29 FRANZISKANER 3|2024 Rabbiner Jehoschua Ahrens ist Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde Bern und Oberrabbiner von Salzburg. Er ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland und seit 2016 ehrenamtlicher Direktor für Zentraleuropa des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation. Pater Christian Rutishauser ist ein Schweizer Jesuit und Professor für Judaistik an der Universität Luzern. Seit Jahrzehnten engagiert er sich im christlich-jüdischen Dialog. Von 2012 bis April 2021 war er Provinzial der Schweizer Provinz. Seit 2014 gehört er zu den ständigen Beratern des Papstes für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum. uns gesandt. Leider wurde diese direkt wieder durch die Aussagen des vatikanischen Kardinalstaatssekretär Parolin überschattet. Im Großen und Ganzen waren für mich die Reaktionen der Kirchen eher enttäuschend. Ich hatte das Gefühl, dass die Kirchen oft damit überfordert waren, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Auf der einen Seite Solidarität mit Israel und auch eine Verurteilung des Antisemitismus, aber auf der anderen Seite der Versuch einer Abwägung, um auch das Leid der Palästinenser mit hineinzunehmen. Ich glaube, es ist ein Fehler, dass man versucht, irgendwie allen Seiten gerecht zu werden, und möglichst neutral zu sein. Was mich besonders gestört hat, ist, dass ich das Gefühl hatte, dass eine gewisse Kälte spürbar war. Wenn eine Verurteilung des Antisemitismus kam oder der Ausdruck von Mitgefühl, dann war es oft ein Nebensatz – so kalt und sachlich wie möglich formuliert. Das hat mich überrascht, denn am Ende des Tages geht es um Menschen. Gerade wenn man gesehen hat, was am 7. Oktober geschehen ist, dann muss man einfach menschlich reagieren. Für mich war es sehr spannend, dass die ersten und wärmsten Reaktionen von palästinensischer und muslimischer Seite kamen. So haben mich Palästinenser gefragt: Wie geht es deiner Familie in Israel? Ist bei denen alles in Ordnung? Da ging es um eine menschliche Ebene, nicht um Politik oder Theologie. Das hat mir oft gefehlt von christlicher Seite. Und natürlich hat das eine Auswirkung auf den Dialog. Bei manchen Reaktionen hat man sich die Frage gestellt: Wozu führen wir eigentlich jahrzehntelang einen Dialog? Unser Dialogpartner hat immer wieder erklärt, wie wichtig das Judentum und die jüdischen Geschwister sind und wie besonders das Verhältnis ist, und dass man uneingeschränkt da ist und mit uns gegen Antisemitismus steht. Und dann, wenn es darauf ankommt, ist es eine sehr ambivalente Reaktion. Der jüdisch-christliche Dialog ist so stark, dass nicht alles aus den Angeln gehoben wird. Aber es hat erstmal einen Dämpfer gegeben und wird sicherlich noch Auswirkungen haben in der nächsten Zeit. Wie sehen Sie das, Pater Rutishauser? Welche Auswirkungen haben die Reaktionen der christlichen Kirchen? Christian Rutishauser SJ: Dialog ist immer Beziehung. So hat sich zwischen katholischer Kirche und Judentum wirklich sehr viel positiv entwickelt seit Nostra Aetate, der Erklärung zu dem Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (1965). Wird in einer guten Beziehung die eine Seite existenziell bedroht, dann wird eine unangemessene Reaktion als Verletzung empfunden. Dies ist mit dem 7. Oktober geschehen. Viele begreifen das auf christlicher Seite nicht. Das Massaker war aber nicht einfach ein Gewaltausbruch neben anderen, sondern wirklich ein Pogrom; in der Form, die an die schrecklichen Pogrome erinnert, wie sie seit dem Mittelalter immer wieder stattgefunden haben. Seit der Shoah hat es so etwas nicht mehr gegeben. Die psychische Erschütterung, Retraumatisierung und existentielle Bedrohung sind erheblich. Diese existenzielle Bedrohung können viele nicht nachvollziehen. Ein Grundpfeiler der Kirchen ist die Solidarität mit den Schwachen und den Opfern. Was jetzt passiert, verstärkt durch den Gazakrieg, ist das Abwägen der Opfer. Wer hat mehr, wer hat weniger? Das Massaker vom 7. Oktober scheint viel weniger emotional unter die Haut gegangen zu sein, als die Toten und Leidenden im Gazakrieg. Und das ist erschütternd. Wie kann und müsste dieser Entwicklung in der Gesellschaft begegnet werden von Christinnen und Christen? Christian Rutishauser SJ: Die katholische Kirche hat versucht, in den Jahren seit dem 2. Vatikanischen Konzil, einen Dialog zu fördern. Dialog ist nicht einfach Kommunikation, sondern das Wort ist Programm: Dia Logos – durch das Wort. Dialog ist die einzige Alternative zu Gewalt. Dialog ist ein theologisches Programm und tiefe Überzeugung: Durch Debatte, Kennenlernen, Begegnung in allen kulturellen Formen entsteht Frieden. Die Beziehungen und Freundschaften sind das Allerwichtigste neben dem Aufarbeiten. Die Erinnerungskultur ist in Deutschland gut entwickelt;
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