Franziskaner - Herbst 2024

27 FRANZISKANER 3|2024 PAPST © PRESSEFOTO ULMER – PICTURE.ALLIANCE.COM; OBEN: KLIMADEMO 2020 – CHURCHES FOR FUTURE © THERESA EHLER – OBERZELL »Habt keine Angst, die Sicherheit von Strukturen zu verlieren!« Cornelius Bohl OFM Papst Franziskus nimmt regelmäßig weltweite oder kirchliche Gedenktage, aber auch persönliche Begegnungen zum Anlass, um Hinweise zum praktischen Handeln im Alltag zu geben oder auch um politisch Verantwortliche auf ihre spezifischen Aufgaben zum Wohl aller aufmerksam zu machen. Cornelius Bohl beleuchtet in jeder Ausgabe eine andere Botschaft von Papst Franziskus mit Anregungen für die persönliche Lebensgestaltung. Kritiker des Synodalen Wegs werfen diesem Reformprojekt der katholischen Kirche in Deutschland regelmäßig vor, man verliere sich dabei in äußerlichen Strukturfragen und vergesse das Eigentliche und allein Entscheidende: die Gottesfrage, den Glauben, die Evangelisierung. Diese klare Entgegensetzung von äußeren Strukturen und dem eigentlichen Inhalt ist verführerisch, aber in dieser Zuspitzung schlichtweg falsch. Strukturen sind eben nicht nur äußere Verpackung, sondern Ausdruck und Sicherung von Inhalt. Die sogenannten Justizreformen etwa in Ungarn, in Polen und in der Slowakei haben nicht nur äußere Verfahrensfragen modifiziert, sondern demokratische Freiheiten beschnitten und autoritäre Machtausübung erleichtert. Wer Strukturen ändert, verändert den Inhalt. Und umgekehrt: Wer einen Inhalt sichern will, muss entsprechende Strukturen schaffen. Das gilt auch für die Kirche. Bestimmte Strukturen begünstigen Missbrauch oder helfen, ihn zu verhindern. Strukturen können Klerikalismus fördern oder die Kirche als Volk Gottes lebendig erhalten. Es gibt Strukturen, die das Evangelium erfahrbar machen, und Strukturen, in denen die Botschaft Jesu erstickt wird. Jesus selbst hat überkommene religiöse Strukturen infrage gestellt und neue Strukturen initiiert. Strukturen sind kein Gegensatz zum Heiligen Geist. Sie sind eine seiner wichtigen Erscheinungsformen. Aber natürlich: Strukturen können sich verselbstständigen. Dann transportieren sie keinen Inhalt mehr, werden Selbstzweck, wuchern und erstarren. Sie leisten nicht mehr das, für was sie eigentlich da sind – ja, im schlimmsten Fall verhindern sie es sogar. „Habt keine Angst davor, die Sicherheit von Strukturen und Institutionen zu verlieren“, hat Papst Franziskus am 6. Juni einer Gruppe von Ordensfrauen gesagt. „Vergesst nicht, dass die Strukturen nicht die Substanz sind: Sie sind nur ein Mittel. Das Wesentliche ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten.“ Für bestehende Strukturen kämpfen, bisherige Strukturen aufgeben, neue Strukturen schaffen – in der Hitze des Alltagsgeschäfts stehen sich die entsprechenden Akteurinnen und Akteure oft misstrauisch und aggressiv gegenüber. Dabei haben sie alle die gleiche Frage: Welcher Wein braucht welche Schläuche? Der Papst spricht von Strukturen und Substanz. Ich möchte ein drittes Element nennen: das Ziel. Wohin soll die Reise überhaupt gehen? Bischof Michael Gerber von Fulda lädt die Kirche ein, radikal vom Ziel her die Mittel zu wählen. Wir verwechseln, so der Bischof, gerne Mittel und Ziel. Erst ein klares Ziel entscheidet, was zur Substanz gehört und welche Mittel und Strukturen dafür nötig sind. Auf den ersten Blick sind das rein innerkirchliche Themen: Wo Gläubige, Personal und Geld weniger werden, plötzlich zu viele Gebäude da sind und der mühsame Versuch, den Betrieb noch irgendwie aufrechtzuerhalten, zu institutioneller Ermüdung führt, da tut es gut, radikal und ehrlich nach dem Ziel, der Substanz und den nötigen Strukturen kirchlichen Lebens zu fragen. Aber die gleiche Frage stellt sich auch in persönlichen Beziehungen, in einer Partnerschaft oder der Familie: Wohin wollen wir? Was ist uns wichtig? Welche verbindlichen Formen helfen uns, das zu leben – und welche eingespielten Gewohnheiten schaden eher? Ich kann mich das auch selbst fragen: Was habe ich mit meinem Leben vor? An welchen Stellschrauben will ich drehen, damit ich in der richtigen Richtung unterwegs bleibe? Und wo muss ich gerade deswegen bisherige Sicherheiten aufgeben?

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