Franziskaner - Herbst 2024

30 FRANZISKANER 3|2024 aber neben der Erinnerung an die Shoah, muss man einander besser kennenlernen – nicht nur theologisch, sondern auch kulturell und gesellschaftlich. Judentum ist nicht nur eine Religion. Judentum ist zugleich eine Kultur und ein Volk. Selbstbestimmung heißt auch, dass Judentum sich politisch organisiert in einem Staat Israel. Der Vatikan hat den Staat Israel 1993 anerkannt. Doch daneben gibt es die Tendenz, das Politische aus dem Dialog herauszuhalten. Seit etwa 2015 wird im katholisch-jüdischen Dialog wieder intensiver über Land und Staat Israel gesprochen. Man muss eine Sprache und eine Theologie des Landes entwickeln. Wie man das umsetzt, ist eine andere Frage. Ich habe gerade wieder begonnen daran zu arbeiten, dass es einen Tag des Judentums in Deutschland gibt, wie ihn auch andere Länder haben. Das wäre ein wichtiger Schritt, um eine breite Bevölkerungsschicht zu erreichen. Außerdem muss man Theologinnen und Theologen in der Ausbildung erreichen, damit Judaistik und die Beziehung zum Judentum nicht ein Orchideenfach bleibt, sondern ein Querschnittsthema darstellt, das alle theologischen Disziplinen betrifft. Wie sehen Sie das, Rabbiner Ahrens? Jehoschua Ahrens: Ich denke auch, dass es wichtig wäre, dass das Judentum auch einen Ausdruck in der theologischen Ausbildung findet. Das ist ein ganz wichtiges Element im Katholizismus und im Christentum insgesamt. Am Institut für jüdisch-christliche Forschung in Luzern hat es Professor Thoma geschafft, dass dies implementiert wird. Jede Person, die dort Theologie studiert, muss ein Minimum an Judaistik-Fächern belegen. Also auch Priesteramtskandidaten, zukünftige Religionslehrerinnen und sonstige Personen erhalten zumindest eine Grundbildung und wissen, worum es geht. Das ist nicht nur für uns Juden wichtig, sondern auch für Christen, damit sie die christliche Botschaft besser verstehen. Doch tatsächlich geht es nicht nur ums Evangelium bei den Kirchen, sondern auch viel um Politik. Die Frage ist: Kann ich aus christlicher Sicht das Judentum so nehmen, wie es ist? Oder kann ich es nur so nehmen, wie es in mein Raster passt? Ich glaube, das ist ein Schlüsselelement. Leider haben die Kirchen sich lange nicht mit ihren jüdischen Wurzeln auseinandergesetzt. Das hat sich erst kürzlich geändert – auch unter dem Eindruck der Shoah. Es ist sicher, überspitzt gesagt, ungünstig, dass die Kirchen nur noch einen geringen Einfluss haben. Aber trotzdem bedeutet das nicht, dass man nicht versuchen sollte, wenigstens das, was Pater Rutishauser skizziert hat, umzusetzen und zu implementieren. Welchen Anteil hat der christliche Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus an der weltweiten Verbreitung des Antisemitismus bis in die Gegenwart? Jehoschua Ahrens: Ich glaube, das ist einfach noch drin in den Gesellschaften, ohne dass es heute noch explizit von der Kirche vertreten wird. Die offizielle Lehre hat sich geändert, aber es ist noch in den Köpfen der Menschen, es ist in den Gesellschaften noch drin. Um konkret auf theologische Dinge zu schauen: Es gibt auch bei uns in Westeuropa immer noch bestimmte Einstellungen, die bei Pfarrern im Kopf sind. Da hört man immer noch Predigten, in denen der strahlende, positive Jesus gegen die dunkle Folie des Judentums seiner Zeit abgegrenzt wird. Und was wir nicht vergessen dürfen, ist, dass die katholische Kirche weltumfassend ist. An anderen Orten ist die Sache noch mal ganz anders: In Afrika und in Asien gibt es nach wie vor eine Substitutionstheologie1. Da ist das 2. Vatikanische Konzil noch nicht angekommen oder wird nicht aufgenommen. Obwohl es dort eigentlich kaum Juden gibt, ist nach wie vor eine antijüdische Theologie gang und gäbe. Es gibt auch Beispiele aus Südamerika, wo es manche befreiungstheologische Ansätze, auch aus der feministischen Theologie gibt, die mit antijüdischen Theologien oder Ideen spielen und diese aufnehmen. Zum Beispiel die Ansicht, dass die Unterdrücker aus den Evangelien die Pharisäer seien, also dass es die Juden sind, die die Frauen unterdrücken und Jesus, also das Christentum, befreit sie. Das wird auch dort nach und nach eine Auswirkung darauf haben, wie Juden und das Judentum wahrgenommen werden. Und sicherlich dann auch darauf, wie in solchen Konfliktsituationen, wie zwischen Israel und Palästina, zwischen Gut und Böse unterschieden wird. Christian Rutishauser SJ: Es ist wichtig, dass theologische Bildung und Gottesdienste stärker in den Blick kommen. Denn die Generation, die in den 80er und 90er Jahren studiert hat, 1 Alte theologische Lehre, die besagt: Gott habe das Volk Israel seit der Kreuzigung Jesu Christi verworfen, seinen Bund mit ihm aufgehoben und diesen stattdessen auf die Kirche als neues Volk Gottes übertragen. Jüdisches Leben in Deutschland ist gefährdet. Da sind solidarische Aktionen wie hier nach dem Brandanschlag auf die Synagoge in Oldenburg wichtig. Der Anschlag vom 5. April 2024 ist eine von 1.997 antisemitischen Straftaten im ersten Halbjahr 2024. © PICTURE ALLIANCE/DPA – EIBNER-PRESSEFOTO

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