 7. 1999 in meinem Buch »Verwundet bin ich und aufgehoben. Für eine Spiritualität der Unvollkommenheit«, Kösel München 2003 – Penguin-Taschenbuch 2017, Seite 33.
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