Franziskaner - Herbst 2024

16 FRANZISKANER 3|2024 »Stigmatisation« als weitere Substantivierung des Verbs »stigmatisieren« ist bereits im 16. Jahrhundert verwendet worden. Andreas Brands: Laurentius, du bist bildender Künstler, als Bildhauer und Maler weit über die Grenzen der Region tätig und bekannt. Du versuchst, Menschen mit deiner Kunst zu konfrontieren und gewohnte Sichtweisen infrage zu stellen. Ich möchte mit dir über das Thema »Wunde« in deinen Kunstwerken sprechen. Es nimmt einen bedeutsamen Platz in deinen Werken ein. Doch vorab erst einmal die grundsätzliche Frage an dich: Welches Bild hast du vom Menschen? Laurentius Englisch: Der Mensch ist ein verletzlicher. Die größte Wunde im Leben des Menschen ist seine Erkenntnis der Kontingenz, der Endlichkeit, der Sterblichkeit. An dieser unverrückbaren Tatsache hat er zu knabbern – sein Leben lang. Auch wenn er versucht, die Gewissheit des Limits auszublenden. Hinzu kommen die Erfahrungen des Lebens in der eigenen kleinen und der großen Welt: Unser Leben ist unsicher. Jede und jeder hofft, durch viele Absicherungen dieser Unsicherheit zu begegnen. Doch was für das eigene persönliche Leben noch in gewisser Weise funktioniert, wird in den großen Weltzusammenhängen nicht mehr möglich. Du denkst an die großen Unsicherheiten, die durch Kriege, Aufrüstung, Klimawandel, Flüchtlingsströme in unsere Wohnzimmer kommen? Das sind Realitäten, mit denen wir konfrontiert sind. Und sie greifen nach unserem Leben. Die unsichere Welt stößt uns vom Sockel der Gewissheiten und des »Sich-eingerichtet-Habens« in eine große Verunsicherung. Alle diese Fragen landen gerade auf unseren Tischen, du hast sie ja schon aufgezählt. Der Mensch sucht Sicherheit und braucht Sicherheit, um zu handeln, und wenn sie nicht zur Verfügung steht oder wackelt, steht der Mensch kopf. Leben ohne Sicherheiten ist eine der größten Wunden, die der Mensch zu tragen hat. Was, denkst du, ist die größte Verunsicherung? Letztendlich ist es die Frage nach sich selbst. Wer bin ich? Was bin ich? Dazu das Grundempfinden: Ich bin hineingetaucht in den Tod und kann dem nicht ausweichen. Ob der Mensch dann glaubt, auch in die Auferstehung hineingenommen zu sein, das kann man ihm nicht aufdrücken. Das bleibt eine Glaubensfrage, die jeder Mensch für sich beantworten muss. Wenn du auf die heutige Welt schaust, was kommt dir in den Sinn? Dass wir uns selbst am meisten verwunden. Mit all dem Unversöhnten in uns, mit all den Unbarmherzigkeiten, die wir einander zufügen, mit all den Gräueln, die wir weltweit erleben. Wie ich schon sagte: Die Wunde des Menschen ist seine Verletzbarkeit. Beuys, bei dem ich studiert habe, hat das fordernd – oder einladend – so gesagt: Zeige deine Wunde! Du kannst sie nicht verstecken. Nur wenn du sie sichtbar machst, kann Heilung stattfinden. Was wir aus der Medizin wissen, gelingt uns aber im alltäglichen Leben oft nicht. Dann sind wir Meister des Versteckens. Oder nimm das Flüchtlingsthema: Jeder Mensch ist legitim. Wir alle sind nur Gast auf unserer Erde mit unserem mühevollen Leben, das einige Jahrzehnte dauert. Milliarden werden für Aufrüstung ausgegeben, um angeblich unsere Werte zu schützen. – Nach 2000 Jahren Christentum sollte nicht mehr Unterwerfung, sondern Barmherzigkeit das Leben leiten. Aber wir fürchten uns vor allem Fremden und grenzen deshalb Andersdenkende aus. Du hast dich mit der Geschichte von Franziskus, seinen Lebensbeschreibungen und der Legendenbildung auseinandergesetzt. Wie siehst du das Thema Wunde bei Franziskus verortet? Franziskus' Leben ist umrankt von Legenden und Mythen. Wir können sie nehmen und lesen, müssen uns aber immer wieder vor Augen halten, dass sie in der Gegenwart neu verstanden sein wollen, um für unser Leben Gültigkeit zu haben. Hier ist das Bild vom verwundeten Menschen, vom AussätziGespür für Im Gespräch: Laurentius Englisch OFM, Jahrgang 1939, lebt im Franziskanerkloster Vossenack (Eifel). Er ist katholischer Priester, Kunsterzieher und bildender Künstler (Grafik, Relief und Skulptur). Von 1970 bis 1975 studierte er an der Kunstakademie in Düsseldorf, u. a. als Meisterschüler bei Joseph Beuys und Beate Schiff.

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